Titel:
Wegen Ermittlungs- und Bewertungsdefizit unwirksamer Bebauungsplan
Normenketten:
VwGO § 47 Abs. 2 S. 1
BayBO Art. 6
Leitsätze:
1. In der planerischen Abwägung sind – neben dem Grundeigentum im Plangebiet – auch die Rechtspositionen und privaten Belange Dritter zu berücksichtigen, deren Grundeigentum zwar außerhalb der Plangrenzen, jedoch in der Nachbarschaft des Plangebiets liegt und mehr als geringfügigen belastenden Einwirkungen der durch den Plan ermöglichten Nutzungen ausgesetzt sein wird. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Verringerung der in Art. 6 BayBO vorgesehenen Abstandsflächen durch bauplanerische Festsetzungen und ein damit verbundener Eingriff in die gesetzlich vorgesehenen Rechte des Nachbarn erfordert zwingend auch eine Abwägung der für und gegen sie sprechenden privaten Belange. Dies setzt deren Ermittlung und Bewertung voraus. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antragsbefugnis (bejaht), Rechtsschutzbedürfnis, Abwägung, Ermittlungs- und Bewertungsdefizit, Verkürzung der Abstandsflächen durch Bebauungsplan
Fundstelle:
BeckRS 2025, 1866
Tenor
I. Die 7. Änderung des Bebauungsplans „...“ des Antragsgegners, bekannt gemacht am 18. Juli 2022, ist unwirksam.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Antragsgegner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Antragstellerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
V. Der Streitwert wird auf 20.000, – Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragstellerin wendet sich gegen die 7. Änderung des Bebauungsplans „...“ des Antragsgegners.
2
Mit der Änderungsplanung hat der Antragsgegner die Grundstücke FlNrn. 722, 722/3, 722/4 und 722/5 der Gemarkung B. …, für die zuvor der Bebauungsplan vom 28. September 1964 in der Fassung der 6. Änderung vom 22. Oktober 2004 galt, neu überplant. Der angegriffene Bebauungsplan sieht unter anderem die Festsetzung von Bauräumen durch Baugrenzen unter Orientierung an den bestehenden Haupt- und Nebengebäuden und einer Ausdehnung der Bauräume über den Bestand hinaus nach Westen vor. Hierbei ist der Bauraum für das Grundstück FlNr. 722/3 ohne Abstand, für das Grundstück FlNr. 722/4 mit einem Mindestabstand von 1,8 m und für das Grundstück FlNr. 722 mit einem Mindestabstand von 2,5 m jeweils zur nördlichen Grundstücksgrenze festgesetzt. In den textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans ist unter „§ 7 Bauweise, Baugrenze“ geregelt, dass die Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO einzuhalten sind (§ 7.3) und abweichend hiervon auf den Grundstücken FlNrn. 722 und 722/4 die überbaubare Fläche vor der Abstandsflächenregelung maßgebend ist (§ 7.4).
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Die Antragstellerin ist Eigentümerin des Grundstücks FlNr. 723 der Gemarkung B. …, das an die gesamte nördliche Grenze des Plangebiets und somit an alle von der Planänderung betroffenen Grundstücke angrenzt.
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Mit Schriftsatz vom 4. August 2022 stellte die Antragstellerin einen Normenkontrollantrag. Zur Begründung, insbesondere ihrer Antragsbefugnis, trägt sie unter anderem vor, dass ihr Grundstück zwar außerhalb des Plangebiets liege, sie aber in ihrem Recht auf gerechte Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB verletzt sei. Sie könne eine subjektive Rechtsposition geltend machen, da nach den Festsetzungen des Bebauungsplans unmittelbar angrenzend an ihrem Grundstück im Plangebiet über die Bayerische Bauordnung hinausgehende Nutzungsmöglichkeiten geschaffen werden würden. Insbesondere durch die Vergrößerung des Baufensters auf dem Grundstück FlNr. 722/3 über das Bestandsgebäude hinaus, unmittelbar an ihrer Grundstücksgrenze und somit unter Unterschreitung der erforderlichen Abstandsflächenvorschriften, sei sie in einem abwägungserheblichen Belang berührt. Zudem fehle hierzu die insoweit erforderliche, ausführliche Abwägung.
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Die Antragstellerin rügt ferner einen Ausfertigungsmangel, die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes nach Art. 52 BayGO im Bebauungsplanverfahren, die Unwirksamkeit der Vorgängerfassungen des Bebauungsplans, die sich auf die Wirksamkeit des streitgegenständlichen Bebauungsplans niederschlagen würden, sowie die Unwirksamkeit einzelner Festsetzungen des Bebauungsplans.
6
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
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die 7. Änderung des Bebauungsplans „...“ vom 13. Juli 2022, am 18. Juli 2022 öffentlich bekannt gemacht, für unwirksam zu erklären.
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Der Antragsgegner beantragt,
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Er verteidigt den angegriffenen Bebauungsplan und führt zur Antragsbefugnis der Antragstellerin aus, dass sich diese allenfalls aus der Festsetzung der Baugrenze unmittelbar an ihrer Grundstücksgrenze und dadurch betroffene abwägungserhebliche Belange ergebe könne. Nach Auffassung des Antragsgegners seien jedenfalls etwaige Abwägungsmängel durch die Verkürzung der Abstandsflächen im Bebauungsplan mangels rechtzeitiger spezifischer Rüge nach § 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB unbeachtlich geworden. Denn der Hinweis der Antragstellerin beschränke sich darauf, dass es sich dabei um einen abwägungserheblichen Belang handle; ein konkreter Abwägungsmangel sei jedoch gerade nicht geltend gemacht worden.
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Der Beigeladene stellt keinen Antrag, führt aber aus, dass der Antragstellerin das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis fehle. Denn entgegen dem Vortrag der Antragstellerin würden die Abstandsflächenregelungen des Art. 6 BayBO gerade für den Bereich des Grundstücks FlNr. 722/3 nicht berührt. Zudem sei auf dem Grundstück FlNr. 722/3 das Bauvorhaben einschließlich einer Abweichung von den Abstandsflächen, auf dessen Verhinderung der Normenkontrollantrag letztlich ziele, bereits bestandskräftig genehmigt. Im Übrigen würde die Unwirksamkeitserklärung des streitgegenständlichen Bebauungsplans der Antragstellerin nichts nützen, da grenznahe Bebauungen auf den im Plangebiet liegenden Grundstücken auch bei einer Beurteilung nach § 34 Abs. 1 BauGB möglich seien. Ferner seien die nachbarlichen Belange der Antragstellerin im Rahmen der Abwägung ausreichend berücksichtigt worden. Insbesondere liege die Beeinträchtigungsintensität ihrer nachbarlichen Belange unterhalb der Schwelle der Abwägungsrelevanz. Eine nennenswerte, planbedingte Beeinträchtigung der Antragstellerin durch die lediglich für die Grundstücke FlNrn. 722 und 722/4 geltende, abstandsflächenverkürzende Festsetzung sei nicht ersichtlich, da auch ohne den streitgegenständlichen Bebauungsplan die Zulassung grenznaher Bebauungen durch Erteilung von Abweichungen zu erwarten seien. Diese seien möglicherweise nach Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO nicht einmal erforderlich, weil aufgrund des schmalen Zuschnitts des Grundstücks der Antragstellerin in diesen Bereichen tatsächlich gesichert sei, dass diese Grundstücksteile nicht überbaut werden. Jedenfalls Hauptgebäude, die die abstandsflächenrechtlichen Belange hervorriefen, hätten an diesen Stellen keinen Platz. Damit seien die Belange Belichtung, Belüftung, Sozialabstand sowie Flächenbedarf für notwendige Nebenanlagen und dergleichen seitens der Antragstellerin nicht gefährdet.
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Mit Schreiben vom 16./17. Oktober 2024 hat der Senat die Beteiligten angefragt, ob mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren unter Verzicht auf mündliche Verhandlung Einverständnis besteht. Der Antragsgegner und der Beigeladene haben sich mit der Vorgehensweise einverstanden erklärt, nicht aber die Antragstellerin. Am 17. Januar 2025 wurden die Beteiligten von der Absicht des Senats, nach § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, in Kenntnis gesetzt. Gleichzeitig hat der Senat darauf hingewiesen, dass im Rahmen der Abwägung möglicherweise die vom Abstandsflächenrecht geschützten Rechtsgüter, insbesondere die nachbarlichen Belange der Antragstellerin, nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Mit Schreiben vom 28. Januar 2025 haben der Beigeladene und mit Schreiben vom 29. Januar 2025 die Antragstellerin einer Entscheidung im Beschlussverfahren zugestimmt. Der Antragsgegner äußerte sich hierzu nur in der Sache.
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Im Übrigen wird wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes auf die Gerichtsakten sowie auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
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Der Normenkontrollantrag hat Erfolg. Die 7. Änderung des Bebauungsplans „. . . … …“ des Antragsgegners ist unwirksam.
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1. Der Senat kann nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss nach § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO entscheiden, da er eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält und die Beteiligten dazu mit gerichtlichem Schreiben vom 17. Januar 2025 angehört worden sind. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK steht dem in Bezug auf die Antragstellerin nicht entgegen, da der Normenkontrollantrag zulässig und begründet ist. Zudem hat die Antragstellerin mit Schreiben vom 29. Januar 2025 einer Entscheidung im Beschlussverfahren zugestimmt. Der Antragsgegner hat bereits mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2024 und der Beigeladene mit Schriftsatz vom 30. Oktober 2024 bzw. vom 28. Januar 2025 sein Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren bzw. im Beschlussverfahren erklärt. Im Übrigen kann sich der Antragsgegner als Körperschaft des öffentlichen Rechts nicht auf die Vorschrift des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK berufen.
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2. Der Antrag nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ist zulässig.
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2.1. Insbesondere ist die Antragstellerin antragsbefugt im Sinne von § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO.
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Gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist im Normenkontrollverfahren jede natürliche oder juristische Person antragsbefugt, die geltend macht, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Wer sich als außerhalb des Bebauungsplangebiets wohnender Grundstückseigentümer gegen einen Bebauungsplan wendet, muss aufzeigen, dass sein aus dem Abwägungsgebot (§ 1 Abs. 7 BauGB) folgendes Recht verletzt sein kann (vgl. BVerwG, B.v. 29.7.2013 – 4 BN 13.13 – juris Rn. 4; U.v. 24.9.1998 – 4 CN 2.98 – BVerwGE 107, 215). Antragsbefugt ist danach, wer sich auf einen abwägungserheblichen privaten Belang berufen kann; denn wenn es einen solchen Belang gibt, besteht grundsätzlich auch die Möglichkeit, dass die Gemeinde ihn bei ihrer Abwägung nicht korrekt berücksichtigt hat. Die Antragsbefugnis ist jedoch dann nicht gegeben, wenn eine Rechtsverletzung offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausscheidet (stRspr BVerwG, vgl. BVerwG, B.v. 2.3.2015 – 4 BN 30.14 – BauR 2015, 967).
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Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und des Vorbringens der Antragstellerin ist eine mögliche Verletzung der Rechte der Antragstellerin und somit ihre Antragsbefugnis zu bejahen. Die Antragstellerin macht als angrenzende Nachbarin an das Plangebiet eine Verletzung des Abwägungsgebots nach § 1 Abs. 7 BauGB geltend. Ihre Interessen seien im Rahmen der Abwägung im Hinblick auf die Festsetzungen der überbaubaren Grundstücksflächen, die eine Unterschreitung der nach Art. 6 BayBO vorgeschriebenen Mindestabstandsfläche von 3 m vorsehen würden, nicht ausreichend berücksichtigt worden.
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2.1.1. Hierbei handelt es sich um einen abwägungserheblichen Belang. Denn in der planerischen Abwägung sind – neben dem Grundeigentum im Plangebiet – auch die Rechtspositionen und privaten Belange Dritter zu berücksichtigen, deren Grundeigentum zwar außerhalb der Plangrenzen, jedoch in der Nachbarschaft des Plangebiets liegt und mehr als geringfügigen belastenden Einwirkungen der durch den Plan ermöglichten Nutzungen ausgesetzt sein wird (vgl. BVerwG, B.v. 4.6.2008 – 4 BN 13.08 – BauR 2008, 2031; BayVGH. B.v. 8.3.2013 – 15 NE 12.2637 – juris Rn. 14). Daher müssen die Auswirkungen der durch die Festsetzungen des Bebauungsplans verringerten Abstandsflächen auf die durch das Abstandsflächenrecht geschützten Rechtsgüter und Belange (vgl. BayVGH, U.v. 25.4.2005 – 1 N 03.1704 – juris Rn. 29; OVG BB, B.v. 9.11.1999 – 2 SN 25.99 – juris LS 4; OVG BB, U.v. 18.12.2007 – OVG 2 A 3.07 – juris Rn. 98) insbesondere der nachbarlichen Interessen – unabhängig von der Lage im oder außerhalb des Plangebiets – in der Abwägung berücksichtigt werden.
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2.1.2 Insoweit scheidet eine Rechtsverletzung der Antragstellerin auch nicht von vornherein aus. Vorliegend können tatsächlich bei einer Realisierung der planerisch zugelassenen Bebauung die sich aus dem Bauordnungsrecht ergebenden Abstandsflächen zu Lasten des Grundstücks der Antragstellerin unterschritten werden. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin gilt dies zwar nicht im Hinblick auf eine Bebauung auf den Grundstücken FlNrn. 722/3 und 722/5. Denn nach der vom Antragsgegner getroffenen, ausdrücklichen Regelung im Bebauungsplan (§ 7.3 der textlichen Festsetzungen) sind bei einer Bebauung auf diesen Grundstücken – insbesondere trotz der Bauraumausweisung bis an die nördliche Grundstücksgrenze auf dem Grundstück FlNr. 722/3 – die Abstandsflächenvorschriften nach Art. 6 BayBO einzuhalten. Daher vermittelt diesbezüglich die Festsetzung der Baugrenzen jedenfalls kraft ausdrücklicher Regelung keinen planungsrechtlichen Vorrang gegenüber den landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften. Jedoch ist nach den bauplanerischen Festsetzungen bei einer Bebauung der Grundstücke FlNrn. 722 und 722/4 eine Unterschreitung der nach Art. 6 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 BayBO erforderlichen Mindestabstandsfläche von 3 m um 0,5 m (FlNr. 722) und um 1,2 m (FlNr. 722/4) explizit zulässig (planzeichnerische Festsetzungen in Verbindung mit § 7.4 der textlichen Festsetzungen). Dadurch ist eine planbedingte Verkürzung der Abstandsflächentiefe beinhaltet.
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2.2. Auch fehlt der Antragstellerin nicht das Rechtschutzbedürfnis.
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Das Rechtsschutzbedürfnis liegt regelmäßig vor, wenn der Antragsteller antragsbefugt ist, weil er geltend machen kann, durch die angegriffene Rechtsvorschrift in seinen Rechten verletzt zu sein oder verletzt zu werden (vgl. BVerwG, U.v. 23.4.2002 – 4 CN 3.01 – NVwZ 2002, 1126). Anderes gilt aber dann, wenn der Antragsteller durch die Unwirksamerklärung der Norm seine Rechtsstellung nicht verbessern kann und die Inanspruchnahme des Gerichts deshalb für ihn nutzlos ist (vgl. BVerwG, B.v. 9.2.1989 – 4 NB 1.89 – NVwZ 1989, 653; U.v. 13.12.2018 – 4 CN 3.18 – juris Rn. 14; Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 47 Rn. 56). Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn eine Bebauung auf dem Nachbargrundstück auch ohne den angegriffenen Bebauungsplan nach § 34 BauGB zulässig wäre (vgl. Giesberts in BeckOK VwGO, Stand 1.10.2024, § 47 Rn. 43 mit Verweis auf BVerwG, B.v. 22.9.1995 – 4 NB 18.95 – NVwZ-RR 1996, 478). Entgegen der Auffassung des Beigeladenen ist eine Verbesserung der Rechtsstellung der Antragstellerin bei Unwirksamerklärung des Bebauungsplans jedenfalls im Hinblick auf die Grundstücke FlNrn. 722 und 722/4 (in Entsprechung zur Antragsbefugnis) zu bejahen. Denn auch bei einer Beurteilung nach § 34 Abs. 1 BauGB sind die landesrechtlichen Abstandflächenvorschriften zu beachten. Daher ist auf den dortigen Grundstücken eine Bebauung, die eine Unterschreitung der Mindestabstandsflächen nach Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO vorsieht, grundsätzlich nicht zulässig. Insbesondere kann, anders als der Beigeladene meint, insoweit nicht ohne Weiteres die Erteilung von Abweichungen von der Einhaltung der Abstandsflächen, die nur unter Berücksichtigung der nachbarlichen Interessen (Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO) ergehen können, unterstellt werden. Im Übrigen entfällt das Rechtschutzbedürfnis der Antragstellerin nicht dadurch, dass für eines der vom Bebauungsplan erfassten Grundstücke eine bestandskräftige Baugenehmigung besteht. Davon könnte nur ausgegangen werden, wenn der Bebauungsplan durch genehmigte oder genehmigungsfreie Maßnahmen vollständig verwirklicht wäre (vgl. BVerwG, B.v. 28.8.1987 – 4 N 3.86 – BVerwGE 78, 85; B.v. 9.2.1989 – 4 NB 1.89 – BayVBl 1989, 665; U.v. 28.4.1999 – 4 CN 4.99 – UPR 1999, 350, BayVGH, U.v. 1.6.2015 – 2 N 13.2220 – juris Rn. 26). Dies ist hier offensichtlich nicht der Fall.
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2.3. Die Antragstellerin hat den Bebauungsplan innerhalb der Jahresfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO angegriffen.
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3. Der Antrag ist auch begründet. Der streitgegenständliche Bebauungsplan ist unwirksam.
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3.1. Er leidet an einem nach § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB beachtlichen Ermittlungs- und Bewertungsdefizit im Sinne von § 2 Abs. 3 BauGB und genügt damit auch nicht den an eine ordnungsgemäße Abwägung im Sinne des § 1 Abs. 7 BauGB zu stellenden Anforderungen.
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Nach § 1 Abs. 7 BauGB sind bei der Aufstellung der Bauleitpläne die öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen. Die Belange, die für die Abwägung von Bedeutung sind (Abwägungsmaterial), sind bei der Aufstellung der Bauleitpläne nach § 2 Abs. 3 BauGB zu ermitteln und zu bewerten. Zu ermitteln und zu bewerten sowie gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen sind alle Belange, die in der konkreten Planungssituation nach Lage der Dinge in die Abwägungsentscheidung eingestellt werden müssen (vgl. BVerwG, U.v. 20.6.2023 – 4 CN 11.21 – juris Rn. 12). Diese Grundsätze gelten auch für die Änderung oder Ergänzung von Bebauungsplänen (§ 1 Abs. 8 BauGB).
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3.1.1. Vorliegend hat der Antragsgegner nicht alle abwägungserheblichen Belange in Bezug auf die Festsetzungen der überbaubaren Grundstücksflächen (§ 7.2 – 7.4 der textlichen Festsetzungen) ermittelt und bewertet.
29
Die planende Gemeinde kann im Bebauungsplan gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB, § 23 Abs. 1 BauNVO die überbaubaren Grundstücksflächen – so zum Beispiel durch Baugrenzen – festlegen. Soweit solche Festsetzungen dazu führen, dass bauliche Anlagen abweichend von den durch die Bauordnung festgelegten Abstandsflächentiefen zulässig sind, sind diese gemäß Art. 6 Abs. 5 Satz 2 BayBO grundsätzlich gegenüber den bauordnungsrechtlichen Anforderungen vorrangig, sofern die Gemeinde in der Satzung nicht ausdrücklich die Geltung der regulären Abstandsflächentiefen anordnet (hierzu im Einzelnen vgl. z.B. BayVGH, B.v. 29.12.2005 – 1 NE 05.2818 – juris Rn. 33 f.; Hahn in Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand Dezember 2024, Art. 6 Rn. 272 ff., 309 ff.). Macht der Plangeber von der aufgezeigten Möglichkeit Gebrauch, hat er im Rahmen seiner Abwägungsentscheidung alle Auswirkungen infolge der planungsrechtlichen Verkürzung der landesrechtlich vorgeschriebenen Abstandsflächen auf die vom Abstandsflächenrecht geschützten Rechtsgüter in den Blick zu nehmen (vgl. BayVGH, U.v. 25.4.2005 – 1 N 03.1704 – juris Rn. 29; OVG BB, B.v. 9.11.1999 – 2 SN 25.99 – juris LS 4; OVG BB, U.v. 18.12.2007 – OVG 2 A 3.07 – juris Rn 98; Hahn in Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Art. 6 Rn. 310 ff.). Dabei sind auch und vor allem die Interessen des/der Nachbarn, deren Schutz die Abstandsflächen dienen, zu berücksichtigen (vgl. BayVGH, U.v. 25.4.2005 a.a.O.; Hahn in Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Art. 6 Rn. 311, 587). Diese Grundsätze gelten gleichermaßen für Festsetzungen nach § 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB, wonach abweichende Maße der Tiefe der Abstandsflächen festgesetzt werden können (vgl. Söfker/Wienhues in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand August 2024, § 9 Rn. 42 d). Daher kann es dahin gestellt bleiben, um welche Art der Festsetzung (§ 9 Abs. 1 Nr. 2 oder § 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB) es sich hier handelt.
30
Gemessen daran hat der Antragsgegner im Planaufstellungsverfahren die vom Abstandsflächenrecht geschützten Rechtsgüter, insbesondere die in der Abwägung zu berücksichtigenden privaten Belange der Antragstellerin als von der Abstandsflächenverkürzung betroffenen Nachbarin nicht ermittelt und bewertet. Nach den Festsetzungen des Bebauungsplans zu den überbaubaren Grundstücksflächen ist im Rahmen einer Bebauung auf den Grundstücken FlNrn. 722 und 722/4 eine Unterschreitung der nach Art. 6 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 BayBO erforderlichen Mindestabstandsfläche von 3 m um 0,5 m bzw. 1,2 m zu Lasten des Grundstücks der Antragstellerin zulässig (vgl. unter Punkt 2.1.). Ausweislich der Begründung zum Bebauungsplan hat der Antragsgegner diese Unterschreitungen aufgrund der bestehenden schmalen Grundstückszuschnitte und entsprechend eingeschränkter Nutzungsmöglichkeiten für städtebaulich vertretbar gehalten. Dabei hat er für den Vorrang der überbaubaren Grundstücksflächen vor den Abstandsflächenregelungen maßgeblich auf den Bestandschutz, die örtliche, schmale Grundstücksituation und die Gewährung einer maßvollen Möglichkeit zur Erweiterung der bestehenden Gebäude abgestellt (Punkt 8.3 der Begründung zum Bebauungsplans). Dagegen hat der Antragsgegner die vom Abstandsflächenrecht geschützten Rechtsgüter, insbesondere mit Blick auf die Interessen der als Nachbarin der Grundstücke FlNrn. 722 und 722/4 betroffenen Antragstellerin und die gegebenenfalls zu ihren Lasten eintretenden Nachteile nicht ermittelt und bewertet.
31
Eine Abwägungsunerheblichkeit der nachbarlichen Belange der Antragstellerin, wie der Beigeladene ins Feld führt, kommt vor dem Hintergrund der bauordnungsrechtlich vorgeschriebenen Abstandsflächen nicht in Betracht. Vielmehr erfordert eine Verringerung der in Art. 6 BayBO vorgesehenen Abstandsflächen durch bauplanerische Festsetzungen und ein damit verbundener Eingriff in die gesetzlich vorgesehenen Rechte des Nachbarn zwingend auch eine Abwägung der für und gegen sie sprechenden privaten Belange des Beigeladenen und des Antragstellers (vgl. BayVGH, U.v. 25.4.2005 – 1 N 03.1704 – juris Rn. 17 und 29). Dies setzt freilich deren Ermittlung und Bewertung voraus. In Anbetracht dessen kommt es auf den hierzu erfolgten Vortrag des Beigeladenen nicht an.
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3.1.2. Die oben genannte Unterlassung begründet einen beachtlichen Mangel im Sinne von § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB, weil er nach Aktenlage offensichtlich und auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen ist. Es besteht die Möglichkeit, dass der Antragsgegner bei hinreichender Berücksichtigung der vom Abstandsflächenrecht geschützten Interessen der Antragstellerin anders geplant hätte.
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3.1.3. Der Mangel ist auch nicht im Nachhinein gemäß § 215 Abs. 1 BauGB unbeachtlich geworden.
34
Nach § 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB sind die in Nrn. 1 – 3 genannten Fehler nur beachtlich, wenn sie schriftlich gegenüber der Gemeinde innerhalb eines Jahres nach Bekanntmachung der Satzung unter Darlegung des die Verletzung begründenden Sachverhalts geltend gemacht werden. Der Gemeinde soll durch die Darstellung des maßgebenden Sachverhalts ermöglicht werden, auf dieser Grundlage begründeten Anlass zu haben, in die Frage einer Fehlerbehebung einzutreten (Anstoßfunktion der Rüge). Das schließt eine nur pauschale Rüge aus (vgl. BVerwG, B.v. 19.1.2012 – 4 BN 35.11 – ZfBR 2012, 261; B.v. 16.12.2014 – 4 BN 25.14 – ZfBR 2015, 270). Bei der Rüge von Mängeln im Abwägungsvorgang ist es erforderlich, dass die Belange, in deren Behandlung im Plan der Rügende einen Abwägungsfehler erblickt, mit ihrem Tatsachengehalt konkret und substantiiert dargelegt werden (vgl. BVerwG, B.v. 11.9.2019 – 4 BN 17.19 – NVwZ 2019, 1862; Stock in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand September 2024, § 215 Rn. 34). Das erfordert einen Bezug zur Abwägungsentscheidung der Gemeinde. Andererseits dürfen keine überspannten Anforderungen an den Inhalt der Rüge gestellt werden (vgl. Stock in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, § 215 Rn. 34; Battis in Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, 15. Aufl. 2022, § 215 Rn. 5).
35
Die Antragstellerin genügt mit ihrem Vortrag diesen Anforderungen. Neben ihren Ausführungen zur Antragsbefugnis (siehe unter 2.1.), mit denen sie die mangelnde Berücksichtigung ihrer nachbarlichen Belange durch die Eröffnung über die BayBO hinausgehender Nutzungsmöglichkeiten und Verkürzung der Abstandsflächen unmittelbar an ihrem Grundstück anführt, rügt sie mit Schriftsatz vom 22. März 2023 (S. 8) – und damit innerhalb der Jahresfrist – die fehlende, ausführliche Abwägung zu der durch den Bebauungsplan erfolgten Etablierung eines Baufensters, das nicht konform mit dem Abstandsflächenrecht sei. Damit hat die Antragstellerin nach den obigen Maßstäben hinreichend die aus ihrer Sicht gegebene Fehlerhaftigkeit der Abwägungsentscheidung im Hinblick auf die Auswirkungen der im Bebauungsplan getroffenen Festsetzungen auf das ihre nachbarlichen Belange schützende Abstandflächenrecht darlegt. Der Schriftsatz wurde jedenfalls über den Senat an den Antragsgegner zugeleitet, was ausreichend ist (vgl. Battis in Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, § 215 Rn. 5 m.w.N.).
36
3.2. Der Ermittlungs- und Bewertungsmangel sowie der damit verbundene Fehler im Abwägungsvorgang führt zur Gesamtunwirksamkeit des streitgegenständlichen Bebauungsplans. Die Unwirksamkeit bestimmter Festsetzungen hat unter Heranziehung des Rechtsgedankens des § 139 BGB nur dann nicht die Gesamtunwirksamkeit des Bebauungsplans zur Folge, wenn die übrigen Festsetzungen für sich betrachtet noch eine den Anforderungen des § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB gerecht werdende, sinnvolle städtebauliche Ordnung bewirken können und wenn mit Sicherheit anzunehmen ist, dass die Gemeinde nach ihrem im Planungsverfahren zum Ausdruck gekommenen Willen im Zweifel auch eine Satzung ohne den unwirksamen Teil beschlossen hätte (vgl. BVerwG, U.v. 11.9.2014 – 4 CN 3.14 – juris Rn. 26; BayVGH, U.v. 4.8.2017 – 15 N 15.1713 – juris Rn. 40 m. w. N.; U.v. 11.05.2018 – 15 N 17.1175 – juris Rn. 40).
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Das ist hier nicht der Fall. Die unwirksamen Festsetzungen stellen eine zentrale Regelung der Gesamtplanung dar und stehen mit dem Bebauungsplan in einem untrennbaren Zusammenhang (vgl. BVerwG, U.v. 19.9.2002 – 4 CN 1.02 – juris Rn. 12; U.v. 11.9.2014 a.a.O. Rn. 27). In Anbetracht des im Aufstellungsverfahren klar zum Ausdruck gekommenen Willens des Antragsgegners, die Bauraumfestsetzungen an die vorhandene Bebauung anzupassen (vgl. Punkt 7.1 „Städtebaulichortsplanerisches Konzept“ und Punkt 8.3 „überbaubare Grundstücksflächen, Bauweise“ der Begründung zum Bebauungsplan, S. 10), kann nicht mit Sicherheit angenommen werden, dass er den Bebauungsplan auch ohne die unwirksamen Festsetzungen beschlossen hätte.
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3.3. Die weiteren, von der Antragstellerin erhobenen Rügen können wegen des bereits dargestellten, zur Gesamtunwirksamkeit führenden Fehlers dahin gestellt bleiben.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO.
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5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
41
6. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 132 Abs. 2 VwGO).
42
7. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 und 8 GKG.
43
8. Gemäß § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO muss der Antragsgegner die Ziffer I. der Entscheidungsformel nach Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses in derselben Weise veröffentlichen, wie die Rechtsvorschrift bekanntzumachen wäre.