Titel:
Vorläufige Inobhutnahme von ausländischen Kindern und Jugendlichen, Kostenerstattung, Ausschlussfrist, jugendhilferechtlicher Leistungsbegriff, Trägerwechsel
Normenketten:
SGB VIII § 42a
SGB VIII § 89d Abs. 1
SGB X § 111 S. 1
Schlagworte:
Vorläufige Inobhutnahme von ausländischen Kindern und Jugendlichen, Kostenerstattung, Ausschlussfrist, jugendhilferechtlicher Leistungsbegriff, Trägerwechsel
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 20.03.2024 – M 18 K 19.6275
Fundstelle:
BeckRS 2025, 18793
Tenor
I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
IV. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 4.811,01 EUR festgesetzt.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
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Mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter, vom Beklagten die Erstattung der Kosten für die vorläufige Inobhutnahme des unbegleiteten minderjährigen Ausländers N. zu erhalten.
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1. N. reiste am 28. November 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 1. Dezember 2015 nahm ihn die Klägerin vorläufig in Obhut und stellte seine Minderjährigkeit fest. Im Rahmen des Verteilungsverfahrens wurde das Land Baden-Württemberg zur Aufnahme verpflichtet und N. daraufhin dem Jugendamt R. zugewiesen. Mit Bescheid des Landratsamtes R. vom 25. Januar 2016 wurde N. ab dem 23. Dezember 2015 bis auf weiteres in Obhut genommen.
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Am 31. Januar 2017 meldete die Klägerin den Fall beim Beklagten zur Kostenerstattung nach § 89d Abs. 1 SGB VIII an. Mit Schreiben vom 21. April 2017 teilte der Beklagte mit, dass der Kostenerstattungsanspruch gemäß § 111 Satz 1 SGB X ausgeschlossen sei.
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Mit Schriftsatz vom 18. Dezember 2019 erhob die Klägerin Klage auf Erstattung der Kosten für die vorläufige Inobhutnahme des N. vom 1. Dezember bis 22. Dezember 2015.
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2. Mit Urteil vom 20. März 2024 wies das Verwaltungsgericht München die Klage ab. Die Klägerin habe den Erstattungsanspruch gegenüber dem Beklagten nicht rechtzeitig im Sinne des § 111 SGB X geltend gemacht. Die Ausschlussfrist sei auch auf die vorläufige Inobhutnahme als sonstige Maßnahmen der Jugendhilfe anwendbar. Sie beginne mit dem Ablauf des letzten Tages, an dem die jeweilige (Gesamt-)Leistung im Sinne dieser Vorschrift erbracht worden sei. Hierbei könne nicht auf das Ende der Inobhutnahme durch das Jugendamt R. abgestellt werden, weil die von der Klägerin erbrachte vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII mit der nachfolgenden Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII nicht in einem Leistungszusammenhang im Sinne des zuständigkeitsrechtlichen Leistungsbegriffs stehe. Die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII sei der Inobhutnahme vorgeschaltet und diene insbesondere dazu, die Minderjährigkeit im Rahmen der Altersbestimmung festzustellen und das weitere Vorgehen einschließlich der Einleitung des Verteilungsverfahrens zu bestimmen. Die Inobhutnahme stelle die nachfolgende Stufe einer weitergehenden Schutzgewährung im Falle der festgestellten Minderjährigkeit dar. Zudem läge jedenfalls kein Fall „einer Leistung“ im Sinne des § 111 Satz 1 SGB X vor, weil die beiden Leistungen durch unterschiedliche Leistungserbringer erfolgt seien. Nach dem Wortlaut der Regelung seien Beginn und Wirkung der Ausschlussfrist für jeden Erstattungsanspruch eines jeden erstattungsberechtigten Trägers separat zu bestimmen.
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3. Mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei die Ausschlussfrist des § 111 SGB X gewahrt worden. Die vorläufige Inobhutnahme sei nicht als eigenständige Leistung im Sinne von § 111 Abs. 1 SGB X anzusehen. Jugendhilfe sei eine am konkreten Bedarf orientierte Hilfe, die laufend gewährt werde. Eine Leistung im Sinne des § 111 Abs. 1 SGB X könne auch aus verschiedenen Leistungen im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB VIII bestehen. Zur Abgrenzung seien jugendhilferechtliche Bedarfsgesichtspunkte heranzuziehen. Demzufolge bildeten alle zur Deckung eines qualitativ unverändert, kontinuierlich Hilfe gebietenden jugendhilferechtlichen Bedarfs erforderlichen Maßnahmen und Hilfen eine einheitliche Leistung, zumal wenn sie im Einzelfall nahtlos aneinander anschlössen, also ohne beachtliche zeitliche Unterbrechung gewährt würden. Zwischen der vorläufigen Inobhutnahme und der Inobhutnahme bestehe ein qualitativ unveränderter Bedarf. § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII und § 42a Abs. 1 SGB VIII hätten dieselbe Zielsetzung und stünden in einem unmittelbaren Zusammenhang, sodass beim Übergang nicht von einem Ende der Maßnahmen auszugehen sei. Auch systematische Gründe sowie der Rechtsgedanke der materiellen Ausgleichsgerechtigkeit sprächen dafür, den Erstattungsanspruch nicht als ausgeschlossen zu betrachten.
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Die Klägerin beantragt sinngemäß,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 20. März 2024 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die Kosten in Höhe von 4.811,01 EUR nebst Zinsen zu erstatten.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er verteidigt die Entscheidung des Verwaltungsgerichts. § 111 SGB X regele seinem Wortlaut nach einen Anspruch eines Erstattungsberechtigten auf Erstattung. Der Beginn der Ausschlussfrist könne sich somit nur auf die von diesem Erstattungsberechtigten erbrachten Leistungen beziehen.
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Mit Schreiben vom 6. Juni 2025 hat der Senat die Verfahrensbeteiligten unter Fristsetzung bis zum 30. Juni 2025 zu einer Entscheidung nach § 130a VwGO angehört.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
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Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.
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Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Klägerin kein Anspruch auf Erstattung der Kosten für gewährte Jugendhilfe aus § 89d Abs. 1 SGB VIII (i.V.m. Art. 52 Satz 1 AGSG) gegen den Beklagten zukommt (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der Anspruch ist wegen Ablaufs der Ausschlussfrist nach § 111 Satz 1 SGB X ausgeschlossen.
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1. Der Senat kann über die Berufung nach Anhörung der Beteiligten gem. § 130a Satz 1 VwGO in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens durch Beschluss entscheiden, da er diese einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich erachtet. Die Rechtssache weist weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht außergewöhnliche Schwierigkeiten auf (vgl. zu diesem Erfordernis BVerwG, U.v. 30.6.2004 – 6 C 28.03 –, BVerwGE 121, 211 [212]; U.v. 9.12.2010 – 10 C 13.09 –, BVerwGE 138, 289 [297 f.]). Die aufgeworfenen Rechtsfragen sind mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur vorläufigen Inobhutnahme und zum jugendhilferechtlichen Leistungsbegriff (siehe BVerwG, U.v. 26.4.2018 – 5 C 11/17 – juris; BVerwG, U.v. 27.4.2017 – 5 C 8/16 – juris; BVerwG, U.v. 17.12.2015 – 5 C 9/15 – juris; BVerwG, U.v. 19.8.2010 – 5 C 14/09 – juris) bereits geklärt.
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Die Beteiligten hatten im Berufungsverfahren ausreichend Gelegenheit, sich zu den maßgeblichen Fragen zu äußern. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, welche auf der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK gründet (vgl. hierzu U.v. 29.10.1991 – Nr. 22/1990/213/275 –, NJW 1992, 1813 f.), muss auch in Fällen, in denen die Beteiligten in erster Instanz auf eine mündliche Verhandlung verzichtet haben, nicht stets und unabhängig von der Art der zu entscheidenden Fragen in der folgenden zweiten Instanz eine mündliche Verhandlung stattfinden (vgl. BVerwG, U.v. 28.6.1983 – 9 C 15/83 – juris Rn. 15; BVerwG, B.v. 25.9.2007 – 5 B 53/07 – juris Rn. 18). Vielmehr steht dem Berufungsgericht die Möglichkeit einer Entscheidung durch Beschluss nach § 130a VwGO auch dann offen, wenn die Beteiligten – wie hier – in der ersten Instanz Gelegenheit zu einer mündlichen Verhandlung hatten und sie – aus welchen Gründen auch immer – freiwillig und ausdrücklich auf eine mündliche Verhandlung verzichtet haben (vgl. BVerwG, B.v. 10.7.2019 – 1 B 57/19 – juris Rn. 13). Dies gilt namentlich dann, wenn – wie im vorliegenden Fall – nur über Rechtsfragen zu entscheiden ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.9.2003 – 4 B 68/03 –, NVwZ 2004, 108 [110]; B.v. 7.9.2011 – 9 B 61/11 –, NVwZ 2012, 379 [380] Rn. 6 f.). Tatsachenfragen, die eine (weitere) Beweiserhebung erfordert hätten, haben sich entscheidungserheblich nicht gestellt. Die aufgeworfenen Fragen lassen sich bereits alleine aufgrund der Aktenlage und der bereits vorliegenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts angemessen beurteilen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 26.4.2018 – 5 C 11/17 – juris; BVerwG, U.v. 27.4.2017 – 5 C 8/16 – juris; BVerwG, U.v. 17.12.2015 – 5 C 9/15 – juris; BVerwG, U.v. 19.8.2010 – 5 C 14/09 – juris; s.a. Rudisile/Röcker in Schoch/Schneider, VwGO, Stand August 2024, § 130a Rn. 3a).
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Mit Anhörungsschreiben vom 6. Juni 2025 hat der Senat die Verfahrensbeteiligten über das Ergebnis seiner rechtlichen Prüfung im Berufungsverfahren unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur vorläufigen Inobhutnahme und zum jugendhilferechtlichen Leistungsbegriff in Kenntnis gesetzt. Ein diskursiver Prozess zwischen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten (vgl. BVerwG, B.v. 20.5.2015 – 2 B 4/15 –, NVwZ 2015, 1299 Rn. 5; s.a. Anm. Heusch, NVwZ 2015, 1301) hat daher in umfassender Weise stattgefunden, wenn auch nicht mit dem von der Klägerin gewünschten Ergebnis. Zu einem weitergehenden „Rechtsgespräch“ ist der Senat – selbst im Rahmen einer mündlichen Verhandlung – nicht verpflichtet (vgl. BVerfGE 86, 133 [144 f.] m.w.N.). Mithin kann der Senat in Ausübung des nach § 130a Satz 1 VwGO eingeräumten Ermessens durch Beschluss entscheiden. Einer weiteren Anhörungsmitteilung bedurfte es nicht (vgl. BVerwG, B.v. 17.5.1993 – 4 B 73/93 – juris, Rn. 3; B.v. 2.3.2010 – 6 B 72/09 –, NVwZ-RR 2010, 845 [846] Rn. 8; B.v. 22.6.2007 – 10 B 56/07 – juris, Rn. 9; B.v. 25.8.1999 – 8 C 12/98 – juris, Rn. 16).
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2. Mit Recht hat das Verwaltungsgericht angenommen, dass die Klägerin ihren Anspruch auf Erstattung der vom 1. Dezember bis 22. Dezember 2015 im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme aufgewandten Kosten in Höhe von 4.811,01 EUR nicht fristgerecht geltend gemacht hat. Auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen gem. § 130b S. 2 VwGO Bezug und führt ergänzend aus:
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2.1 Rechtsgrundlage des Erstattungsanspruchs ist § 89d SGB VIII i.d.F. vom 28. Oktober 2015. Danach sind Kosten, die ein örtlicher Träger aufwendet, vom Land zu erstatten, wenn innerhalb eines Monats nach der Einreise eines jungen Menschen Jugendhilfe gewährt wird und sich die örtliche Zuständigkeit nach dem tatsächlichen Aufenthalt dieser Person richtet. Das Vorliegen dieser Tatbestandsvoraussetzungen ist zwischen den Beteiligten zu Recht nicht streitig, ebenso wenig die Höhe der danach zu erstattenden Kosten. Auch gehen die Beteiligten zutreffend davon aus, dass die Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs nach § 89d SGB VIII der Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X unterliegt. Die streitige Frage, ob die Klägerin den Erstattungsanspruch innerhalb der Frist des § 111 Satz 1 SGB X geltend gemacht hat, hat das Verwaltungsgericht zu Recht verneint.
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2.2 Nach § 111 Satz 1 SGB X ist der Anspruch auf Erstattung ausgeschlossen, wenn die Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend und im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundeverwaltungsgerichts davon ausgegangen, dass es sich bei der von der Klägerin erbrachten vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII und der anschließenden, durch das Jugendamt R. erbrachten Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII nicht um eine einheitliche Leistung im Sinne des § 111 Satz 1 SGB VIII handelt.
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2.3 Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist für das fristgerechte Geltendmachen eines jugendhilferechtlichen Erstattungsanspruchs der Begriff der Leistung im Sinne der Zuständigkeitsregelungen der §§ 86 ff. SGB VIII maßgeblich. Die jugendhilferechtliche Leistung ist somit anhand einer bedarfsorientierten Gesamtbetrachtung der verschiedenen Maßnahmen und Hilfen zu bestimmen. Demzufolge bilden alle im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zur Deckung eines qualitativ unveränderten, kontinuierliche Hilfe gebietenden jugendhilferechtlichen Bedarfs erforderlichen Maßnahmen und Hilfen eine einheitliche Leistung, sofern sie ohne beachtliche Unterbrechung gewährt worden sind (vgl. BVerwG, U.v. 19.8.2010 – 5 C 14/09 – juris Rn. 19 f.; BVerwG, U.v. 17.12.2015 – 5 C 9/15 – juris Rn. 11; BVerwG, U.v. 27.4.2017 – 5 C 8/16 – juris Rn. 10). Der auf eine Gesamtbetrachtung abstellende zuständigkeitsrechtliche Leistungsbegriff bedeutet dabei aber nicht, dass jede beliebige Maßnahme der Jugendhilfe den Beginn einer Leistung darstellt oder dass es allein auf die erstmalige Gewährung von Jugendhilfe im Sinne des Beginns einer „Jugendhilfekarriere“ ankommt (vgl. BVerwG, U.v. 29.1.2004 – 5 C 9/03 – juris Rn. 23).
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Das Verwaltungsgericht ist danach zutreffend davon ausgegangen, dass es sich bei der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII und der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII nicht um eine Gesamtleistung, sondern um verschiedene aufeinander aufbauende Maßnahmen handelt. Denn das Instrument der vorläufigen Inobhutnahme verfolgt primär andere Zwecke als die reguläre Inobhutnahme und deckt damit zugleich auch einen qualitativ anderen Bedarf des Betroffenen.
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Die im Jahre 2015 eingeführte vorläufige Inobhutnahme als neue „andere Aufgabe“ der Kinder- und Jugendhilfe gem. § 2 Abs. 3 Nr. 2 SGB VIII, dient – nach der Feststellung der Minderjährigkeit – der Umverteilung der unbegleiteten Minderjährigen. Zudem soll damit auch eine kindeswohlgerechte Unterbringung und Versorgung sichergestellt werden (vgl. Steinbüchel in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, Vor § 42a Rn. 1; Kepert/Dexheimer in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42a Rn. 2; s.a. BT-Drs. 18/5921, S. 16 f.). Die neuen Regelungen sehen somit ein zweistufiges Verfahren vor (vgl. Schwedler in BeckOGK, SGB VIII, Stand 1.11.2024, § 42a Rn. 1). Dementsprechend geht das Bundesverwaltungsgericht entsprechend der gesetzlichen Konzeption davon aus, dass eine vorläufige Inobhutnahme ausländischer Minderjähriger im Falle ihrer unbegleiteten Einreise deren späteren Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII vorgeschaltet ist und somit einen selbständigen Streitgegenstand bildet (vgl. BVerwG, U.v. 26.4.2018 – 5 C 11/17 – juris Rn. 13).
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Vor diesem Hintergrund verbietet es sich, die vorläufige Inobhutnahme und die reguläre Inobhutnahme (nur) als Teile einer Gesamtleistung anzusehen. Aufgrund der gesetzlichen Systematik und Zielrichtung des § 42a SGB VIII stellt die vorläufige Inobhutnahme nicht den Beginn einer kontinuierlichen, in aller Regel auf einen längeren Zeitraum angelegten Hilfegewährung dar, sondern dient im Vorfeld der sich möglicherweise anschließenden jugendhilferechtlichen Maßnahmen der Klärung der Minderjährigkeit und vor allem des örtlich zuständigen Trägers. Stellt das Jugendamt während der vorläufigen Inobhutnahme fest, dass der Betroffene mindestens 18 Jahre alt ist, wird die vorläufige Inobhutnahme unmittelbar beendet (vgl. Steinbüchel in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42a Rn. 3). Erst und nur wenn die Minderjährigkeit festgestellt ist, kann im Rahmen des Clearingverfahrens (§ 42a Abs. 2- 4 SGB VIII) geprüft werden, ob eine Umverteilung möglich ist. Die vorläufige Inobhutnahme endet sodann zwingend, insbesondere mit der Übergabe des Minderjährigen an das aufgrund der Zuweisungsentscheidung zuständige Jugendamt oder bei Ausschluss der Verteilung mit der regulären Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII durch das Jugendamt, das den Minderjährigen bereits vorläufig in Obhut genommen hat (§ 42a Abs. 6 SGB VIII). Die reguläre Inobhutnahme kann deshalb nicht als Fortsetzung der vorläufigen Inobhutnahme betrachtet werden kann.
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2.4 Ebenfalls zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass es sich auch deshalb nicht um eine einheitliche Leistung im Sinne des zuständigkeitsrechtlichen Leistungsbegriffs handelt, weil unterschiedliche Leistungsträger beteiligt sind.
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Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt dem in § 111 Satz 1 SGB X verwendeten Begriff der Leistung eine doppelte Funktion zu. Zum einen umschreibt er den gegenständlichen Anwendungsbereich der Norm näher, da sich der geltend gemachte Erstattungsanspruch auf die Kosten einer „Leistung“ beziehen muss. Zum anderen wird durch ihn der Beginn der Ausschlussfrist markiert. Der Begriff der Leistung wird dabei bezüglich beider Wirkungsrichtungen einheitlich verwendet (vgl. BVerwG, U.v. 17.12.2015 – 5 C 9/15 – juris Rn. 15).
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Für den Anwendungsbereich des § 111 Satz 1 SGB X ergibt sich daraus, dass der Leistungsbegriff nicht weiter als der Gegenstand des jeweiligen Erstattungsanspruchs reichen kann. Das Bundesverwaltungsgericht stellt für die Definition der Leistung im Sinne von § 111 Satz 1 SGB X maßgeblich ab auf „alle Maßnahmen und Hilfen, deren Kosten von einem Jugendhilfeträger infolge der jugendhilferechtlichen Verknüpfung der örtlichen Zuständigkeit mit der Kostentragungspflicht zu zahlen sind“ (BVerwG, U.v. 17.12.2015 – 5 C 9/15 – juris Rn. 11). Es geht innerhalb des § 111 Satz 1 SGB X also (nur) um Maßnahmen eines Jugendhilfeträgers. Den vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fällen, in denen verschiedene Leistungen im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB VIII als einheitliche Gesamtleistung betrachtet wurden, lagen jeweils Leistungsgewährungen eines Jugendhilfeträgers zugrunde, der kontinuierlich verschiedene Leistungen entsprechend dem jeweiligen Bedarf des Hilfeempfängers erbracht hat. Damit unvereinbar ist die Ansicht, auch die spätere Maßnahme eines weiteren Jugendhilfeträgers, die nicht Gegenstand des geltend gemachten Erstattungsanspruchs ist, könnte für diesen maßgeblicher Bezugspunkt der Ausschlussfrist sein. Die Verknüpfung von örtlicher Zuständigkeit mit der Kostentragungspflicht und der sie ergänzenden Kostenerstattung, die maßgeblich ist für den zuständigkeitsrechtlichen Leistungsbegriff, greift nur hinsichtlich der Maßnahmen eines Jugendhilfeträgers.
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Des Weiteren besteht der Erstattungsanspruch nach § 89d SGB VIII (nur) für jene Kosten, die der örtliche Träger aufgewendet hat. Da der örtliche Träger nur eigene Aufwendungen, die auf der von ihm selbst gewährten Jugendhilfe beruhen, geltend machen kann, begrenzt seine Hilfegewährung den Umfang des Erstattungsanspruchs. Die Klägerin macht demzufolge auch nur die ihr entstandenen Kosten der vorläufigen Inobhutnahme geltend, nicht aber jene der darauffolgenden Inobhutnahme, deren Kosten (zunächst) das Jugendamt R. zu tragen hatte. § 111 Satz 1 SGB X regelt, ab wann dieser geltend gemachte Anspruch gesetzlich ausgeschlossen ist. Aufgrund der doppelten Funktion des Leistungsbegriffs kann somit allein die Leistung, die den Gegenstand des Erstattungsanspruchs für die Kosten der vorläufigen Inobhutnahme bildet, Bezugspunkt für die Berechnung der Ausschlussfrist sein. Von Wortlaut und Systematik der Norm ist es ausgeschlossen, hierfür eine „Leistung“, die nicht identisch ist mit dem Gegenstand des Erstattungsanspruchs, heranzuziehen.
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Das Verwaltungsgericht geht deshalb zu Recht davon aus, dass Beginn und Wirkung der Ausschlussfrist für jeden Erstattungsanspruch jedes erstattungsberechtigten Trägers separat zu bestimmen sind. Der Wechsel auf Seiten des zuständigen Trägers führt zu einer Zäsur, die den Erstattungsanspruch begrenzt, die Leistung im jugendhilferechtlichen Sinne beendet und zugleich den Beginn der Ausschlussfrist markiert.
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2.5 Der Einwand der Klägerin, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts seien zur Abgrenzung von Gesamtleistungen (ausschließlich) jugendhilferechtliche Bedarfsgesichtspunkte heranzuziehen, führt zu keiner anderen Beurteilung. Bei dieser Argumentation übersieht die Klägerin, dass wie dargestellt die Annahme einer Gesamtleistung ohnehin nur möglich ist, wenn die verschiedenen „Teilleistungen“ jeweils von demselben Jugendhilfeträger erbracht worden sind. Auf Aspekte wie den jeweiligen, möglicherweise unveränderten Bedarf sowie eine etwaige vergleichbare Zielsetzung von vorläufiger Inobhutnahme und Inobhutnahme kommt es nicht an, wenn der Trägerwechsel zu einer Zäsur führt und dadurch die Ausschlussfrist zum Laufen gebracht wird.
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Soweit die Klägerin meint, das Bundesverwaltungsgericht habe abschließend entschieden, in welchen Fällen von einer Gesamtleistung abgewichen werden solle, ist dem nicht zu folgen. Vielmehr hatte das Bundesverwaltungsgericht stets nur über Fälle der einheitlichen Leistungsgewährung durch ein und denselben Jugendhilfeträger zu entscheiden. Dass der Fall eines Zuständigkeitswechsels hierbei „ausdrücklich nicht erwähnt“ worden sei, liegt auf der Hand, weil sich diese Fragen in den entschiedenen Fällen nicht stellten. Daraus aber ableiten zu wollen, das Bundesverwaltungsgericht habe diese Fallgruppe gerade nicht als neue Leistung definieren wollen, ist nicht schlüssig. Aus dem Unerwähntlassen anderer Konstellationen können für diese offenkundig keine Schlüsse gezogen werden.
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Schließlich führt auch der durch die Klägerin geltend gemachte Rechtsgedanke der materiellen Ausgleichsgerechtigkeit nicht zu einer Bejahung des Erstattungsanspruchs. Denn die Versäumung der Ausschlussfrist beseitigt das Recht selbst und ist vom Amts wegen zu beachten (vgl. Kater in BeckOGK SGB X, Stand 15.2.2024, § 111 Rn. 65). § 111 Satz 1 SGB X begründet eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist, sodass der Erstattungsanspruch nach Ablauf der Ausschlussfrist untergeht. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist ausgeschlossen, ein Verzicht auf die Ausschlussfrist nicht möglich. Der Erstattungsberechtigte kann sich auch nicht auf den Grundsatz von Treu und Glauben berufen, etwa weil der Erstattungspflichtige von der Leistung des Erstattungsberechtigten Kenntnis hatte (vgl. Roller in Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 111 Rn. 16 mit zahlreichen weiteren Nachweisen).
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Die Berufung ist deshalb zurückzuweisen.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 3 GKG.
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4. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor. Die aufgeworfenen Rechtsfragen lassen sich nach Auffassung des Senats anhand der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, U.v. 26.4.2018 – 5 C 11/17 – juris Rn. 13; BVerwG, U.v. 19.8.2010 – 5 C 14/09 – juris Rn. 19 f.; BVerwG, U.v. 17.12.2015 – 5 C 9/15 – juris Rn. 11; BVerwG, U.v. 27.4.2017 – 5 C 8/16 – juris Rn. 10) eindeutig beantworten.