Titel:
Nachbarklage gegen Baugenehmigung für Beseitigung einer Doppelhaushälfte und Errichtung eines Mehrfamilienhauses
Normenketten:
BauGB § 31 Abs. 2, § 34
BauNVO § 15 Abs. 1 S. 2, § 22 Abs. 2 S. 1
VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, § 80a Abs. 3
Leitsätze:
1. Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung wie der Anzahl der Vollgeschosse sind grundsätzlich nicht drittschützend. Auch § 34 BauGB vermittelt hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung grundsätzlich keinen Drittschutz. Für die Verletzung von nachbarlichen Rechten der Antragstellerinnen kommt es allein darauf an, ob das Vorhaben die mit dem Gebot des Einfügens (§ 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB) geforderte Rücksichtnahme wahrt. (Rn. 21 – 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. In der im Bebauungsplan festgesetzten offenen Bauweise werden Gebäude mit seitlichem Grenzabstand als Einzelhäuser, Doppelhäuser oder Hausgruppen errichtet, § 22 Abs. 2 BauVNO. Ist ein Doppelhaus in einem Gebiet mit offener Bauweise errichtet worden, können die Grundstücknachbarn verlangen, dass ihr jeweiliger Nachbar die Doppelhaussituation nicht aufhebt. Die Festsetzung ist insoweit nachbarschützend. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Maß der baulichen Nutzung, Doppelhaus als nachbarschützende Festsetzung, Zwerchhaus, Anfechtungsklage, Nachbarklage, Baugenehmigung, Bebauungsplan, Drittschutz, Anzahl der Vollgeschosse, offene Bauweise, Beseitigung einer Doppelhaushälfte, Rücksichtnahmegebot
Vorinstanz:
VG Ansbach, Beschluss vom 28.03.2025 – AN 9 S 24.3109
Fundstelle:
BeckRS 2025, 18870
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerinnen tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen als Gesamtschuldnerinnen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
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1. Die Antragstellerinnen sind Eigentümerinnen des Grundstücks FlNr. … der Gemarkung … das nördlich an das Grundstück FlNr. … des Beigeladenen (Vorhabengrundstück) angrenzt. Beide Grundstücke liegen im Bereich des am … … 1968 bekannt gemachten qualifizierten Bebauungsplans … … … … gemäß dessen Ziffer 5 der „weiteren Festsetzungen“ für das Plangebiet die offene Bauweise gilt mit der Abweichung, dass Garagen auf den dafür im Plan festgesetzten Flächen an der Grundstücksgrenze zulässig sind, auch dann, wenn sie mit dem Hauptgebäude verbunden werden. Für die streitgegenständlichen Grundstücke sieht der Bebauungsplan Baugrenzen vor. Ferner enthält der ursprüngliche Bebauungsplan eine Festsetzung hinsichtlich der Zahl der Vollgeschosse „E+3“, was nach der Planzeichenerklärung bedeutet, dass als Maß der baulichen Nutzung ein Erdgeschoss zuzüglich drei Vollgeschosse als Höchstgrenze festgelegt sind. Darüber hinaus ist in der Planzeichnung für die streitgegenständlichen Grundstücke „E+1“ eingezeichnet, was jedoch nicht farblich hinterlegt und deren Bedeutung in der Planzeichenerklärung nicht erläutert ist. Derzeit sind die Grundstücke mit an der gemeinsamen Grundstücksgrenze aneinandergebauten Doppelhaushälften jeweils mit der Geschosszahl E+1 bebaut.
2
2. Der Beigeladene beantragte am 24. Juli 2024 bei der Antragsgegnerin die „Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit fünf Wohneinheiten mit Fahrradhaus“ unter Beseitigung der bestehenden Doppelhaushälfte auf dem Vorhabengrundstück. Laut Eingabeplan soll das geplante Mehrfamilienhaus entlang der gemeinsamen Grundstücksgrenze an die Doppelhaushälfte der Antragstellerinnen deckungsgleich auf einer Länge von 9,94 m angebaut werden, die Gebäudelänge in Blickrichtung Nord-Süd soll 15,57 m betragen. Das Bauvorhaben soll neben dem Erdgeschoss und dem 1. Obergeschoss ein ausgebautes Dachgeschoss erhalten. Es wird nach den Plänen eine Firsthöhe von 10,54 m und eine Traufhöhe von 6,78 m erhalten und entspricht damit in seiner Trauf- und Firsthöhe dem Gebäude der Antragstellerinnen. Seine Dachneigung soll 37,3 Grad aufweisen und sich damit an der Dachneigung des Nachbargebäudes orientieren. Südwestlich soll ein Zwerchhaus errichtet und das streitgegenständliche Gebäude insoweit auf einer Breite von 7,32 m mit einer Tiefe von 3,0 m nach Westen vorspringen. Im ersten Obergeschoss sowie im Dachgeschoss werden hieran in Westrichtung zudem Balkone mit einer Tiefe von 2,25 Metern angebaut. Die Doppelhaushälfte der Antragstellerinnen hat ausweislich der Planunterlagen aus dem Jahr 1971 eine Gebäudelänge in Blickrichtung Nord-Süd von 11,95 m.
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Mit Bescheid vom 28. Oktober 2024 erteilte die Antragsgegnerin die beantragte Baugenehmigung unter gleichzeitiger Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB von den Festsetzungen des Bebauungsplanes Nr. … wegen Überschreitung der Baugrenzen nach Osten durch das Hauptgebäude, wegen Überschreitung der Baugrenzen nach Westen durch die geplanten Balkone und die geplante Terrasse, wegen der Errichtung eines Kniestocks, wegen Nichteinhaltung der festgesetzten Dachneigung (festgesetzt: 30°; geplant: 37,3°). Zudem wurde eine Ausnahme gewährt gemäß § 31 Abs. 1 BauGB von den Festsetzungen des Bebauungsplanes Nr. … wegen der Errichtung eines Fahrradhauses. Gleichzeitig wurde eine Abweichung zugelassen gemäß Art. 63 Abs. 3 BayBO i.V.m. § 6 der Satzung über die Herstellung und Bereithaltung von Kraftfahrzeugstellplätzen und Fahrradabstellplätzen (Stellplatzsatzung – StS) der Antragsgegnerin von § 2 der StS wegen der Forderung von fünf Kfz-Stellplätzen und zehn Fahrradabstellplätzen und von § 3 Abs. 2 StS wegen der Anrechnung eines um 2.500 Euro je Kfz-Stellplatz verminderten Ablösungsbetrags für drei abgelöste Kfz-Stellplätze. Zudem wurde die Genehmigung nach der Verordnung zum Schutz des Baumbestandes im Stadtgebiet der Antragsgegnerin (Baumschutzverordnung – BaumSchVO) bezüglich der Beseitigung des im Baumbestands- bzw. Freiflächengestaltungsplan dargestellten Baumbestandes Birke Nr. 1 mit 125 cm Stammumfang erteilt.
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Die Antragstellerinnen haben gegen die Baugenehmigung mit Schriftsatz vom 6. Dezember 2024 Klage erhoben … …, über die noch nicht entschieden ist, und zugleich einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gestellt. Mit Beschluss vom 28. März 2025 hat das Verwaltungsgericht den Antrag abgelehnt. Zur Begründung führt es aus, es könne dahinstehen, ob der Bebauungsplan eine wirksame Festsetzung über die Zahl der zulässigen Vollgeschosse von E+3 aufweise oder sich die Bebaubarkeit zumindest insofern etwa nach § 34 BauGB richte, da es sich nicht um eine drittschützende Festsetzung handele, weshalb eine hierauf gestützte Klage keinen Erfolg haben könne. Ein Verstoß gegen das drittschützende Abstandsflächenrecht gemäß § 6 BayBO sei nach der vorzunehmenden summarischen Prüfung nicht zu befürchten. Das Bauvorhaben wahre den Doppelhauscharakter, so dass es gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO ohne Einhaltung der seitlichen Abstandsflächen entlang des Gebäudes der Antragstellerinnen errichtet werden dürfe. Dass das Bauvorhaben, anders als das Gebäude der Antragstellerinnen einen Kniestock vorsehe, sei dem Doppelhauscharakter nicht abträglich, da der Kniestock keinen Versatz des Gebäudes in der Höhe hervorrufe. Das von der Straße abgewandte Zwerchhaus führe nicht zur Aufhebung des Doppelhauscharakters. Ebenso wenig hebe den Doppelhauscharakter auf, dass das Vorhaben in Nord-Süd-Richtung etwa 3,5 m breiter als das Gebäude der Antragstellerinnen sei.
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Mit ihrer am 14. April 2025 erhobenen Beschwerde richten sich die Antragstellerinnen gegen diesen Beschluss des Verwaltungsgerichts. Sie tragen vor, das Verwaltungsgericht gehe fehlerhaft davon aus, dass der Bebauungsplan wirksam eine Festsetzung der Geschosszahl E+3 enthalte. Das Vorhaben sei wegen der Überschreitung der im Bebauungsplan festgesetzten Geschosszahl von E+1 bauplanungsrechtlich unzulässig und würde die Antragstellerinnen in ihren Rechten verletzen, weil den Festsetzungen der Geschosszahl drittschützende Wirkung zukomme. Rechtsfehlerhaft verkenne das Ausgangsgericht dementsprechend auch, dass das Maß der baulichen Nutzung als drittschützend im Rahmen von § 34 BauGB zu berücksichtigen sei. Durch das geplante Vorhaben werde der Doppelhauscharakter aufgehoben und dementsprechend gegen das drittschützende Abstandsflächengebot verstoßen. Schließlich liege auch ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot vor.
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Sie stellen den Antrag:
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Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 28.03.2025, Az. AN 9 S 24.3109, wird abgeändert. Dem Antrag wird stattgegeben.
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Die Antragsgegnerin stellt den Antrag,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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Die Antragstellerinnen legten bereits nicht dar, inwieweit sich die behauptete Abänderung des Bebauungsplans auf die Richtigkeit des zugrundeliegenden Beschlusses auswirken soll. Es werde dabei lediglich die erstinstanzliche Behauptung, der Bebauungsplan sei wirksam geändert worden und das Vorhaben sei aus diesem Grund bauplanungsrechtlich unzulässig, wiederholt. Eine ausnahmsweise drittschützende Wirkung des Maßes der baulichen Nutzung finde sich weder in den Festsetzungen des Bebauungsplans noch in dessen Begründung. Das größere Bruttoraumvolumen, das das streitgegenständliche Vorhaben aufgrund des Zwerchhauses erhalte, führe nicht dazu, dass das Anwesen der Antragstellerinnen lediglich als Anhängsel in Form eines untergeordneten Anbaus erscheine.
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Der Beigeladene stellt den Antrag,
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die Beschwerde gegen den Beschluss zurückzuweisen.
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Es sei unerheblich, ob der Bebauungsplan wirksam sei, da auch im Falle seiner Unwirksamkeit keine drittschützenden Rechte der Antragstellerinnen verletzt würden; ein Ausnahmefall, in dem § 34 BauGB Drittschutz gewähre, liege nicht vor. Das Bauvorhaben wahre den Doppelhauscharakter. Abzustellen sei auf eine wechselseitige Verträglichkeit und nicht auf eine vollständige Übereinstimmung der Doppelhaushälften.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und vorgelegten Behördenakten verwiesen.
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Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen die Baugenehmigung nicht anzuordnen, ist nicht aufzuheben oder abzuändern.
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Im Rahmen eines Verfahrens nach § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung darüber, ob die Interessen, die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts sprechen, oder diejenigen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streiten, höher zu bewerten sind. Dabei sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Diese sind ein wesentliches, aber nicht das alleinige Indiz für und gegen den gestellten Antrag. Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein (weil er zulässig und begründet ist), so wird regelmäßig nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben (weil er unzulässig oder unbegründet ist), so ist dies ein starkes Indiz für die Ablehnung des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Sind schließlich die Erfolgsaussichten offen, findet eine allgemeine, von den Erfolgsaussichten unabhängige Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt.
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Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage unter Zugrundelegung des für die Beschwerdeentscheidung maßgebenden Beschwerdevorbringens (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) sind die Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage der Antragstellerinnen derzeit als offen einzuschätzen (1.). Die demnach vorzunehmende Abwägung der gegenseitigen Interessen fällt zu Gunsten des Beigeladenen und zu Lasten der Antragstellerinnen aus (2.).
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1. Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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a) Zu Recht ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass es unerheblich ist, ob der Bebauungsplan eine wirksame Festsetzung über die Zahl der zulässigen Vollgeschosse von E + 3 aufweist oder sich die Bebaubarkeit insofern nach § 34 BauGB richtet, da auch bei einer Abweichung von der (festgesetzten) Anzahl der Vollgeschosse keine drittschützenden Normen verletzt werden.
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aa) Der Umfang des Rechtsschutzes eines Nachbarn bei Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB hängt davon ab, ob die Festsetzungen, von denen dem Bauherrn eine Befreiung erteilt wurde, dem Nachbarschutz dienen oder nicht. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist. Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz hingegen lediglich nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO). Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung aus irgendeinem Grund rechtswidrig ist, sondern nur dann, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BayVGH, B.v. 15.2.2019 – 9 CS 18.2638 – juris Rn. 19 m.w.N).
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Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung wie der Anzahl der Vollgeschosse sind grundsätzlich nicht drittschützend (vgl. BVerwG, B.v. 23.6.1995 – 4 B 52.95 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 18.12.2017 – 9 CS 17.345 – juris Rn. 16 m.w.N.). Aus der Begründung des Bebauungsplans ergibt sich kein vom Planungswillen der Gemeinde abhängiger ausnahmsweiser Drittschutz (vgl. BVerwG, B.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – juris Rn. 14; BayVGH, B.v. 26.9.2018 – 9 CS 17.361 – juris Rn. 13). Das Beschwerdevorbringen zeigt insoweit keine Anhaltspunkte aus den Planunterlagen auf, mit denen sich die entgegengesetzte Ansicht der Antragstellerinnen begründen ließe.
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bb) Auch § 34 BauGB vermittelt hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung grundsätzlich keinen Drittschutz. Für die Verletzung von nachbarlichen Rechten der Antragstellerinnen kommt es allein darauf an, ob das Vorhaben die mit dem Gebot des Einfügens (§ 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB) geforderte Rücksichtnahme wahrt (BayVGH, B.v. 20.5 – 9 ZB 18.2585 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 12.2.2019 – 9 CS 18.2305 – juris Rn. 14 m.w.N.). Dafür, dass hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung des geplanten Vorhabens von einer unzumutbaren Beeinträchtigung der Nutzung des Grundstücks der Antragstellerinnen im Sinne einer Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme ausgegangen werden kann, ist nichts vorgetragen oder ersichtlich (vgl. z.B. BVerwG, B.v. 10.1.2013 – 4 B 48/12 – juris Rn. 7).
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b) Ob durch das Bauvorhaben die Rechte der Antragstellerinnen verletzt werden, da es den Doppelhauscharakter nicht mehr wahrt, kann bei der im Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung nicht abschließend beurteilt werden. Dies stellt sich bei dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand als offen dar.
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aa) In der im Bebauungsplan festgesetzten offenen Bauweise werden Gebäude mit seitlichem Grenzabstand als Einzelhäuser, Doppelhäuser oder Hausgruppen errichtet, § 22 Abs. 2 BauVNO. Ist ein Doppelhaus in einem Gebiet mit offener Bauweise errichtet worden, können die Grundstücknachbarn verlangen, dass ihr jeweiliger Nachbar die Doppelhaussituation nicht aufhebt. Die Festsetzung ist insoweit nachbarschützend (BVerwG, U.v. 24.2 2000 – 4 C 12/98 – juris Rn. 27 m.w.N.).
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(1) Ein Doppelhaus im Sinne von § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO ist eine bauliche Anlage, die dadurch entsteht, dass zwei Gebäude auf benachbarten Grundstücken durch Aneinanderbauen an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu einer Einheit zusammengefügt werden. Kein Doppelhaus bilden dagegen zwei Gebäude, die sich zwar an der gemeinsamen Grundstücksgrenze noch berühren, aber als zwei selbstständige Baukörper erscheinen. Ein Doppelhaus verlangt ferner, dass die beiden Haushälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebaut werden müssen. Demnach liegt eine bauliche Einheit vor, wenn die einzelnen Gebäude einen harmonischen Gesamtkörper bilden, der nicht den Eindruck eines einseitigen Grenzanbaus vermittelt. Voraussetzung ist insoweit zwar nicht, dass die Einzelhäuser gleichzeitig und deckungsgleich errichtet werden müssen. Ein einheitlicher Gesamtbaukörper kann auch dann vorliegen, wenn etwa aus gestalterischen Gründen die gemeinsame vordere und/oder rückwärtige Außenwand des einheitlichen Baukörpers durch kleine Vor- und Rücksprünge aufgelockert wird. Zu fordern ist jedoch, dass die einzelnen Gebäude zu einem wesentlichen Teil (quantitativ) und in wechselseitig verträglicher und harmonischer Weise (qualitativ) aneinandergebaut sind. In quantitativer Hinsicht können bei der Beurteilung der Verträglichkeit des Aneinanderbauens insbesondere die Geschosszahl, die Gebäudehöhe, die Bebauungstiefe und -breite sowie das durch diese Maße im Wesentlichen bestimmte oberirdische Brutto-Raumvolumen zu berücksichtigen sein. In qualitativer Hinsicht kommt es unter anderem auch auf die Dachgestaltung und die sonstige Kubatur des Gebäudes an. Bei den quantitativen Kriterien ist eine mathematisch-prozentuale Festlegung nicht möglich, vielmehr ist eine Gesamtwürdigung des Einzelfalls anzustellen. Das qualitative Element der wechselseitigen Verträglichkeit und Abgestimmtheit der Doppelhaushälften ist als Ausprägung der im Nachbarschaftsverhältnis zu wahrenden gegenseitigen Rücksichtnahme zu verstehen und anhand der für die Einhaltung des Gebots der Rücksichtnahme entwickelten Kriterien zu beurteilen. Der gegenseitige Verzicht auf seitliche Grenzabstände in der Doppelhausbebauung bindet die benachbarten Grundeigentümer bauplanungsrechtlich in ein Verhältnis des gegenseitigen Interessenausgleichs ein. Dieses nachbarrechtliche Austauschverhältnis kann nicht einseitig aufgehoben oder aus dem Gleichgewicht gebracht werden: Die Möglichkeit des Grenzanbaus erhöht die bauliche Nutzbarkeit der Grundstücke. Dies wird durch den Verlust seitlicher Grenzabstände an der gemeinsamen Grenze erkauft, was in erster Linie bedingt, dass die beiden Haushälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebaut werden müssen, was insoweit die Annahme von Drittschutz rechtfertigt. Allerdings ist der Nachbarschutz nicht darauf beschränkt. Die Qualifizierung zweier Gebäude als Doppelhaus hängt nämlich nicht nur davon ab, in welchem Umfang die beiden Gebäude an der gemeinsamen Grundstücksgrenze aneinandergebaut sind. Es kann das Vorliegen eines Doppelhauses mit Blick auf die bauplanungsrechtlichen Ziele der Steuerung der Bebauungsdichte sowie der Gestaltung des Orts- und Stadtbildes geprüft und ein Mindestmaß an Übereinstimmung verlangt werden (BVerwG 4, B.v. 10.4.2012 – 4 B 42.11 – juris Rn. 12; BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – juris Rn. 16).
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(2) Gemessen an diesen Maßstäben ergibt die wertende Gesamtbetrachtung, dass es sich bei dem Bauvorhaben um einen Grenzfall handelt. An der Grundstücksgrenze sind die beiden Gebäude in abgestimmter Weise aneinandergebaut. Sie gleichen sich dort in ihrer Bebauungstiefe, der Trauf- und Firsthöhe sowie der Dachneigung. Dass das Beigeladenengebäude in Nord-Süd-Richtung etwa 1/4 länger werden soll, als das der Antragstellerinnen und es etwa ab einer Entfernung von acht Metern von der Grundstücksgrenze über eine Breite von 7,32 Metern über drei Meter zuzüglich der Balkontiefe von 2,25 Meter nach Westen hinausragen soll, beeinträchtigt alleine den Doppelhauscharakter nicht. In Zusammenschau mit der Kubatur des Gebäudes ergeben sich allerdings Zweifel, ob das Beigeladenenvorhaben den Doppelhauscharakter noch wahrt. Der – an sich nicht zu beanstandende – teilweise Anbau von drei Metern Richtung Westen soll mit einem Satteldach versehen werden, dessen Firstlänge knappe acht Meter betragen soll und damit etwa 2/3 der Firstlänge des Gebäudes der Antragstellerinnen umfasst. Dadurch, dass der First auf gleicher Höhe mit dem First des „Hauptdaches“ liegt, wirkt dieses um 90 Grad zur Hauptfirstrichtung gedrehte Zwerchhaus nicht mehr als dem Hauptgiebel untergeordneter Zwerchgiebel und somit als untergeordneter Bestandteil des Gebäudes, sondern wird von außen deutlich als abweichende Dachgestaltung wahrgenommen. Anders als beispielsweise bei einem um einen Meter tiefer gelegenen First beeinträchtigt er dadurch die bauliche Einheit des Gesamtbaukörpers sichtbar. Zu dieser Dachgestaltung ist in die wertende Betrachtungsweise einzustellen, dass die beiden Gebäude eine unterschiedliche Anzahl an Vollgeschossen aufweisen. Inwiefern dadurch das durch die Ausgestaltung des Zwerchhauses entstehende Missverhältnis zwischen beiden Doppelhaushälften vertieft wird, kann im Eilverfahren mangels entsprechender Fotos bzw. Zeichnungen vom Beigeladenengebäude nicht beurteilt werden, weil nicht klar ist, inwiefern sich aus einer evtl. unterschiedlichen Situierung der Fenster diese unterschiedliche Anzahl an Vollgeschossen wahrnehmen lässt. Gleiches gilt für die wohl verschieden hoch gelegenen Hauseingänge, da das Bauvorhaben ohne Höhenversatz zum Gelände geplant ist.
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2. Sind die Erfolgsaussichten der Klage als offen anzusehen, ist über den Antrag aufgrund einer allgemeinen Interessenabwägung zu entscheiden. Diese fällt vorliegend zugunsten des Beigeladenen und zu Lasten der Antragstellerinnen aus.
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a) Die folgenorientierte Interessenabwägung orientiert sich an der grundsätzlichen Wertung des Gesetzgebers, wonach die Anfechtungsklage eines Dritten, hier der Antragstellerinnen, nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO in Verbindung mit § 212a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung hat. Die nach § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO erforderliche Abwägung wird deshalb von § 212a Abs. 1 BauGB in der Weise vorstrukturiert, dass dem Vollzugsinteresse ein erhebliches Gewicht beizumessen ist (vgl. BayVGH, B.v. 23.11.2016 -15 CS 16.1688 – juris Rn. 77 m.w.N.).
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b) Die Interessenabwägung fällt zugunsten des Beigeladenen und zu Lasten der Antragstellerinnen aus. Hierfür spricht, dass eine weitere Verzögerung des Baubeginns über einen längeren Zeitraum erhebliche finanzielle Belastungen mit sich bringen können. Im Wesentlichen spricht der auf Firsthöhe des Hauptbaus angesetzte Quergiebel gegen die Doppelhauseigenschaft: Dessen Errichtung schafft aber noch keine unveränderlichen Tatsachen. Seine nachträgliche Beseitigung bei entsprechendem Erfolg der Klage im Hauptsacheverfahren erscheint nicht unverhältnismäßig. Der Beigeladene hat darüber hinaus die Möglichkeit, auch noch nach Baubeginn im Wege einer Tektur den Quergiebel nach unten, etwa auf Höhe der benachbarten Dachgaube, anzupassen und so die Bedenken des Senats am einheitlichen Erscheinungsbild des Gebäudes als Doppelhaus weitgehend auszuräumen. Die qualitativen und quantitativen Kriterien werden bei der im Hauptsacheverfahren vorzunehmenden Gesamtwürdigung des Einzelfalls einer genauen Betrachtung und Bewertung zu unterziehen sein. Schließlich muss der Bauherr mit der Erhebung einer nachbarrechtlichen Anfechtungsklage gegebenenfalls auch damit rechnen, dass die erteilte Baugenehmigung keinen Bestand haben wird; sein Vertrauen in den Bestand der Baugenehmigung ist insoweit eingeschränkt.
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3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 VwGO, § 159 Satz 2 VwGO. Da der Beigeladene im Beschwerdeverfahren einen Antrag gestellt hat, entspricht es der Billigkeit, dass er seine außergerichtlichen Kosten erstattet erhält (§ 162 Abs. 3 VwGO). Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nrn. 9.6.1, 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (2025).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO.