Titel:
Anordnung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat zur Aufnahme von besonders gefährdeten afghanischen Staatsangehörigen aus Afghanistan vom 19. Dezember 2022, kein Anspruch auf förmliche Beendigung des Verwaltungsverfahrens, Beendigung des Aufnahmeprogramms, willkürfreie Einstellung der Erteilung von Aufnahmezusagen
Normenketten:
AufenthG § 23 Abs. 2 S. 1
GG Art. 3 Abs. 1
Schlagworte:
Anordnung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat zur Aufnahme von besonders gefährdeten afghanischen Staatsangehörigen aus Afghanistan vom 19. Dezember 2022, kein Anspruch auf förmliche Beendigung des Verwaltungsverfahrens, Beendigung des Aufnahmeprogramms, willkürfreie Einstellung der Erteilung von Aufnahmezusagen
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 15.07.2025 – 19 CE 25.1069
Fundstelle:
BeckRS 2025, 18833
Tenor
1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
2. Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz wird abgelehnt.
3. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
4. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller begehrt im einstweiligen Rechtsschutz, die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihm eine Aufnahmezusage zu erteilen, hilfsweise die Antragsgegnerin zu verpflichten, über seinen Antrag zu entscheiden. Gleichzeitig wird Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt.
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Der am … 1997 geborene Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger. Die Koordinierungsstelle empfahl am 19. April 2024 eine Übermittlung seines Falls an das BAPSekretariat, da er die Kriterien des Bundesaufnahmeprogrammes Afghanistan erfülle. Es liege eine Gefährdung aufgrund einer Tätigkeit als Medienaktivist auf Facebook vor. Er habe (gemeinsam mit zwei Geschwistern) eine Facebookseite mit mehr als … Followern betrieben. Er habe Nachrichten gegen die Taliban verbreitet und offene Kritik an der repressiven Politik der Taliban geübt. Gegen einzelne seiner Familienmitglieder sei es zu Drohungen, Arbeitsverlust, Hausdurchsuchungen der Taliban und Inhaftierung gekommen. Er habe Drohnachrichten via Facebook erhalten. Die Familie habe sich versteckt und den Wohnort gewechselt. Es bestehe eine konstante Gefahr durch die Taliban. Drei Familienmitglieder hätten bereits eine Aufnahmezusage erhalten. Mit E-Mails u.a. vom 29. August 2024 beantwortete der Antragsteller Fragen der GIZ bzw. fragte nach dem Sachstand.
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Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 14. März 2025 hat der Antragsteller beantragt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Antragsteller eine Aufnahmezusage gemäß der Anordnung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat gemäß § 23 Abs. 2, Abs. 3 i.V.m. § 24 AufenthG zur Aufnahme von besonders gefährdeten afghanischen Staatsangehörigen aus Afghanistan vom 19. Dezember 2022 zu erteilen, hilfsweise die Antragsgegnerin zu verpflichten, über den Antrag des Antragstellers zu entscheiden.
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Gleichzeitig hat er beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung gem. § 123 VwGO zu verpflichten, dem Antragstellereine Aufnahmezusage gem. der „Anordnung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat gemäß § 23 Absatz 2, Absatz 3 i. V. m. § 24 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) zur Aufnahme von besonders gefährdeten afghanischen Staatsangehörigen aus Afghanistan vom 19. Dezember 2022“ zu erteilen; hilfsweise dazu die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung gem. § 123 VwGO zu verpflichten, über den Antrag des Antragstellers zu entscheiden;
Außerdem hat er Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Unterzeichners für das Antragsverfahren und auch das Klageverfahren beantragt. Zur Begründung wurde in Schriftsätzen vom 14. März 2025 und 12. Mai 2025 im Wesentlichen ausgeführt, wie sich der Verfahrensablauf zur Aufnahme aus Sicht der Antragstellerseite allgemein darstellt und dass der Fall des Antragstellers durch das … bei der Koordinierungsstelle eingereicht, am 19. April 2024 in das INIT-Tool der Bundesregierung eingetragen und am 29. April 2024 durch das Bundesinnenministerium vorausgewählt worden sei. Nach Beantwortung von Nachfragen des BAP-Sekretariats sei der Fall an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge weitergeleitet worden. Der Antragsteller sei aufgrund des Betreibens einer Facebookseite mit talibankritischen Inhalten exponiert. Seine Mutter habe sich für Frauenrechte eingesetzt. Das Haus der Familie sei mit einem Haftbefehl gegen die Mutter durchsucht worden. Der Vater sei inhaftiert, ein Kursraum des Bruders des Antragstellers sei von Taliban verwüstet worden. Die Familie des Antragstellers sei nach …, nach … zu Verwandten und später nach … geflohen. Geschwister des Antragstellers und seine Mutter lebten in … Die Mutter leide psychisch unter der Trennung der Familie.
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Der Antragsteller sei antragsbefugt und es bestehe ein Rechtsschutzbedürfnis. Da es in dem Verfahren um die Interessen der betreffenden Personen gehe, sei von einem Antragsverfahren auszugehen. Mit der Eintragung in der IT-Anwendung liege ein Antrag vor, der insbesondere mit der Kommunikation über die GIZ und Zuweisung einer Fallnummer ausdrücklich bestätigt worden sei. Jedenfalls weil die meldeberechtigten Stellen selbst Hoheitsaufgaben wahrnähmen, liege in der Kontaktaufnahme der Betroffenen mit diesen ein Antrag. Es bestehe ein Anspruch auf Entscheidung. Wenn ein Verwaltungsverfahren initiiert werde, müsse dieses auch beendet werden. Es müsse möglich sein, die Bewertung des Falles durch die Antragsgegnerin gerichtlich überprüfen zu lassen. Anhörungen und Mitteilung von Ablehnungen seien nicht wegen der Vielzahl der potentiell Berechtigten unmöglich, sondern könnten per E-Mail erfolgen. Der Verfahrensablauf sei von der Antragsgegnerin falsch dargestellt worden. Die Koordinierungsstelle habe eine abschließende Plausibilitätsprüfung vorgenommen und die Prüfung der Kriterien der Aufnahmeanordnung sei vorrangig in der Auswahlrunde der Ministerien erfolgt. In Anbetracht der erfolgten Ziehung im Rahmen der Auswahlrunde fehle es nur noch an einem formalen Verfahrensschritt. Der Antragsteller habe ein Recht auf zügige Umsetzung und Entscheidung aufgrund des positiven Abschlusses der behördeninternen Bearbeitung. Es könne nicht dem Antragsteller zur Last gelegt werden, wenn die Antragsgegnerin eine Entscheidung verzögere. Die Aufnahmeanordnung sei weiterhin rechtlich existent und eröffne den grundrechtlich geschützten Raum über Art. 3 GG. Die Einstellung der Erteilung von Aufnahmezusagen sei willkürlich erfolgt. Haushaltsmittel hätten im Jahr 2024 nicht gefehlt. Nahezu bis zur Schließung der Koordinierungsstelle hätten Fallbearbeitungen stattgefunden. Der Registrierungsprozess sei nicht eingestellt worden, sondern nur die Auswahlrunden und die Bescheiderteilung. Im Haushaltsausschuss sei am 6. November 2024 jedenfalls ein die Weiterführung des Aufnahmeprogramms ermöglichender Beschluss gefasst worden. Das Ermessen sei auf Null reduziert, da der Antragsteller die Kriterien der Aufnahmeanordnung erfülle, was gerichtlich voll überprüfbar sei. Jedenfalls bestehe ein Anspruch auf Entscheidung. Der Antragsteller sei aufgrund des Betreibens der Facebookseite besonders exponiert. Das habe auch die Koordinierungsstelle so beurteilt. Auf dieser Grundlage hätten auch die Geschwister eine Aufnahmezusage erhalten. Es erschließe sich nicht, warum im Fall des Antragstellers die Bedrohungslage abweichend einzuschätzen sei. Die Bindung an Familienmitglieder sei ein zu berücksichtigendes Kriterium. Dem Antragsteller sei auch ein Zuwarten nicht zumutbar. Es habe bereits eine Vielzahl an Bedrohungen und Übergriffen stattgefunden. Er führe ein Leben im Versteck in der immer prekäreren Isolation. Hinzu komme, dass eine Erteilung eines Aufnahmebescheides noch längst keine Ausreise nach Deutschland bedeute. Es würden damit noch keine irreversiblen Zustände geschaffen.
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Mit Schriftsatz vom 4. April 2025 hat die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen und die Klage abzuweisen und im Wesentlichen ausgeführt, dass es sich bei dem Bundesaufnahmeprogramm nicht um ein Antragsverfahren handle. In der Anordnung sei entsprechend dem Willen der Bundesregierung meldeberechtigten Stellen vor Ort, die von einer Koordinierungsstelle bei der Eingabe in eine IT-Anwendung unterstützt worden seien, ein Vorschlagsrecht eingeräumt worden. Im Rahmen von Auswahlrunden, die das BMI in Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt und in Teilnahme des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung koordiniert und umgesetzt hat, seien Vorschläge ausgewählt worden. Danach habe ein beauftragter Dienstleister, die GIZ, Kontakt zu den ausgewählten Personen aufnehmen und insbesondere Identitätsdokumente anfordern müssen. Das Bundesamt habe nach Übermittlung der Informationen der GIZ und der IT-Anwendung individuell geprüft und Aufnahmezusagen erteilt. Ablehnende Bescheide seien nicht ergangen. Der Antrag sei bereits unzulässig. Der Antragsteller könne aus dem Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan kein subjektives Recht herleiten. Im Übrigen sei der Antrag unbegründet, da weder ein Anordnungsgrund noch ein Anordnungsanspruch vorliege. Es werde nicht dargelegt, woraus sich zum jetzigen Zeitpunkt eine besondere Eilbedürftigkeit begründe. Der Fall sei trotz der angeblich großen Bedrohungslage erst im April 2024 an das BMI herangetragen worden. Ein Anordnungsanspruch ergebe sich insbesondere nicht aus der Aufnahmeanordnung. Hierbei handle es sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts um eine politische Leitentscheidung. Es bestehe keine entsprechende Behördenpraxis, tatsächlich jedem, der die Kriterien der Aufnahmeanordnung im Einzelfall erfüllt, eine Aufnahmezusage zu erteilen. Eine solche Selbstbindung lasse sich insbesondere der Aufnahmeanordnung nicht entnehmen, insbesondere vor dem Hintergrund der unübersehbaren Anzahl potenzieller Fälle. Die meldeberechtigten Stellen hätten lediglich Vorschläge an das BMI herantragen dürfen, eine Selbstbindung der Verwaltung, für jeden von den meldeberechtigten Stellen eingegebenen Vorschlag eine Entscheidung über die Aufnahme zu treffen, ergebe sich hieraus hingegen nicht. Das BMI habe in seiner öffentlichen Kommunikation zu jeder Zeit darauf hingewiesen, dass das Aufnahmeprogramm für Afghanistan keine individuelle Möglichkeit vorsehe. Auf entsprechende Anfragen sei dies auch Bürgern gegenüber erklärt worden. Für einen eingegebenen Fall in der IT-Anwendung sei eine IDNummer vergeben worden, um im rein verwaltungsinternen Verfahren zu sortieren. Die ITAnwendung habe keine individuelle inhaltliche Auseinandersetzung mit den Vorschlägen vorgesehen. Die GIZ habe mit den ausgewählten Personen nur Kontakt aufgenommen, um die erforderlichen Informationen beizubringen. Jedenfalls sei eine Verwaltungspraxis durch die Einstellung des Bundesaufnahmeprogramms am 17. Juli 2024 durch Erlass des BMI zu Lasten des Antragstellers geändert worden, um die Ausreise derjenigen zu priorisieren, die bereits eine Aufnahmezusage erhalten hatten. Die Zurückstellung sei nicht willkürlich erfolgt, sondern weil zu diesem Zeitpunkt keine ausreichenden Haushaltsmittel zur fortgesetzten Umsetzung des Programms im Jahre 2025 zur Verfügung gestanden hätten. Im Juli 2024 seien von den über 3000 erklärten Aufnahmezusagen erst ca. 600 Personen eingereist. Auch die Kommunikation der GIZ sei entsprechend angepasst worden und die betroffenen Personen seien anlassbezogen darüber informiert worden, dass die Fallbearbeitung bis auf weiteres ausgesetzt sei. Sämtliche Anträge, in denen das Bundesamt bis zum 17. Juli 2024 noch keine Aufnahmezusage erteilt hatte, seien zurückgestellt worden. Im Übrigen habe der Antragsteller auch die Kriterien der Aufnahmeanordnung nicht erfüllt. Die Aufnahmeanordnung stelle hierbei auf eine konkrete und individuelle Gefährdung ab. Weder werde dargelegt, woraus sich aus dem Betreiben der Facebookseite eine besondere Exponiertheit, noch eine damit verbundene individuelle Gefährdung ergibt. Eine abgeleitete Gefährdung von anderen Personen erfülle nicht die Aufnahmekriterien der Aufnahmeanordnung. Die Gesundheitssituation der Mutter in Deutschland sei kein relevanter Aspekt.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Behördensowie auf die Gerichtsakte verwiesen.
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Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Antragsverfahren war mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg abzulehnen (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 121 ZPO). Zur Begründung wird auf die folgenden Ausführungen verwiesen.
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Der Antrag im einstweiligen Rechtsschutz bleibt erfolglos.
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Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO).
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Eine einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO setzt sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes aufgrund Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) als auch einen Anordnungsanspruch voraus, d.h. die bei summarischer Überprüfung der Sach- und Rechtslage hinreichende Aussicht auf Erfolg oder zumindest auf einen Teilerfolg des geltend gemachten Begehrens in einem (etwaigen) Hauptsacheverfahren. Das Vorliegen eines derartigen Anordnungsgrunds und Anordnungsanspruchs ist vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Maßgebend sind insoweit die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Über den Erfolg des Antrags ist aufgrund einer im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen und auch nur möglichen summarischen Prüfung zu entscheiden. Ergibt die überschlägige rechtliche Beurteilung auf der Grundlage der verfügbaren und vom Antragsteller glaubhaft zu machenden Tatsachenbasis, dass von überwiegenden Erfolgsaussichten in der Hauptsache auszugehen ist, besteht regelmäßig ein Anordnungsanspruch. Ein Anordnungsgrund setzt voraus, dass es dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner Interessen unzumutbar ist, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (vgl. SächsOVG, B.v. 22.9.2017 – 4 B 268/17 – juris Rn. 10; Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 123, Rn. 26 m.w.N.).
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Grundsätzlich dient die einstweilige Anordnung der vorläufigen Sicherung eines Anspruchs bzw. der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses. Wird – wie vorliegend – mit der begehrten Entscheidung die Hauptsache vorweggenommen, sind an die Prüfung von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch qualifizierte Anforderungen zu stellen. Eine Vorwegnahme ist nur möglich und mit Rücksicht auf die verfassungsrechtliche Garantie des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) geboten, wenn ein Obsiegen im Hauptsacheverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (Anordnungsanspruch) und dem Rechtsschutzsuchenden andernfalls schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung eine Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr in der Lage wäre (Anordnungsgrund) (BVerfG B.v. 25.10.1988 – 2 BvR 745/88 – juris Rn. 18; vgl. BayVGH, B.v. 18.3.2016 – 12 CE 16.66 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 8.6.2021 – 4 CE 21.1599 – juris Rn. 9).
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Hieran gemessen hat der Antragsteller weder einen Anordnungsanspruch noch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Der Antragsteller hat insbesondere nicht dargetan, dass die Klage in der Hauptsache – in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung – mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgversprechend sein wird, da er nach summarischer Prüfung keinen Anspruch auf die Erteilung der begehrten Aufnahmezusage hat. Ein solcher Anspruch folgt vorliegend insbesondere nicht aus dem Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG und § 23 Abs. 2 Satz 2 AufenthG i.V.m. der Anordnung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI) zur Aufnahme von besonders gefährdeten afghanischen Staatsangehörigen aus Afghanistan vom 19. Dezember 2022 (Aufnahmeanordnung des BMI).
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Nach § 23 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann das BMI zur Wahrung besonders gelagerter politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Benehmen mit den obersten Landesbehörden anordnen, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen eine Aufnahmezusage erteilt. Diesen Ausländern ist dann entsprechend der Aufnahmezusage eine Aufenthaltserlaubnis oder eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen. Mit der Aufnahmeanordnung des BMI vom 19. Dezember 2022 wurde dem Bundesamt im Benehmen mit den Bundesländern die Aufgabe übertragen, unter Wahrung eines bestimmten Verfahrens, monatlich bis zu 1.000 Personen eine Aufnahmezusage zu erteilen. In der Anordnung wurden darüber hinaus konkrete Aufnahmevoraussetzungen bzw. der Ablauf des Verfahrens festgelegt.
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Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 15. November 2011 (1 C 21.10) zu § 23 Abs. 2 AufenthG ausgeführt, dass eine solche Anordnung des Bundesministeriums des Innern in dessen Ermessen steht, welches lediglich durch das im Gesetz genannte Motiv („zur Wahrung besonders gelagerter politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland“) dahingehend begrenzt ist, dass eine Anordnung nicht aus anderen Gründen erlassen werden darf. Insbesondere ist das Bundesministerium des Innern bei der Definition der besonders gelagerten politischen Interessen der Bundesrepublik und bei der Festlegung der Aufnahmekriterien weitgehend frei. Es steht hierbei eine politische Leitentscheidung inmitten, die – entsprechend der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – grundsätzlich keiner gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Das Bundesministerium des Innern kann im Rahmen seines Entschließungs- und Auswahlermessens den von einer solchen Anordnung erfassten Personenkreis bestimmen und dabei positive Kriterien (Erteilungsvoraussetzungen) und negative Kriterien (Ausschlussgründe) aufstellen. Ein Anspruch des einzelnen Ausländers auf Einbeziehung in eine Anordnung nach § 23 Abs. 2 AufenthG besteht nicht. Eine Außenwirkung kommt der Anordnung nur mittelbar über die Verpflichtung der Behörden zur Beachtung von Art. 3 Abs. 1 GG zu, soweit sich eine der Richtlinie entsprechende Behördenpraxis herausgebildet hat; dem Gericht obliegt es lediglich nachzuprüfen, ob der Gleichheitssatz bei Anwendung der Anordnung durch das Bundesamt gewahrt ist (vgl. BayVGH, B.v. 9.10.2017 – 19 ZB 15.1731 – juris Rn. 14; B.v. 19.9.2014 – 19 ZB 12.1010 – juris Rn. 19). Nach diesen Maßstäben ist es dem Gericht grundsätzlich verwehrt, die Regelungen der Aufnahmeanordnung inhaltlich zu hinterfragen.
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Vorliegend ist weder ersichtlich noch vorgetragen, dass das BMI bei Erlass der Aufnahmeanordnung von den Tatbestandsvoraussetzungen des § 23 Abs. 2 AufenthG abgewichen ist. Vielmehr hat es in rechtlich nicht zu beanstandender Weise entschieden, besonders gefährdete afghanische Staatsangehörige aus Afghanistan unter bestimmten Voraussetzungen aufzunehmen und im Rahmen dieser Ermächtigung die Voraussetzungen hierfür definiert. Die Aufnahmeanordnung des BMI bestimmt in Ziffer 1 den Personenkreis, dem eine Aufnahmezusage zu erteilen ist. In Ziffer 2 werden besondere Auswahlkriterien benannt, in Ziffer 3 wird das Verfahren vor Ort in Afghanistan – der Vorschlag durch meldeberechtigte Stellen sowie der Zugang zur IT-Anwendung – aufgezeigt, in Ziffer 4 werden Ausschlussgründe definiert und in Ziffern 5 bis 8 der Gang des Verfahrens bis zur Einreise der afghanischen Staatsangehörigen in das Bundesgebiet nach Durchführung eines Visumverfahrens über Pakistan beschrieben.
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Dem Gericht obliegt es daher (ausschließlich) nachzuprüfen, ob der Gleichheitssatz bei Anwendung der Aufnahmeanordnung des BMI gewahrt ist (vgl. BayVGH, B.v. 9.10.2017 – 19 ZB 15.1731 – juris Rn. 14; B.v. 19.9.2014 – 19 ZB 12.1010 – juris Rn. 19). Dies ist vorliegend der Fall. Es ist jedenfalls nicht glaubhaft gemacht, dass – nach Maßgabe der nachvollziehbaren und tatsächlichen Verwaltungspraxis des Bundesamtes – eine Aufnahmezusage willkürlich bzw. gleichheitswidrig nicht erteilt wurde, die Antragsgegnerin insofern zu Unrecht untätig geblieben ist und damit der Anspruch des Antragstellers auf Gleichbehandlung gemäß Art. 3 Abs. 1 GG verletzt wurde.
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Im Fall des Antragstellers ist eine Aufnahmezusage nicht (mehr) bzw. noch nicht erteilt worden.
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Die Koordinierungsstelle empfahl am 19. April 2024 eine Übermittlung seines Falls an das BAPSekretariat, sein Fall wurde in die INIT-Datenbank eingetragen, er wurde im Rahmen einer Auswahlrunde beim Bundesinnenministerium ausgewählt und unter dem Aktenzeichen BMI … erfasst. Er beantwortete auch Nachfragen der GIZ bzw. des Sekretariats des Bundesaufnahmeprogramms. Anschließend wurden sämtliche Informationen sowie die Informationen von den meldeberechtigten Stellen in der ITAnwendung an das Bundesamt weitergeleitet.
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Dahingestellt bleiben kann letztlich, ob es sich – wie vom Antragstellerbevollmächtigten ausgeführt – bei dem Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan um ein Antragsverfahren im Sinne der §§ 9, 22 VwVfG handelt, was in Anbetracht der Tatsache, dass nach der Aufnahmeanordnung Vorschläge über die meldeberechtigten Stellen an das BMI herangetragen werden und gerade keine individuellen Anträge vorgesehen sind, schon zweifelhaft erscheint. Dahingestellt bleiben kann auch, ob und inwieweit die Kriterien bzw. Ausschlussgründe der Aufnahmeanordnung des BMI bereits durch die meldeberechtigten Stellen, die Koordinierungsstelle bzw. im Rahmen der Auswahlrunden der Bundesregierung (nach Maßgabe eines Punktesystems) geprüft wurden. Denn selbst bei Annahme einer Vorprüfung durch die dem Bundesamt vorgelagerten Stellen bzw. eines Antragsverfahrens hat der Antragsteller keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufnahmezusage glaubhaft gemacht.
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Die Antragsgegnerin hat im verwaltungsgerichtlichen Verfahren und vom Antragsteller nicht substantiiert bestritten zu ihrer bestehenden, vom BMI gebilligten und geduldeten Verwaltungspraxis ausgeführt, dass – entsprechend des in Ziffer 1 der Aufnahmeanordnung des BMI vom 19. Dezember 2022 vorgesehenen Verfahrensablaufs („Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erteilt […]“) – die Entscheidung über die Aufnahmezusage im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge getroffen wird, wobei lediglich Aufnahmezusagen erteilt, nicht aber Versagungen von Aufnahmezusagen verfügt wurden. Die Antragsgegnerin hat auch ausgeführt, dass in Abkehr von der bisherigen Praxis die Erteilung von Aufnahmezusagen – entsprechend dem politischen Willen, der Aufnahmekapazitäten bzw. der bereitgestellten Mittel – seit 17. Juli 2024 ausnahmslos zurückgestellt wurde, nachdem das BMI im Hinblick auf die unsichere Haushaltslage entschieden hatte, keine weiteren Aufnahmezusagen zu erteilen und vielmehr die Ausreise derjenigen, die bereits eine Aufnahmezusage erhalten hatten, zu priorisieren. Das Bundesamt sei dementsprechend angewiesen und die betroffenen Personen – so auch der Antragsteller – seien über die GIZ informiert worden, ebenso die meldeberechtigten Stellen vor Ort in Afghanistan.
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Anerkannt ist insoweit in der Rechtsprechung, dass eine Behörde ihre tatsächlich geübte Verwaltungspraxis – wie vorliegend die Erteilung von Aufnahmezusagen entsprechend der Aufnahmeanordnung des BMI – ohne Verstoß gegen Vertrauensschutzaspekte aus sachgerechten Erwägungen für die Zukunft jederzeit ändern kann, auch wenn die Betroffenen gegenüber der bisherigen Praxis benachteiligt werden (vgl. BVerwG, B.v. 7.4.2000 – 2 B 21.00 – juris Rn. 2; B.v. 26.6.2007 – 1 WB 12/07 – juris Rn. 29), was mit der Aussetzung der Erteilung von weiteren Aufnahmezusagen im Juli 2024 geschehen ist. Die Zurückstellung der Erteilung konnte insbesondere – im Übrigen auch bei Annahme von Antragsverfahren – stillschweigend und damit formlos erfolgen, zumal die Betroffenen zwar nicht höchstpersönlich, aber doch anlassbezogen durch die GIZ informiert wurden (vgl. Kopp/ Ramsauer, VwVfG, § 9 Rn. 66, zur Zulässigkeit der formlosen Einstellung von Verwaltungsverfahren bei entsprechender Mitteilung über die Einstellung). Die Abkehr von der bisherigen Praxis ist im vorliegenden Fall auch keineswegs willkürlich erfolgt, sondern von sachlichen Erwägungen getragen. Die von der Antragstellerseite nicht substantiiert bestrittene Tatsache, dass sich die Antragsgegnerin auf die Durchführung der Einreise der mehr als 2000 Personen, denen bereits eine Aufnahmezusage erteilt worden war, konzentrieren wollte, stellt insoweit einen hinreichenden sachlichen Grund dar. Es erscheint nachvollziehbar und willkürfrei, die Zahl der Personen, die bereits eine Aufnahmezusage erhalten hatten, die aus tatsächlichen Gründen aber (noch) nicht ausreisen konnten, zu begrenzen, insbesondere zur Vermeidung letztlich unberechtigter Hoffnung auf eine baldige Ausreise. Im Übrigen ist auch die Überlegung, aufgrund haushaltsrechtlicher Unsicherheiten die Aufnahme zu begrenzen, ein hinreichender Sachgrund für die (einstweilige) Einstellung der Erteilung von Aufnahmezusagen, da diese Zusagen letztlich auf das Ziel der tatsächlichen Aufnahme ins Bundesgebiet gerichtet waren, und es sachgerecht erscheint, keine Aufnahmezusagen zu erteilen, solange deren tatsächliche Umsetzung prognostisch unsicher oder sogar unwahrscheinlich erschien. Auf die tatsächliche Verfügbarkeit von Haushaltsmitteln im Moment der Einstellung der Erteilung von Aufnahmezusagen kommt es daher vorliegend nicht an. Überdies stand es der Antragsgegnerin frei, nachdem – wie oben ausgeführt – die Aufnahme eine politische Leitentscheidung darstellt, aus politischen Motiven (willkürfrei) die Aufnahme jederzeit zu beenden.
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Von Antragstellerseite wurde weder substantiiert dargelegt noch i.S.d. § 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht, dass seit Juli 2024 – entgegen der dargestellten (geänderten) Behördenpraxis – Aufnahmezusagen erteilt bzw. die Versagung von Aufnahmezusagen verfügt worden wäre. Vor diesem Hintergrund ist kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG ersichtlich. Die durch § 23 Abs. 2 AufenthG als Parlamentsgesetz eingeräumte Befugnis des Bundesinnenministeriums, Anordnungen zur Aufnahme von Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen zu treffen, dient ausdrücklich der Wahrung besonders gelagerter politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland und grundsätzlich nicht dem Schutz und der Verwirklichung von Grundrechten der hierdurch begünstigten Ausländer (vgl. BVerwG, U.v. 15.11.2010 – 1 C 21.10 – juris Rn. 16). Auch ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 GG liegt nicht vor.
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Auch der hilfsweise gestellte Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO zu verpflichten, über den Antrag des Antragstellers zu entscheiden, ist abzulehnen. Wie oben ausgeführt, hat der Antragsteller jedenfalls keinen Anordnungsanspruch auf Entscheidung über den Antrag auf Erteilung der Aufnahmezusage aus Art. 3 Abs. 1 nGG im Sinne des § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht.
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Der Antrag war nach alledem abzulehnen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.