Titel:
Vorabentscheidungsersuchen, Feststellungsinteresse, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Rechtswirksamkeit, Kostenentscheidung, Anderweitige Erledigung, Maßgeblicher Zeitpunkt, Elektronischer Rechtsverkehr, Krankenunterlagen, Darlegungslast, Gewinnerzielungsabsicht, Substantiierung, Tatbestandswirkung, Auskunftsanspruch, Einholung eines Sachverständigengutachtens, Gesundheitsbeeinträchtigung, Klageantrag, Schmerzensgeld, Streitwert, Inverkehrbringen
Schlagworte:
Arzneimittelhaftung, Nutzen-Risiko-Abwägung, Impfstoffzulassung, Produkthaftung, Kausalitätsvermutung, Beweislast, Nebenwirkungen
Fundstelle:
BeckRS 2025, 18163
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird auf 90.000,00 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Klägerin macht gegen die Beklagte Ansprüche auf Zahlung von Schmerzensgeld, auf Feststellung der Ersatzpflicht für materielle und immaterielle Schäden im Zusammenhang mit ihrer Covid-19-Schutzimpfung, auf Zahlung einer Geldrente sowie auf Erteilung von Auskunft geltend.
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Die Beklagte ist ein deutsches Biotechnologieunternehmen. Sie entwickelte zur Bekämpfung der im Jahr 2020 ausgebrochenen Covid-19-Pandemie den Impfstoff Comirnaty.
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Nach Prüfung durch die Europäische Arzneimittelagentur (nachfolgend: EMA) ließ die Europäische Kommission den Impfstoff am 21.12.2020 bedingt zu (Anlage K 64). Durch Beschluss der Europäischen Kommission vom 10.10.2022 wurde die Standardzulassung erteilt (Anlage B 12, B 13). Am 28.10.2022 teilte der Ausschuss für Humanarzneimittel bei der EMA (Committee for Medicinal Products for Human Use; nachfolgend CHMP) mit, dass sich während des Zeitraums, auf den sich diese jährliche Verlängerung bezogen hatte, neue Daten ergeben hätten, die jedoch keinen Einfluss auf das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Comirnaty in der zugelassenen Indikation gehabt hätten, und dass das positive Nutzen-Risiko-Verhältnis in der zugelassenen Indikation bestätigt worden sei (Anlage B 14). Die EMA als zentrale Behörde in der EU bestätigte am 30.08.2023 die Sicherheit von Comirnaty, als sie der Europäischen Kommission empfahl, den auf die Covid-19-Subvariante Omikron XBB.1.5 angepassten Comirnaty Impfstoff zuzulassen (Anlage B 9).
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Der CHMP erklärte ausdrücklich, alle verfügbaren Daten zu Comirnaty, einschließlich Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit, geprüft zu haben. Der Impfstoff Comirnaty wurde seit seiner Zulassung in Deutschland und weltweit zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie eingesetzt.
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Die Klägerin erhielt am ...04.2021 die erste, am ...06.2021 die zweite und am ...11.2021 die dritte Schutzimpfung mit dem Impfstoff Comirnaty der Beklagten.
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Die Klägerin behauptet, ursächlich für ihren Impfentschluss sei die „seitens Medien und Regierung stets propagierte Empfehlung“ gewesen „sowie die damals geltenden Reisebeschränkungen. Letztlich ausschlaggebend war jedoch der auf dem Kläger [sic!] lastende Druck zur Impfung aufgrund der Tätigkeit im medizinischen Bereich.“
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Die Klägerin behauptet ferner in der Klageschrift, dass sich unmittelbar nach Verabreichung der Corona-Schutzimpfungen bei ihr „durchaus starke Panikattacken“ eingestellt hätten. Im weiteren Verlauf seien sodann Muskel- und Gelenkschmerzen, Magen-Darm-Probleme, Erschöpfungsgefühle, depressive Verstimmungen, Müdigkeit, Vergesslichkeit, teilweise Sprachstörungen, Schwindelattacken sowie ein die Beine betreffendes Taubheitsgefühl hinzugekommen.
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Im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung in der mündlichen Verhandlung gab die Klägerin darüber hinaus an, nach den ersten beiden Impfungen Fieber und Kopfschmerzen sowie Schwellungen, Rötungen und Gliederschmerzen an der Einstichstelle gehabt zu haben. Nach der dritten Impfung habe sie nicht mehr essen, schlafen, trinken oder atmen können, sie habe ihre Beine nicht mehr gespürt, sehr starke Schmerzen, insbesondere Kopfschmerzen und Herzrasen gehabt. An Heiligabend 2021 habe sie eigentlich in den Urlaub fliegen wollen, aufgrund Herzrasens und einer Panikattacke aber stattdessen nach ... ins Krankenhaus gehen müssen. Sie habe dann starke Schmerzmittel, insbesondere auch Tilidin, nehmen müssen und sei im Jahr 2024 mit Schlaganfallsymptomen ins Krankenhaus gebracht worden, weil sie ihre rechte Körperseite nicht mehr gespürt habe. Sie könne derzeit nicht mehr arbeiten, nicht mehr spazieren gehen, nicht mehr fliegen und sich nicht in geschlossenen Räumen aufhalten. Ihr sei gesagt worden, dass mit einer Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit nicht gerechnet werden könne.
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Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die von der Klagepartei vorgelegten medizinischen Unterlagen, insbesondere die Anlage K3 bis K 11 sowie das als Anlage zum Schriftsatz der Klagepartei vom 06.05.2025 angehängte Privatgutachten ergänzend Bezug genommen.
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Die Klägerin behauptet ferner, vor den Impfungen mit dem Impfstoff der Beklagten bis auf eine vorbestehende Schilddrüsenunterfunktion völlig gesund gewesen zu sein.
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Die Klägerin vertritt die Ansicht, ein Anspruch bestehe aus § 84 Abs. 1 AMG. Der Impfstoff der Beklagten sei generell schadensgeeignet. Für die Kausalität im Einzelfall greife die Vermutung nach § 84 Abs. 2 Satz 1 AMG. Der Impfstoff Comirnaty weise auch kein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis auf.
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Zudem sei es zu keiner den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft entsprechenden Kennzeichnung, Fachinformation und Gebrauchsinformation gekommen. Die Schäden der Klägerin seien auch wegen dieser fehlerhaften Instruktionen eingetreten. Denn wäre die Klägerin über die vorstehend dargelegten Mängel der Herstellung und Entwicklung informiert gewesen und hätte den potenziellen Schadensumfang und die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts gekannt, hätte sie sich nicht impfen lassen.
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Die Klägerin beantragt zuletzt,
- 1.
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Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, jedoch 80.000 € nicht unterschreiten soll, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
- 2.
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Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche materiellen und immateriellen künftigen Schäden zu ersetzen, die aus der Impfung mit dem Impfstoff Comirnaty am ... 04.2021, ... 06.2021 und ... 11.2021 entstehen, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergehen.
- 3.
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Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin eine monatliche Geldrente, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, bis zur Vollendung des Renteneintrittsalters zu zahlen.
- 4.
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Die Beklagte wird verurteilt, Auskunft zu erteilen über die im Zeitraum vom 27.12.2020 bis zur mündlichen Verhandlung bei der Beklagten bekannten Wirkungen, Nebenwirkungen und Wechselwirkungen sowie ihr bekannt gewordene Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Wechselwirkungen und sämtliche weiteren Erkenntnisse, die für die Bewertung der Vertretbarkeit schädlicher Wirkungen des Impfstoffs Comirnaty von Bedeutung sein können, soweit diese Panikattacken, Muskel- und Gelenkschmerzen, Magen-Darm-Problemen, Erschöpfungsgefühlen, depressiven Verstimmungen, Müdigkeit, Vergesslichkeit, teilweisen Sprachstörungen, Schwindelattacken sowie einem die Beine betreffenden Taubheitsgefühl betreffen.
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Die Beklagte beantragt,
Die Klage wird abgewiesen.
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Die Beklagte bestreitet den vorgetragenen Gesundheitszustand vor der Impfung und die vorgetragenen Beeinträchtigungen seit der Impfung mit dem Impfstoff der Beklagten. Der Vortrag der Klägerin zu ihrem gesundheitlichen Zustand vor und nach der Impfung sei zudem schon nicht hinreichend substantiiert und genüge nicht der erweiterten Darlegungslast in Arzneimittelhaftungsverfahren. Es fehle an Vortrag zu Grund- und Parallelerkrankungen, Risikofaktoren sowie zur Einnahme anderer Arzneimittel. Es seien nicht sämtliche Krankenunterlagen vorgelegt. Darüber hinaus bestreitet die Beklagte, dass die von der Klägerin geschilderten Symptome nach den jeweiligen Impfungen aufgetreten seien. Die Klägerin könne sich auch nicht auf eine Kausalitätsvermutung berufen, dass sie eine Vielzahl relevanter Vorerkrankungen nicht dargelegt habe, wie etwa ein Lumbalsyndrom, eine Migräne, einen Verdacht auf Lagerungsschwindel, eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus und eine vorbestehende Agoraphobie. Etliche der von der Klägerin vorgelegten Arztberichte datierten darüber hinaus aus Zeiträumen zwischen anderthalb und zwei Jahren nach der dritten Impfung und seien aus diesem Grund ungeeignet, einen Kausalzusammenhang zwischen der letzten Impfung und den vorgetragenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu belegen.
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Darüber hinaus sei weder nachgewiesen, noch naheliegend, dass der Impfstoff Comirnaty generell schadensgeeignet sei.
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Der Impfstoff Comirnaty weise zudem ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis auf. Es habe eine sorgfältige Prüfung aller verfügbaren Studiendaten und aller sonstigen relevanten Informationen durch die EMA und die Europäische Kommission stattgefunden. Der Nutzen des Impfstoffs überwiege die möglichen Risiken deutlich. Seit Inverkehrbringen werde der Impfstoff ständig auf Sicherheit und Nebenwirkungen überwacht. Während der vorläufigen Zulassung seien keine Daten zu Tage getreten, die Einfluss auf das Nutzen-Risiko-Verhältnis haben könnten. Die Zulassung stelle einen Verwaltungsakt dar, welcher im Zivilprozess Tatbestandswirkung entfalte und somit einer Überprüfung durch die Zivilgerichte entzogen sei.
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Auch hätten die Fach- und Gebrauchsinformationen jederzeit dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprochen. Die Texte seien mit der jeweiligen Zulassungsbehörde abgestimmt gewesen.
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Daher bestünde kein Anspruch der Klägerin auf Schadensersatz und die begehrte Feststellung. Ein Auskunftsanspruch bestehe ebenfalls nicht. Dieser Anspruch diene der Vorbereitung eines Schadensersatzanspruchs nach § 84 Abs. 1 AMG. Vorliegend sei die Auskunft jedoch überflüssig, da ein Anspruch nach § 84 Abs. 1 AMG unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt gegeben sei.
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In der mündlichen Verhandlung vom 08.05.2025 scheiterte der Versuch einer gütlichen Einigung. Die Klägerin wurde informatorisch zum Sachverhalt angehört; auf die gefertigte Niederschrift wird hinsichtlich der Einzelheiten ergänzend Bezug genommen.
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Zur Ergänzung des Tatbestands und hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie das Sitzungsprotokoll ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist unbegründet.
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Die Klage ist zulässig.
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Das Landgericht Augsburg ist gemäß § 94a Abs. 1 AMG sowie § 32 ZPO örtlich und gemäß §§ 71 Abs. 1, 23 Nr. 1 GVG sachlich zuständig.
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Ferner besteht ein Feststellungsinteresse hinsichtlich der begehrten Feststellung (Klageantrag Ziff. 2), § 256 Abs. 1 ZPO.
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Ein Interesse an der Feststellung einer Ersatzpflicht für künftige Schadensfolgen aus einer bereits eingetretenen Verletzung eines absoluten Rechts oder eines vergleichbaren Rechtsguts ist zu bejahen, wenn die Möglichkeit besteht, dass solche Schäden eintreten. Dabei ist ein großzügiger Maßstab anzulegen. Das berechtigte Interesse ist nur dann zu verneinen, wenn aus Sicht der Klagepartei bei verständiger Würdigung kein Grund besteht, mit dem Eintritt eines Schadens wenigstens zu rechnen (BGH, Beschluss vom 09.01.2007 – ZR 133/06).
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Nach diesen Maßstäben ist vorliegend das Feststellungsinteresse zu bejahen, da der Eintritt weiterer Schäden aus Sicht der Klägerin im Bereich des Möglichen liegt.
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Die Klage ist jedoch insgesamt unbegründet.
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Die Klägerin hat unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt einen Anspruch auf Schmerzensgeld, Geldrente, sowie weitergehende Feststellung und Auskunft gegen die Beklagte.
Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld
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1. Die Klägerin hat keinen Anspruch nach § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AMG.
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Nach § 84 Abs. 1 S. 1 AMG ist ein pharmazeutischer Unternehmer, der ein Arzneimittel in den Verkehr gebracht hat, dem Betroffenen zum Schadensersatz verpflichtet, wenn dieser infolge der Anwendung des Arzneimittels nicht nur unerheblich in seiner Gesundheit verletzt wird und nach S. 2 Nr. 1 das Arzneimittel bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen, oder nach Nr. 2 der Schaden infolge einer nicht den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft entsprechenden Kennzeichnung, Fachinformation oder Gebrauchsinformation eingetreten ist.
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a. Der Anspruch der Klägerin nach § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AMG scheitert vorliegend schon daran, dass der Impfstoff Comirnaty der Beklagten kein unvertretbares Nutzen-Risiko-Verhältnis aufweist.
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Die Haftung besteht nur dann, wenn das Arzneimittel bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen. Die medizinische Vertretbarkeit in diesem Sinne ist gegeben, wenn der therapeutische Wert die schädlichen Wirkungen des Arzneimittels überwiegt. Bei der Prüfung der Unvertretbarkeit der schädlichen Wirkungen werden nicht nur die im konkreten Fall eingetretenen Schäden berücksichtigt, sondern es wird eine abstrakte Risiko-Nutzen-Abwägung vorgenommen, bei der sämtliche schädlichen Wirkungen erfasst werden (BeckOGK/Franzki, 01.11.2024, AMG § 84 Rn. 83).
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Damit trägt die Vorschrift dem Umstand Rechnung, dass es sich bei Arzneimitteln um Produkte handelt, die unvermeidbar neben ihren therapeutischen Wirkungen auch Risiken mit sich bringen (Kügel/Müller/Hofmann/Brock, 3. Aufl. 2022, AMG § 84 Rn. 68).
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Die vorgenannten Maßstäbe zugrunde gelegt, ist das Nutzen-Risiko-Verhältnis für den Impfstoff der Beklagten im maßgeblichen Zeitpunkt als positiv zu bewerten (so auch OLG Koblenz, Urteil vom 10.07.2024 – 5 U 1375/23; OLG München, Verfügung vom 12.12.2024, 14 U 3100/24e; OLG München, Hinweisbeschluss vom 05.11.2024 – 14 U 2313/24e).
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Maßgeblicher Zeitpunkt ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, wobei für den Zeitpunkt der Rückprojektion der Zeitpunkt der Anwendung des Arzneimittels heranzuziehen ist.
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(1.) Zu dieser Bewertung gelangt man bereits aufgrund der Tatbestandswirkung des Beschlusses vom 21.12.2020 über die bedingte (außerordentliche) Zulassung des Impfstoffs und des, diesen bestätigenden Durchführungsbeschlusses der Europäischen Kommission vom 10.10.2022 zur unbedingten Zulassung des Impfstoffs (Anlage B 12) (so u.a. auch OLG München, Verfügung vom 12.12.2024, 14 U 3100/24e; OLG München, Hinweisbeschluss vom 05.11.2024 – 14 U 2313/24e).
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(a.) Im Unionsrecht gilt der Grundsatz der Vermutung der Rechtmäßigkeit von Gemeinschaftsakten. Dieser Grundsatz besagt, dass die Rechtsakte einer europäischen Behörde – hier der Europäischen Kommission – Rechtswirkungen entfalten, solange sie nicht zurückgenommen, im Rahmen einer Nichtigkeitsklage für nichtig erklärt oder infolge eines Vorabentscheidungsersuchens oder einer Rechtswidrigkeitseinrede für ungültig erklärt worden sind (EuGH, Urteil vom 12.02.2008 – C-199/06, juris, Rn. 60). Dieser Grundsatz betrifft die Rechtsbeständigkeit von Gemeinschaftsakten und enthält – ähnlich wie die §§ 43 Abs. 1, 44 Abs. 1 VwVfG im nationalen Recht – das Prinzip der Rechtswirksamkeit auch fehlerhafter Gemeinschaftsakte. Er gestattet es insbesondere anderen europäischen und nationalen Behörden sowie Gerichten in nachfolgenden Verfahren von der Tatbestandswirkung dieses europäischen Rechtsakts auszugehen, das heißt in nachfolgenden Verfahren bei der Rechtsprüfung das tatbestandliche Vorliegen einer rechtswirksamen Zulassung festzustellen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 07.07.2022 – 1 WB 2/22, BVerwGE 176, 138-211, Rn. 205 – 206).
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Mit der Feststellung der rechtswirksamen Zulassung wird inzident das Vorliegen eines positiven Nutzen-Risiko-Verhältnisses festgestellt, da ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis Tatbestandsvoraussetzung der Zulassung eines Arzneimittels ist, gleichgültig, ob auf nationaler oder europäischer Ebene.
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Bereits eine bedingte (außerordentliche) Zulassung, die für den streitgegenständlichen Impfstoff am 21.12.2020 erteilt worden war, darf nach Art. 14-a Abs. 3 Verordnung (EG) 726/2004 und nach Art. 4 Abs. 1 Satz 1 lit. a) Verordnung (EG) 507/2006 nur erfolgen, „wenn das Nutzen-Risiko-Verhältnis des Arzneimittels positiv ist“.
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Mit der bedingten Zulassung werden dem Arzneimittelhersteller gemäß Art. 14-a Abs. 4 Verordnung (EG) 726/2004 „besondere Verpflichtungen“ auferlegt, die nach Abs. 5 darin bestehen, „laufende Studien abzuschließen oder neue Studien einzuleiten, um das positive Nutzen-Risiko-Verhältnis zu bestätigen.“
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Das Vorliegen eines positiven Nutzen-Risiko-Verhältnisses ist nach § 14-a Abs. 8 Verordnung (EG) 726/2004 erneut nachzuweisen, um eine ordentliche, fünf Jahre gültige Zulassung zu erhalten.
43
In der Folgezeit wurde der Impfstoff von den europäischen Behörden dann fortlaufend geprüft. Der Ausschuss für Humanarzneimittel der EMA (CHMP) empfahl am 16.09.2022 auf Grundlage der fortlaufenden Prüfungen, die bedingte Zulassung in eine Standardzulassung umzuwandeln. Diese Empfehlung wurde sodann mit Durchführungsbeschluss der Europäischen Kommission vom 10.10.2022 umgesetzt.
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In Erwägungsgrund Nr. 2 des Durchführungsbeschlusses für die unbedingte Zulassung des streitgegenständlichen Impfstoffs vom 10.10.2022 wurde von der EU-Kommission festgestellt, dass die Beklagte die ihr im Rahmen der bedingten Zulassung gemäß Art. 14-a Abs. 4 Verordnung (EG) 726/2004 auferlegten besonderen Verpflichtungen erfüllt hat.
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Auch diese Einschätzung aus dem Jahr 2022 wurde durch die EMA fortlaufend neu geprüft, was im Herbst 2023 sodann dazu führte, dass auch ein auf eine neue Subvariante des Coronavirus angepasster Impfstoff der Beklagten die Zulassung erhielt. Auch hierbei war die Feststellung eines positiven Nutzen-Risiko-Profils Zulassungsvoraussetzung und wurde im Vorfeld der Entscheidung der Europäischen Kommission in einer Stellungnahme der EMA (CHMP) erneut unter Verweis auf die vielfältigen verfügbaren Daten bejaht. Auch die Ständige Impfkommission in Deutschland empfahl den streitgegenständlichen Impfstoff ab 2021 und erneuerte ihre Empfehlung regelmäßig.
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Die Prüfung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses war mithin wesentliche Voraussetzung sowohl für die bedingte Zulassung des Impfstoffs als auch für die Erteilung der unbedingten Zulassung, so dass mit der Zulassungsentscheidung zugleich das positive Nutzen-Risiko-Verhältnis mit Bindungswirkung auch für die Zivilgerichte festgestellt wurde (zum Umfang der Tatbestandswirkung vgl. auch BGH, Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245-280, Rn. 12)
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Die am 10.10.2022 erteilte unbedingte Zulassung ist bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weder geändert noch ausgesetzt oder widerrufen worden (Art. 20a Verordnung (EG) 726/2004) und auch die Verwendung des Impfstoffs ist nicht durch die Kommission ausgesetzt worden (Art. 20 Abs. 4 Verordnung (EG) 726/2004). Die EMA bestätigte vielmehr am 30.08.2023 die Sicherheit von Comirnaty, als sie der Europäischen Kommission empfahl, den auf die Covid-19-Subvariante Omikron XBB.1.5 angepassten Comirnaty Impfstoff zuzulassen (Anlage B 9), so dass die Bindungswirkung unverändert fortbesteht.
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(b.) Diese Bindungswirkung von Zulassungsentscheidungen ist im Zivilprozess auch nur in Frage zu stellen, wenn substantiiert dargelegt wird, welche der Beklagten damals bereits bekannten Umstände bei der Zulassungsentscheidung nicht berücksichtigt worden sein sollen, bei deren Berücksichtigung eine andere Zulassungsentscheidung gerechtfertigt gewesen wäre, oder aber, wenn dargelegt wird, dass nach der Zulassung Nebenwirkungen des Impfstoffs bekannt geworden sind, deren Kenntnis im Zeitpunkt der Zulassung einer Zulassung entgegen gestanden hätten (so auch OLG Bamberg, Beschluss vom 14.08.2023 – 4 U 15/23 e, juris, Rn. 15; vgl. auch BGH, Urteil vom 12.05.2015 – ZR 328/11, BGHZ 205, 270-287, Rn. 28), oder aber, wenn im Einzelnen begründet wird, dass ein Ermessensfehler bei der Nutzen-Risiko-Abwägung vorliegt, d.h. das Ermessen nicht ausgeübt oder überschritten wurde oder das Ermessen wider die gesetzlichen Bestimmungen ausgeübt wurde oder ein Verstoß gegen Denkgesetze und anerkannte Erfahrungssätze vorliegt.
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Dies ist vorliegend nicht der Fall.
50
Es liegen keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass der EMA nicht alle erforderlichen Daten und Informationen erteilt wurden, um das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Comirnaty zutreffend zu bewerten. Diesbezüglich führte die EMA zuletzt am 30.08.2023 aus, dass bei der Entscheidung, der Europäischen Kommission, die Zulassung zu empfehlen, das CHMP alle verfügbaren Daten zu Comirnaty und seinen anderen adaptierten Impfstoffen, einschließlich Daten zur Sicherheit, Wirksamkeit und Immunogenität (also die Fähigkeit, Immunreaktionen auszulösen) berücksichtigt habe.
51
Die Klägerin hat auch nicht substantiiert dargelegt, dass neue Erkenntnisse aufgetreten sind, bei deren Berücksichtigung eine andere Zulassungsentscheidung veranlasst gewesen wäre. Durch die am 31.08.2023 erfolgte Zulassung des auf die COVID-19-Subvariante Omikron XBB.1.5 angepassten Impfstoffs der Beklagten durch die Europäische Kommission wurde das Nutzen-Risiko-Verhältnis erneut bestätigt. Über die Empfehlung des CHMP zur Zulassung berichtet die EMA in ihrer Meldung vom 30.08.2023 (Anlage B 9). Ausgehend von diesen Feststellungen der europäischen Behörden wäre nur dann eine neue Begutachtung der, der Beurteilung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses zugrundeliegenden Sachfragen geboten, wenn die Klägerin dargelegt hätte, dass nach der Zulassungsentscheidung vom 31.08.2023 neue Erkenntnisse aufgetreten sind, bei deren Berücksichtigung eine andere Zulassungsentscheidung veranlasst gewesen wäre (vgl. OLG Bamberg v. 14.08.2023 – 4 U 15/23; LG Saarbrücken, Urteil vom 01.12.2023, Az. 16 O 33/23). Insbesondere hat die Klägerin keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass die europäischen Behörden bei ihren fortlaufenden Prüfungen Tatsachen unbeachtet gelassen hätten, die bei ihrer Beachtung zu einem abweichenden Ergebnis geführt hätten. Vor dem Hintergrund der laufenden Überwachung, der Erteilung der Standardzulassung sowie der Zulassung für den adaptierten Impfstoff kommt es auch auf das Vorbringen der Klägerin dazu, dass vor der Erteilung der bedingten Zulassung nicht die erforderlichen Studien durchgeführt worden seien, nicht an (LG Frankfurt a. M., Urteil vom 14.02.2024 – 2-12 O 264/22).
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Es wurde auch kein Ermessensfehler dargelegt.
53
Die Klägerin hat nicht ausreichend dargelegt, aus welchen Gründen die von der Europäischen Arzneimittelagentur bzw. der Europäischen Kommission auf der Grundlage der verfügbaren medizinischen Forschungslage und Studienergebnisse getroffene Bewertung nicht den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft entsprechen soll. Maßgeblich sind insofern die allgemein anerkannten Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft und nicht etwaige hiervon abweichende Einzelstimmen, auf die sich die Klägerin im vorliegenden Verfahren stützt. Die Ausführungen der EMA bzw. des CHMP erschöpfen sich nicht in bloßen Feststellungen ohne Tatsachenanknüpfungen, sondern gehen offenkundig in die Tiefe und setzen sich mit den Studienverläufen und den daraus gewonnenen Daten ausführlich auseinander.
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Ein negatives Nutzen-Risiko-Verhältnis ist nicht, wie die Klägerin meint, deshalb anzunehmen, weil keine verlässlichen Daten vorlägen, da eine Vielzahl an Aspekten nicht geprüft worden seien und es an Langzeitstudien fehle, welche etwa die langfristige Wirksamkeit des Impfstoffs untersuchten.
55
Dies war bekannt und ist in die Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses durch die Ausschüsse eingeflossen. Das ergibt sich aus dem Bewertungsbericht des CHMP vom 15.09.2022 (Anlage B 14) indirekt daraus, dass die Beurteilung für die unbedingte Zulassung nur rund 21 Monate nach der Erteilung der außerordentlichen (bedingten) Zulassung erfolgte. Das Fehlen von Langzeitstudien ist der bedingten Zulassung eines Arzneimittels nach Art. 14-a Abs. 1 Verordnung 726/2004 zudem immanent, regelt die Norm doch, dass „in hinreichend begründeten Fällen (…) zur Schließung medizinischer Versorgungslücken für Arzneimittel, die zur Behandlung, Vorbeugung oder ärztlichen Diagnose von zu schwerer Invalidität führenden oder lebensbedrohenden Krankheiten bestimmt sind, eine Zulassung erteilt werden [kann], ehe umfassende klinische Daten vorliegen, sofern der Nutzen der sofortigen Verfügbarkeit des betreffenden Arzneimittels auf dem Markt das Risiko überwiegt, das sich daraus ergibt, dass nach wie vor zusätzliche Daten erforderlich sind.“ In Satz 2 heißt es weiter: „In Krisensituationen kann eine Zulassung solcher Arzneimittel erteilt werden, selbst wenn noch keine vollständigen vorklinischen oder pharmazeutischen Daten vorgelegt wurden.“ Ergänzt wird diese Regelung durch Absatz 3, wonach Zulassungen nach Art. 14-a nur erteilt werden dürfen, wenn „das Nutzen-Risiko-Verhältnis positiv ist und der Antragsteller aller Wahrscheinlichkeit nach in der Lage ist, umfassende Daten bereitzustellen.“ Die von der Beklagten vorgelegten Daten aus klinischen und nicht-klinischen Studien waren für den CHMP und die EMA offensichtlich bereits zur Erfüllung der dargelegten Zulassungsvoraussetzungen für die bedingte Zulassung ausreichend, ebenso wie die Studiendaten zu den Speziellen Verpflichtungen nach der bedingten Zulassung des Impfstoffs für den CHMP hinreichend aussagekräftig waren, um den Nutzen des Impfstoffs im Verhältnis zu den bis dahin erkennbaren Nebenwirkungen einzuschätzen.
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Zudem hat die Beklagte auch nach Erteilung der unbedingten Zulassung nach Art. 14 Verordnung 726/2004 zahlreiche Verpflichtungen betreffend die Pharmakovigilanz zu erfüllen. Die nach Art. 14-a Abs. 8, Art. 14 Abs. 2 und 3 Verordnung 726/2004 auf fünf Jahre erteilte Genehmigung für das Inverkehrbringen kann etwa nur „auf der Grundlage einer von der Agentur vorgenommenen Neubeurteilung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses verlängert werden“, Art. 14 Abs. 2 Satz 1 Verordnung 726/2004. Weiter wird der Beklagten durch Art. 14 Abs. 2 Satz 2 Verordnung 726/2004 aufgegeben: „Zu diesem Zweck legt der Inhaber der Genehmigung für das Inverkehrbringen der Agentur spätestens neun Monate vor Ablauf der nach Absatz 1 vorgesehenen Gültigkeitsdauer der Genehmigung eine konsolidierte Fassung der Unterlagen in Bezug auf die Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit vor; darin sind Bewertungen von Daten aus den gemäß Kapitel 3 vorgelegten Berichten über vermutete Nebenwirkungen und den regelmäßigen aktualisierten Unbedenklichkeitsberichten sowie Informationen über alle seit der Erteilung der Genehmigung für das Inverkehrbringen vorgenommenen Änderungen enthalten.“ Damit geht der Vorwurf der Klagepartei, der Impfstoff unterliege einer zu kurzen Nachbeobachtungszeit, an der gesetzlichen Wirklichkeit vorbei.
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Der Einwand, die zugrunde gelegten, klinischen Studien seien nicht aussagekräftig, verfängt ebenfalls nicht. Da die Studien in dem Bewertungsbericht nicht in allen Einzelheiten wiedergegeben sind, sondern in dem Bewertungsbericht für die Verlängerung der Marktzulassung zwangsläufig nur eine Zusammenfassung der zahlreichen einzelnen Studien enthalten sein kann, vermögen die einzelnen Zitate in dem Bericht keine Auskunft über die Aussagekraft der Studien insgesamt zu geben. Wegen der zusammenfassenden Wiedergabe der Studien greift der von der Klagepartei in zahlreichen Facetten erhobene Einwand der intransparenten Datenerhebung und -wiedergabe ebenso wenig durch wie die – ersichtlich – ins Blaue hinein erfolgten Behauptungen, für die klinischen Studien sei keine für die Bevölkerung repräsentative Teilnehmerauswahl erfolgt, die Studien seien nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden, es sei „entgegen den Prinzipien evidenzbasierter Medizin ein klinisch nur wenig relevanter primärer Endpunkt gewählt“ worden und es fehlten Daten zu „den Impfeffekten in einzelnen Alters- und Risikogruppen“. Das Gleiche gilt für die von der Klagepartei gezogene Schlussfolgerung aus den berichteten Medikationsfehlern. Dass zudem die Studien nicht beendet wurden und der Beobachtungszeitraum nach Ansicht der Klagepartei zu kurz gewesen ist, spielt ebenfalls keine Rolle, wenn – wie offensichtlich hier – die bis zum Berichtszeitpunkt des Bewertungsberichts des CHMP vom 15.09.2022 (Anlage B 14) gewonnenen Erkenntnisse für die Bewertung durch den Ausschuss ausreichend sind und die Voraussetzungen des Art. 14-a Verordnung 726/2004 erfüllt werden.
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Schließlich spricht der Umstand, dass der aus 27 Mitgliedern – einem aus jedem Mitgliedsstaat der EU – bestehende Ausschuss für Humanarzneimittel (§ 61 Abs. 1 Verordnung (EG) 726/2004) zu einem offensichtlich einstimmigen Ergebnis hinsichtlich der Nutzen-Risiko-Abwägung gekommen ist, dafür, dass kein einziges Ausschussmitglied so erhebliche Bedenken gegen den Umfang der Daten, die Aussagekraft der Studien oder die Bewertbarkeit bzw. Verwertbarkeit der Ergebnisse hatte, dass in dem Gutachten ein begründetes Sondervotum aufgenommen werden musste (§ 61 Abs. 7 Satz 2 Verordnung (EG) 726/2004).
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Demnach besteht kein Anlass, an den immer wieder bestätigten Feststellungen der zuständigen europäischen Behörden zu zweifeln, die von einem fortwährenden positiven Nutzen-Risiko-Verhältnis des Impfstoffs ausgingen und nach wie vor ausgehen.
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Soweit die Klägerin die Unabhängigkeit der beteiligten Stellen anzweifelt, handelt es sich um durch keinerlei Tatsachenvortrag belegte Spekulation. Es erschließt sich nicht, welchem politischen Druck die EMA in Bezug auf ihre Empfehlungen an die Europäische Kommission unterliegen soll, wenn sie im Hinblick auf die beantragte Zulassung eines Arzneimittels eine Empfehlung ausspricht; diese kann für oder gegen die europaweite Zulassung des Arzneimittels ausfallen. Zudem vernachlässigt die Argumentation den Umstand, dass die EMA mit ihren Gremien pluralistisch besetzt ist und durch ganz unterschiedliche Herkünfte der Sachverständigen geprägt wird.
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Eine stringente „Führung“ der EMA durch die EU-Kommission ist deshalb ebenso wenig ersichtlich wie eine Bindung der EMA an deren politische Vorgaben.
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Eine Einflussnahme der Europäischen Kommission auf entsprechende „positive“ Stellungnahmen erscheint vor dem Hintergrund der Übernahme der vollen Haftung für den Impfstoff gegenüber dem Hersteller unplausibel.
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(2.) Darüber hinaus ist auch auf Grundlage der Bewertung der Expertengremien von einem positiven Nutzen-Risiko-Verhältnis des streitgegenständlichen Impfstoffs nach den von den Parteien vorgetragenen Tatsachen zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung projiziert auf den Zeitpunkt der Impfung auszugehen (s. auch OLG München, Verfügung vom 12.12.2024 – 14 U 3100/24e).
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Dass die Impfung – jedenfalls bezogen auf die Allgemeinheit – vor einem besonders schweren Verlauf der Krankheit schützt, entspricht allgemeiner Auffassung. Der Nutzen wurde und wird nicht (ausschließlich) in der Verhinderung einer Reaktion auf das Virus gesehen, sondern in der nachhaltigen Abmilderung dieser Reaktion. Bei geringer Infektionsintensität vermeidet der Impfstoff so äußerlich die Infektion und bei einer schweren Infektion verhindert und mildert er schwere Verläufe bis hin zum Tod.
65
(a.) Aus der dem Durchführungsbeschluss der EU-Kommission vom 10.10.2022 zugrundeliegenden Empfehlung des Ausschusses für Humanarzneimittel, CHMP, vom 15.09.2022 (Anlage B 14) geht hervor, dass der Beklagten seit der bedingten Marktzulassung des streitgegenständlichen Impfstoffs am 21.12.2020 verschiedene „Spezifische Verpflichtungen“ (kurz: „SV“) auferlegt worden waren (vgl. Art. 14-a Abs. 4 Verordnung (EG) 726/2004). Diese werden in dem Bericht des CHMP ausführlich dargestellt. Der Ausschuss hält dazu fest, dass zu sämtlichen Spezifischen Verpflichtungen neue Daten fristgerecht und als annehmbar zur Erfüllung der Verpflichtungen vorgelegt worden seien. Die allgemeine Schlussfolgerung zu den Spezifischen Verpflichtungen (Ziffer 2.3 des Berichts) lautet:
„(…) Das klinische Unbedenklichkeitsprofil sowie die Wirksamkeit dieses Produkts werden als umfassend charakterisiert und unterstützen ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis. (…)“
66
Unter Ziffer 6.2 führt der CHMP zum Nutzen-Risiko-Verhältnis aus, dass die neuen Daten keinen Einfluss auf das Nutzen-Risiko-Verhältnis des Impfstoffs in der zugelassenen Indikation hätten, sondern vielmehr das positive Nutzen-Risiko-Verhältnis in der zugelassenen Indikation bestätigten.
67
Weiter steht in dem Bericht: „Unsicherheiten und Einschränkungen in Bezug auf ungünstige Auswirkungen: Die Unsicherheiten und Einschränkungen ungünstiger Auswirkungen wurden bereits in weiteren Verfahren erörtert. Die Hauptunsicherheiten betreffen die langfristigen Auswirkungen und die Auswirkungen bei bestimmten Risikogruppen.
Nutzen-Risiko-Bewertung und Erörterung:
68
Die Vorteile von Comirnaty in Bezug auf den Schutz vor COVID-19 überwiegen eindeutig die ermittelten Risiken, und während dieses Verlängerungszeitraums wurden keine neuen Informationen bekannt, die das Verhältnis verändert hätten. Sämtliche qualitätsbezogenen SV gelten als erfüllt. (…) Bedeutung von günstigen und ungünstigen Auswirkungen: Nicht zutreffend.
Nutzen-Risiko-Verhältnis:
69
Auf der Grundlage des kumulativen Nachweises für günstige und ungünstige Auswirkungen bleibt das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Comirnaty positiv.“
70
Unter Ziffer 7 empfiehlt der CHMP sodann Folgendes:
Auf der Grundlage der Überprüfung der verfügbaren Informationen über den Stand der Erfüllung der spezifischen Verpflichtungen ist das Nutzen-Risiko-Verhältnis für Comirnaty in der zugelassenen Indikation (siehe Zusammenfassung der Produktmerkmale) weiterhin günstig. Da sämtliche spezifischen Verpflichtungen entweder erfüllt oder in Studien der Kategorie 3 des RMP umgestuft wurden, liegen keine Gründe mehr vor, die Marktzulassung an Bedingungen zu knüpfen, und der CHMP empfiehlt daher die Erteilung einer Standardgenehmigung für die Marktzulassung von Comirnaty, die keinen spezifischen Verpflichtungen unterliegt.“
71
Das PEI hat in einer Stellungnahme vom 10.10.2022 (Anlage B12) mitgeteilt, dass der Ausschuss für Humanarzneimittel bei der EMA für den Impfstoff der Beklagten und einen weiteren mRNA-Impfstoff eines anderen Herstellers die Umwandlung der bedingten Zulassung in eine unbedingte Zulassung empfohlen habe. Aus den für beide Impfstoffe bestehenden Verpflichtungen, Ergebnisse aus den laufenden klinischen Prüfungen vorzulegen und zusätzliche Daten über die pharmazeutische Qualität des jeweiligen Impfstoffprodukts im Hinblick auf den geplanten enormen Produktionsanstieg zu liefern, seien umfangreiche Daten gewonnen worden. Zusätzliche Studien, einschließlich unabhängiger, von den EU-Behörden koordinierter Studien, hätten weitere Daten zu wichtigen Aspekten geliefert, z.B. dazu, wie gut die Impfstoffe schwere COVID-19-Erkrankungen verhinderten. Darüber hinaus hätten die Unternehmen alle angeforderten zusätzlichen Daten zur pharmazeutischen Qualität des jeweiligen Impfstoffprodukts vorgelegt. Insgesamt seien seit der Einführung dieser Impfstoffe mit Hunderten von Millionen verabreichten Dosen umfangreiche Daten gewonnen worden. In Anbetracht der Gesamtheit der verfügbaren Daten würden die spezifischen Verpflichtungen nicht mehr als ausschlaggebend für das Nutzen-Risiko-Verhältnis der Impfstoffprodukte angesehen werden. Damit sei der Weg frei für den Übergang von einer bedingten Zulassung zu einer Standardzulassung.
72
Somit gelangen sowohl der Ausschuss für Humanarzneimittel der EMA, CHMP, als auch das PEI auf der Basis aller bis dahin bekannten und gemeldeten Nebenwirkungen und Impfkomplikationen auf sachverständiger Ebene zu dem Ergebnis, dass im Zeitpunkt der Erteilung der Standardzulassung für den streitgegenständlichen Impfstoff am 10.10.2022 das Nutzen-Risiko-Verhältnis positiv war.
73
Durch die am 31.08.2023 erfolgte Zulassung des auf die COVID-19-Subvariante Omikron XBB.1.5 angepassten Impfstoffs der Beklagten durch die Europäische Kommission wurde das Nutzen-Risiko-Verhältnis erneut bestätigt. Über die Empfehlung des CHMP zur Zulassung berichtet die EMA in ihrer Meldung vom 30.08.2023 (Anlage B 9).
74
Die am 21.12.2020 erteilte bedingte Zulassung ist damit weder geändert noch ausgesetzt oder widerrufen worden (Art. 20a Verordnung (EG) 726/2004), sondern in eine unbedingte Zulassung umgewandelt worden. Auch danach ist die Verwendung des Impfstoffs nicht durch die Kommission ausgesetzt worden (Art. 20 Abs. 4 Verordnung (EG) 726/2004). Die unbedingte Zulassung vom 10.10.2022 ist bis zum heutigen Zeitpunkt ebenfalls weder geändert noch ausgesetzt oder widerrufen worden. Vielmehr hat die Europäische Kommission am 31.08.2023 auch den auf die COVID 19-Subvariante Omikron XBB.1.5. angepassten Corminaty-Impfstoff zugelassen.
75
Die oben genannten Entscheidungen der Europäischen Kommission zur bedingten Zulassung des Impfstoffs am 21.12.2020 und zur unbedingten Zulassung am 10.10.2022 basieren auf Empfehlungen der EMA, die wiederum ein Gutachten zum Nutzen-Risiko-Verhältnis des Impfstoffs eingeholt hat (Art. 14-a Abs. 3, 4 und 8 Verordnung (EG) 726/2004). Die Europäische Arzneimittelagentur hat nach Art. 56 Verordnung (EG) 726/2004 verschiedene Organe. Zu diesen Organen gehören nach Art. 56 Abs. 1 lit. a) der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP), der die Gutachten der Agentur zu Fragen der Beurteilung von Humanarzneimitteln ausarbeitet, sowie nach Art. 56 Abs. 1 lit. a) aa) der Ausschuss für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz (PRAC), der für Empfehlungen an den CHMP und die Koordinierungsgruppe in allen Fragen, die Pharmakovigilanz-Tätigkeiten in Bezug auf Humanarzneimittel sowie Risikomanagement-Systeme betreffen, und für die Überwachung der Effektivität dieser Risikomanagement-Systeme zuständig ist.
76
Der PRAC, also der Ausschuss für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz, setzt sich gemäß Art. 61a der Verordnung (EG) 726/2004 aus Vertretern aus allen Mitgliedstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), wissenschaftlichen Experten, Vertretern der Heilberufe und Vertretern der Patientenorganisationen zusammen. Die Ernennung der Mitglieder und der stellvertretenden Mitglieder des Ausschusses für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz erfolgt gemäß Art. 61a Abs. 3 Satz 1 der Verordnung (EG) 726/2004 „auf der Grundlage ihres einschlägigen Fachwissens in Pharmakovigilanz-Angelegenheiten und in der Risikobeurteilung von Humanarzneimitteln, um höchste fachliche Qualifikationen und ein breites Spektrum an einschlägigem Fachwissen zu gewährleisten.“
77
Im CHMP, dem Ausschuss für Humanarzneimittel, ist gemäß Art. 61 der Verordnung – wie auch im PRAC – jeder Mitgliedsstaat mit einem mit besonderem Fachwissen ausgestatteten Mitglied vertreten. Ferner können sich die Mitglieder des Ausschusses für Humanarzneimittel gemäß Art. 61 Abs. 3 der Verordnung 726/2004 von Sachverständigen aus speziellen Bereichen von Wissenschaft oder Technik begleiten lassen.
78
Das Pendant der EMA auf Bundesebene ist das Paul-Ehrlich-Institut (kurz: PEI; § 77 Abs. 2 AMG). Das PEI ist die in Deutschland federführend zuständige Behörde im Zusammenhang mit der Entwicklung, Zulassung, Bewertung und Überwachung der Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit von Impfstoffen. Ihm obliegt insbesondere die Erfassung und Auswertung von impfinduzierten Risiken und die Koordination gegebenenfalls zu ergreifender Maßnahmen. Daneben ist das PEI eine Forschungseinrichtung, um die Expertise zur Impfstoffbeurteilung einschließlich der Beurteilung von individuell auftretenden unerwünschten Impfreaktionen zu bündeln. Geforscht wird unter anderem auf den Gebieten der Immunologie, der Virologie und der Bakteriologie. Aufgrund dieser herausgehobenen Stellung ist das PEI weltweit vernetzt und berät nationale, europäische und internationale Gremien im Zusammenhang mit Impfstoffen (BVerwG, Beschluss vom 07.07.2022 – 1 WB 2/22, BVerwGE 176, 138-211, Rn. 92; vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.04.2022 – 1 BvR 2649/21, juris, Rn. 138).
79
Bei den genannten Institutionen und deren Arbeitsebenen handelt es sich mithin nicht um politische Gremien. Ihre Empfehlungen und Entscheidungen orientieren sich nicht an politischen Interessen, auch wenn Grundlage der Einrichtung der Europäischen Arzneimittelagentur und ihrer Organe selbstverständlich eine politische Entscheidung war – auf anderem Wege ließe sich jedoch eine in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union anerkannte und handlungsfähige Institution wie die EMA nicht einrichten. Dennoch handelt es sich bei den Organen der EMA und dem PEI um medizinisch-pharmazeutische und damit wissenschaftliche Fachgremien, nicht um im eigentlichen Sinne des Wortes politische Gremien.
80
Die Einschätzungen zur Arzneimittelsicherheit des CHMP, des PRAC und des PEI stehen also einer sachverständigen Begutachtung gleich, da bereits die gesetzlichen Vorgaben für deren Besetzung sie als sachverständige Stellen qualifizieren. Die Institutionen vereinen die widerstreitenden wissenschaftlichen Erfahrungen, Erkenntnisse, Sichtweisen und Hypothesen in sich und lassen diese in eine umfassende Nutzen-Risiko-Bewertung einfließen.
81
Die Bewertung der Experten von CHMP und PRAC und PEI, die selbst nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, bildet das größtmögliche Fachwissen für die hier zu entscheidende Frage des Nutzen-Risiko-Verhältnisses des streitgegenständlichen Impfstoffs ab. Sie vermögen daher u.a. dem Senat des OLG Koblenz und des OLG München und auch dem hiesigen Gericht die notwendige Fachkenntnis zu vermitteln, um die Frage des Nutzen-Risiko-Verhältnisses des Impfstoffs der Beklagten zu beurteilen (so im Ergebnis auch BVerwG, Beschluss vom 07.07.2022 – 1 WB 2/22, BVerwGE 176, 138-211). Das hiesige Gericht macht sich die zitierten Erkenntnisse der oben aufgeführten Expertengremien daher als Grundlage seiner Entscheidung zu eigen.
82
Vor dem erläuterten Hintergrund des maximalen Fachwissens in den Expertengremien ist auch nicht zu erwarten, dass die Begutachtung durch einen einzelnen Virologen oder Pharmakologen als Sachverständigen im hiesigen Einzelfall zu anderen Erkenntnissen führen würde. Es wäre lebensfremd anzunehmen, ein einzelner Sachverständiger könnte über weitere Quellen, eine größere Datengrundlage und umfangreicheres Wissen verfügen als die aus jeweils mindestens 27 Personen bestehenden genannten Expertengremien, so dass die von der Klägerin angebotene Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht entscheidungserheblich war. Dass die genannten Expertengremien über die größtmögliche Datengrundlage verfügen, zeigte sich auch in dem vom OLG Koblenz in einem Parallelverfahren (5 U 1139/23) beigezogenen Verfahren vor dem Landgericht Köln (3 O 143/22). Wie sich aus den beigezogenen Unterlagen ergibt, konnte sich der dort beauftragte Sachverständige gleichermaßen nur auf die vorgenannten Quellen (Erkenntnisse von CHMP, PRAC, PEI) beziehen, die auch dem OLG Koblenz zur Verfügung stehen; ihm standen keine weitergehenden Daten oder Informationen zur Verfügung. Die Klägerin trägt auch nicht vor, über welches überlegene Wissen ein einzelner Sachverständiger verfügen könnte. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass sich dessen Bewertung eines positiven oder negativen Nutzen-Risiko-Verhältnisses nicht auf die Klägerin beziehen dürfte, sondern auf die Gesamtheit der potentiellen Patientengruppe innerhalb der Europäischen Union.
83
Die vorzunehmende Abwägung nach § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AMG ist zwar nicht mit der Abwägung zur Zulassungsentscheidung der EU-Kommission identisch. Die durchgängig gleichlautenden Entscheidungen der oben genannten Expertengremien in Bezug auf das positive Nutzen-Risiko-Verhältnis stellen aber ein gewichtiges Indiz im Rahmen der gerichtlichen Entscheidung (§ 25 Abs. 10 AMG) dar, ob eine ermessensfehlerhafte Bewertung auf Europäischer Ebene bei der Zulassungsentscheidung vorlag, wenn man nicht schon von einer Tatbestandswirkung ausgehen will.
84
(b.) Die dargestellte Historie des Impfstoffs von seiner erstmaligen bedingten Zulassung bis zur Erteilung der Standardzulassung in der EU sowie der Zulassung des Impfstoffs für eine Virusvariante, die – auf ständig ergänzter Datengrundlage – jeweils nicht geändert, aufgehoben oder widerrufen wurde, lässt auch den Schluss zu, dass die nach der bedingten Zulassung bekannt gewordenen Fälle von Nebenwirkungen, wie z.B. Herzmuskel- oder Herzbeutelentzündung, Gesichtslähmung, allergische Sofortreaktionen (Anaphylaxie) oder möglicherweise zum Tod führende Lungenentzündungen an der positiven Nutzen-Risiko-Abwägung der Expertengruppen nichts geändert haben.
85
(c.) Relevante medizinische Anhaltspunkte, die von den genannten Expertengruppen vor der Empfehlung für die Zulassung nicht berücksichtigt worden sein sollen und die gegen ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis sprechen könnten, oder solche, die nach der Zulassung bekannt geworden sind und eine andere Zulassungsentscheidung begründet hätten, wären sie schon zu diesem Zeitpunkt bekannt gewesen, werden von der Klägerin nicht substantiiert vorgetragen und sind auch sonst nicht ersichtlich.
86
Ergänzend zu den obigen Ausführungen vermag die Klägerin den überwiegenden Nutzen auch nicht durch die folgenden Einwände in Zweifel zu ziehen:
87
Der Einwand des angeblich „nicht vollständigen“ Schutzes (sprich: nicht zu 100%) geimpfter Personen vor einer Infektion mit SARS-CoV-2 oder vor einem schweren Verlauf der Erkrankung COVID-19, vermag den überwiegenden Nutzen nicht in Zweifel zu ziehen. Unabhängig davon, dass die eigenen Ausführungen der Klägerin insoweit widersprüchlich sind, bleibt die Behauptung erfolglos, weil die nicht absolute Wirksamkeit des Impfstoffs vor einer Ansteckung – und dementsprechend auch nicht vor einem schweren Verlauf – bereits vor der bedingten Zulassung durch die EU-Kommission bekannt war und von dieser hingenommen wurde. So wird in dem Bewertungsbericht des CHMP „EMA707383/2020“ in der Korrekturfassung vom 19.02.2021 (Anlage B 32), der sich für die bedingte Zulassung des Impfstoffs unter spezifischen Auflagen aussprach, als „Schlussfolgerung zur klinischen Wirksamkeit“ zunächst ausgeführt, dass eine ausgezeichnete Wirksamkeit des Impfstoffs (Verhinderung von symptomatischem COVID-19) von 95% bei Probanden ohne Hinweise auf eine frühere SARS-CoV2-Infektion nachgewiesen worden sei, was für alle relevanten Untergruppen gleich gewesen sei. Danach wird (unter der Überschrift „Unsicherheiten und Einschränkungen in Bezug auf positive Auswirkungen“) ausführlich erörtert, dass keine verlässliche Aussage über die Wirksamkeit des Impfstoffs gegen schwere Verläufe der Erkrankung an COVID-19 getroffen werden könne, was ebenso gilt für die Frage der Wirksamkeit des Schutzes vor einer asymptomatischen Infektion oder für die Frage der Wirksamkeit gegen die Übertragung von SARS-CoV-2 bei Personen, die nach der Impfung infiziert sind, und auch für den Schutz für immungeschwächte und schwangere Personen sowie die Dauer des Schutzes durch die Impfung. All diese Unwägbarkeiten waren mithin bereits vor Erteilung der bedingten Zulassung des Impfstoffs bekannt, führten dennoch nicht zu der Annahme eines negativen Nutzen-Risiko-Verhältnisses, vielmehr gab der CHMP übereinstimmend die Empfehlung für die bedingte Zulassung des Impfstoffs. Diese Gesichtspunkte können daher nicht im Nachhinein zu einer anderen Entscheidung in Bezug auf das Nutzen-Risiko-Verhältnis führen.
88
In dem späteren Bewertungsbericht des CHMP vom 15.09.2022 (Anlage B14) über die Verlängerung der Marktzulassung ist ausgeführt, dass die „verbleibenden Unsicherheiten“ sich hauptsächlich auf die Anwendung bei immungeschwächten Personen, die langfristige Wirksamkeit und Unbedenklichkeit und z.B. die Wirksamkeit gegen die Übertragung bezögen. Dementsprechend hat der CHMP in dem Bewertungsbericht festgehalten: „Die Vorteile von Comirnaty in Bezug auf den Schutz vor COVID-19 überwiegen eindeutig die ermittelten Risiken, und während dieses Verlängerungszeitraums wurden keine neuen Informationen bekannt, die das Verhältnis verändert hätten. Sämtliche qualitätsbezogenen SV gelten als erfüllt.“.
89
Danach ist der nicht absolute Schutz und die nicht in jedem Aspekt bekannte Wirksamkeit des Impfstoffs in die Abwägung des Nutzens zu den Risiken des Impfstoffs eingeflossen und ist hingenommen worden. Dieser Aspekt kann daher im Nachhinein eine andere Entscheidung nicht rechtfertigen.
90
Unergiebig ist des Weiteren der Versuch der Klägerin, die positive Nutzen-Risiko-Bilanz des Impfstoffs mit der Zahl der gemeldeten Verdachtsfälle von Nebenwirkungen zu begründen, unabhängig davon, welche Quelle die Klägerin für die gemeldeten Verdachtsfälle heranzieht. Allen Quellen ist gemein, dass sie lediglich von Verdachtsfällen berichten und gesicherte Aussagen über die Kausalität der Impfung für die genannten Nebenwirkungen nicht getroffen werden. Bloße Verdachtsfälle sind nicht mit tatsächlichen Nebenwirkungen gleichzusetzen.
91
Zudem wurde der Impfstoff Comirnaty seit seiner Zulassung in Deutschland und weltweit zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie eingesetzt. Bis Juni 2022 wurden weltweit mehr als 2,6 Milliarden Dosen des Impfstoffs verabreicht. Bei einer derart hohen Anzahl an Impfungen binnen eines vergleichsweise kurzen Zeitraums ist denklogisch mit einer höheren Anzahl von Verdachtsfällen in kurzer Zeit zu rechnen als bei einer vergleichbaren Anzahl an Impfungen über einen längeren Zeitraum, wobei zu berücksichtigen ist, dass die 980.105 von der EMA (im Bewertungsbericht über die Verlängerung der Marktzulassung) veröffentlichen Fälle zu Nebenwirkungen im Vergleich zur Gesamtzahl der verabreichten Impfungen von 2,6 Milliarden bereits als sehr gering anzusehen ist (ca. 0,0377%).
92
Abgesehen davon, dass die Behauptung der Klägerin, es würden vor allem die größeren gesundheitlichen Beeinträchtigungen gemeldet, nicht hingegen einfache Beeinträchtigungen wie Kopfschmerzen, nicht zutreffend ist, wie sich aus der dem OLG Koblenz vorgelegten Anlage K48 (vgl. S. 8 ff. der Anlage „Kumulative Analyse der Berichte über unerwünschte Ereignisse nach zu der Zulassung von PF-07302048 (BNT162B2), die bis 28.02.2021 eingegangen sind) und der dem OLG Koblenz vorgelegten Anlage C4 (vgl. S. 5 des Sicherheitsupdates der EMA vom 11.08.2021) ergibt, kommt es hierauf nicht an. Die Behauptung könnte ebenso als wahr unterstellt werden wie die klägerische Behauptung, dass mit der genannten Zahl von 980.105 nicht sämtliche weltweiten Verdachtsfälle aufgeführt sind, weil nur wenige Gesundheitsbeeinträchtigungen bei der EMA gemeldet werden und daher eine große Dunkelziffer besteht. Dies spielt keine Rolle, weil in die Bewertung der Risiken eines Impfstoffs im Verhältnis zu seinem Nutzen allein die den Zulassungsbehörden über eine Meldung bekannt gewordenen Nebenwirkungen einbezogen werden können. Bei der behördlichen Entscheidung über die Zulassung eines Impfstoffs verbietet sich jede Spekulation über lediglich potentielle Nebenwirkungen, deren Schwere und deren Anzahl. Daher kann die von der Klägerin behauptete „Dunkelziffer“ bei unerwünschten Nebenwirkungen bei der Entscheidung über die Zulassung keine Berücksichtigung finden, da anderenfalls einer manipulativen Bewertung Tür und Tor geöffnet wäre. Andererseits sind aber bei der Entscheidung über die Verlängerung der bedingten Zulassung ebenso wie bei der Entscheidung über die unbedingte Zulassung die bis zu dem jeweiligen Zeitpunkt tatsächlich bekannt gewordenen unerwünschten Nebenwirkungen eingeflossen (vgl. etwa S. 16 f. der dem OLG Koblenz vorgelegten Anlage K43).
93
Den überwiegenden Nutzen des streitgegenständlichen Impfstoffs vermag die Klägerin auch nicht damit in Zweifel zu ziehen, dass sie vorträgt, die Beklagte stelle den Impfstoff in zwei unterschiedlichen Verfahren her („process 1“ für die klinische Prüfung ./. „process 2“ für den Markt), die sich darin unterschieden, woher die verwendete DNA stamme, die als Vorlage für die enzymatische In-vitro-Herstellung der mRNA diene. Die Klägerin rügt insofern, die Bevölkerung werde „praktisch ausschließlich“ mit Impfstoff des „process 2“ geimpft, obwohl lediglich der Impfstoff des „process 1“ durch die Europäische Arzneimittelagentur geprüft werde.
94
Der von der Klagepartei im Verfahren des OLG München vorgelegte „Assessment Report“ der EMA vom 19.02.2020 (Anlage im Verfahren des OLG München 14 U 2313/24 e, dort K 42 ganz am Ende) spricht die unterschiedlichen Verfahren offen an und befindet nach einer eingehenderen Analyse insb. der „Quellen“ (Anlage K 41 im o.g. Verfahren des OLG München): Die „Vergleichbarkeit dieser Verfahren“ beruhe „auf dem Nachweis vergleichbarer biologischer, chemischer und physikalischer Eigenschaften des Wirkstoffs und des Endprodukts“. Daraus geht in keiner Weise hervor, dass die beiden unterschiedlichen Herstellungsprozesse Bedenken begegneten.
95
Der Assessment-Report, deutsch „Bewertungsbericht“ besagt: „Es wurde eine Sicherheitsrisikobewertung für potenzielle prozessbedingte Verunreinigungen im Wirkstoffprozess im Hinblick auf die Patientensicherheit durchgeführt. Die Quellen der Verunreinigungen werden ausreichend berücksichtigt. Die Strategie zur Bewertung des Sicherheitsrisikos umfasst den Vergleich der theoretisch ungünstigsten Konzentration von Verunreinigungen – unter der Annahme, dass diese nicht entfernt werden – mit den berechneten Schwellenwerten für Sicherheitsbedenken. Die Worst-Case-Werte der Restrohstoffe und Reagenzien aus dem Herstellungsprozess des BNT162b2-Wirkstoffs wurden so berechnet, dass sie deutlich unter den vorgegebenen Sicherheitsgrenzen liegen. Dies wird als akzeptabel angesehen.“ (s. OLG München, Hinweisbeschluss vom 05.11.2024 – 14 U 2313/24 e).
96
Die Klägerin vermag auch mit der behaupteten Verunreinigung des Impfstoffs mit Fremd-DNA das positive Nutzen-Risiko-Verhältnis nicht in Zweifel zu ziehen. Die Klägerin legt nicht dar, welche Auswirkungen die angebliche Verunreinigung des Impfstoffs mit Fremd-DNA auf die Gesundheit der Impflinge gehabt haben soll. Ob der in Zusammenhang mit der Verunreinigung des Impfstoffs gehaltene Vortrag, die in den Impfstoffen enthaltenen Spikeproteine könnten Gefäßschäden verursachen, eine weitere Verunreinigung darlegen soll, bleibt unklar. Für die Annahme, dass „die im vorliegenden Fall verwendete Charge des Impfstoffs“ mit Fremd-DNA verunreinigt gewesen ist, fehlt jeder Anhaltspunkt. Des Weiteren gibt es keine Grundlage für die Ansicht, dass das Nutzen-Risiko-Verhältnis des Impfstoffs chargenabhängig unterschiedlich zu bewerten ist.
97
Trotz der bekannten unterschiedlichen Herstellungsprozesse und der Verunreinigungen kam der CHMP zu dem Ergebnis, die bedingte Zulassung des streitgegenständlichen Impfstoffs wegen seines positiven Nutzen-Risiko-Verhältnisses zu empfehlen.
98
Auch der Vortrag zu der toxischen Wirkung des Spike-Proteins, der auf Meinungen in mehreren Aufsätzen gestützt wird, bietet keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Annahme, die europäischen Behörden hätten bei ihren fortlaufenden Prüfungen Tatsachen unbeachtet gelassen, bei deren Beachtung sie zu einer negativen Nutzen-Risiko-Relation hätten kommen müssen.
99
Soweit die Klägerin darüber hinaus noch weitere Argumente gegen das positive Nutzen-Risiko-Verhältnis des streitgegenständlichen Impfstoffs vorgebracht hat, handelt es sich um Einzelstimmen zu Einzelaspekten der Gesamtabwägung, die vor dem Hintergrund der auf zahlreichen und umfangreichen Studien basierenden gegenteiligen Einschätzung der Europäischen Arzneimittelagentur bzw. der Europäischen Kommission bei weitem nicht ausreichen, um die von der Klägerin behauptete Gefährlichkeit des Impfstoffs zu begründen. Denn einzelne Wissenschaftler vermögen die Gesamtbreite der „Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft“ nicht infrage zu stellen und bei der Betrachtung lediglich von einzelnen Aspekten bleibt die für das Nutzen-Risiko-Verhältnis gebotene Gesamtschau der positiven therapeutischen Wirkungen des Arzneimittels im Verhältnis zu dem Risiko (vgl. § 4 Abs. 28 iVm Abs. 27 AMG) außen vor. Die von der Klägerin gewünschte Betrachtung entspricht damit nicht den gesetzlichen Vorgaben.
100
Dass noch nicht sämtliche Nebenwirkungen erforscht seien, ermöglicht nicht die von der Klägerin angestrebte Folgerung, dass die Risiken – bei gebotener Gesamtbetrachtung aller seltenen oder häufigen Nebenwirkungen – unvertretbar wären.
101
Die ermittelten Risiken und der nachgewiesene Nutzen müssen gegeneinander abgewogen werden. Nach § 4 Abs. 28 AMG umfasst das Nutzen-Risiko-Verhältnis „eine Bewertung der positiven therapeutischen Wirkungen des Arzneimittels im Verhältnis zu dem Risiko nach Absatz 27 Buchstabe a“, welches sich definiert als „jedes Risiko im Zusammenhang mit der Qualität, Sicherheit oder Wirksamkeit des Arzneimittels für die Gesundheit der Patienten oder die öffentliche Gesundheit“. Dabei gilt: Je besser der therapeutische Nutzen und je schwerwiegender die Erkrankung ohne Impfung, desto eher können auch gravierende schädliche Wirkungen akzeptiert werden.
102
Das heißt: Risiken für den Einzelnen lassen sich nicht gänzlich ausschließen und werden hingenommen, wenn der Nutzen bezogen auf die Gesamtheit der potentiellen Anwender in der Verhältnismäßigkeitsabwägung höher ausfällt.
103
b. Darüber hinaus kommt der Klägerin die Kausalitätsvermutung des § 84 Abs. 2 S. 1 AMG mangels hinreichenden Vortrags, jedenfalls aber wegen § 84 Abs. 2 S. 3 AMG nicht zugute.
104
(1.) Hinsichtlich etwaig erlittener Gesundheitsschäden i.S.v. § 84 Abs. 1 S.1 AMG ist der Geschädigte darlegungs- und beweisbelastet, da es sich hierbei um einen anspruchsbegründenden Umstand i.S.v. § 84 Abs. 1 S.1 AMG handelt (Brock, in: Kügel/Müller/Hofmann, 3. Aufl. 2022, AMG § 84 Rn. 127).
105
Nach § 84 Abs. 2 Satz 1 AMG wird, wenn das angewendete Arzneimittel nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet ist, den Schaden zu verursachen, vermutet, dass der Schaden durch dieses Arzneimittel verursacht ist. Erforderlich ist dabei nicht lediglich eine abstrakt-generelle, sondern eine konkrete Verletzungseignung des Arzneimittels. Eine Verletzungseignung kann angenommen werden, wenn die konkrete Möglichkeit besteht, dass das Arzneimittel die Rechtsgutverletzung verursacht hat. Es genügt allerdings nicht, wenn nur eine ungesicherte Hypothese für den ursächlichen Zusammenhang spricht (BeckOGK/Franzki, AMG § 84 Rn. 110).
106
Die Klägerin als Geschädigten trifft insoweit eine erweiterte Darlegungslast für die konkrete Schadenseignung des Arzneimittels nach § 84 Abs. 2 S. 1 AMG (Brock, in: Kügel/Müller/Hofmann, 3. Aufl. 2022, AMG § 84 Rn. 127). An diese dürfen, um ein weitgehendes Leerlaufen der Vorschriften über die Haftung für Arzneimittelschäden zu vermeiden, zwar keine überhöhten Anforderungen gestellt werden (BGH, Beschluss vom 1. Juli 2008 – ZR 287/07, NJW 2008, 2994). Der Geschädigte kann sich aber nicht darauf beschränken, nur die für ihn günstigen Tatsachen vorzutragen. Der Geschädigte hat demnach alle für die Einzelfallbeurteilung relevanten Tatsachen vorzutragen; es soll sichergestellt werden, dass das Gericht sich ein umfassendes Bild über die Schadenseignung auf der Grundlage aller zur Beurteilung des Einzelfalls relevanten Informationen machen kann (Brock, a. a. O.). Dies schließt gerade auch solche Informationen ein, über die nur der Geschädigte verfügt, wie z. B. Grund- und Parallelerkrankungen, Risikofaktoren sowie die Einnahme anderer Arzneimittel (Brock, a. a. O.). Seiner Darlegungslast kommt der Geschädigte in erster Linie durch die Vorlage seiner Krankenunterlagen nach; legt der Geschädigte keine oder unvollständige Krankenunterlagen vor, ist sein Vortrag unsubstantiiert (Brock, a. a. O.).
107
Diesen Anforderungen wird der klägerische Vortrag vorliegend nicht gerecht.
108
Die Klägerin hat trotz des Bestreitens der Beklagten, dass ihr gesundheitlicher Zustand erstmals nach der Impfung aufgetreten und nicht lediglich die Verschlechterung eines bereits vorbestehenden Gesundheitszustands gewesen sei, keinen schlüssigen und ausreichenden Vortrag zu ihrem gesundheitlichen Zustand vor der Impfung im Hinblick auf alle von ihr geltend gemachten Beeinträchtigungen gehalten.
109
Die Klägerin behauptet zwar, vor der Impfung außer an Problemen mit der Schilddrüse, einem Tinnitus und einer Schallleitungsschwerhörigkeit gelitten zu haben und fit und belastbar gewesen zu sein. Eine darüber hinaus gehende Darlegung des klägerischen Gesundheitszustands vor der streitgegenständlichen Impfung einschließlich Grund- oder Parallelerkrankungen, Risiken und der Einnahme anderer Arzneimittel ist dem schriftsätzlichen Vortrag allerdings nicht zu entnehmen.
110
Eine Substantiierung der pauschalen Behauptungen der Klägerin erfolgt auch nicht durch die eingereichten Unterlagen. Schon wegen deren Unvollständigkeit fehlt es an einem substanziierten Vortrag zu der Vermutungswirkung. Behandlungsunterlagen für den Zeitraum vor der Impfung wurden nur unvollständig vorgelegt, obwohl solche ausweislich der Anlage K 8 vorhanden sein müssten. Diese Anlage weist darüber hinaus erhebliche Vorerkrankungen aus, die die Klägerin nicht substantiiert dargelegt hat, beispielsweise einen Kreislaufkollaps im Juli 2019 und ein Lumbalsyndrom im Dezember 2019 sowie – im Hinblick auf die von der Klägerin geschilderten Panikattacken besonders relevant – eine sich aus der Anlage K 7 ergebende vorbestehende Agoraphobie. Daneben berichtet die Klägerin über die Einnahme hochpotenter Arzneimittel wie Tavor oder Tilidin – gerichtsbekannt ein Opiat –, legt aber keinerlei Belege vor, die die Verschreibung solch starker Medikamente beinhalten würden. Auch über den von der Klägerin geschilderten Aufenthalt im Klinikum nach der Panikattacke und den von der Klägerin behaupteten massiven Symptomen liegt keinerlei Nachweis vor. Es liegt daher auf der Hand, dass erhebliche Teile der medizinischen Historie nicht vorgelegt wurden und das Gericht daher nicht prüfen kann, ob Alternativursachen für die gesundheitlichen Probleme der Klägerin mit ähnlicher Wahrscheinlichkeit in Betracht kommen.
111
2. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch nach § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AMG.
112
Ein Anspruch der Klägerin nach § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AMG scheitert neben den obigen Ausführungen auch daran, dass die Gesundheitsschädigungen zumindest nicht kausal auf die behauptete, nicht den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft entsprechende Kennzeichnung, Fachinformation oder Gebrauchsinformation zurückzuführen sind.
113
Die Haftung nach § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AMG besteht nur, wenn der Schaden infolge einer fehlerhaften Instruktion eingetreten ist. Es genügt also nicht, dass der Schaden durch das Arzneimittel verursacht wurde und die Arzneimittelinformation fehlerhaft war. Vielmehr muss der Schaden gerade auf die fehlerhafte Arzneimittelinformation zurückgehen (doppelte Kausalität). Damit stellt sich die Frage, ob der Schaden bei ordnungsgemäßer Arzneimittelinformation mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre (Kügel/Müller/Hofmann, AMG § 84 Rn. 110, beck-online). Ein Kausalzusammenhang ist daher abzulehnen, wenn der Anwender oder der anwendende Arzt die Arzneimittelinformation gar nicht zur Kenntnis genommen hat (BeckOGK/Franzki, 1.2.2024, AMG § 84 Rn. 58).
114
Die Klägerin hat lediglich im Rahmen eines allgemein gehaltenen Textbausteins vorgetragen, dass die Schäden der Klagepartei auch wegen dieser fehlerhaften Instruktionen eingetreten seien. Denn wäre die Klagepartei über die vorstehend dargelegten Mängel der Herstellung und Entwicklung informiert gewesen und hätte den potenziellen Schadensumfang und die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts gekannt, hätte sie sich nicht impfen lassen (s. Bl. 152 d.A.)
115
Dagegen wurde nicht substantiiert vorgetragen, dass die Klägerin die Fach- und Gebrauchsinformationen vor ihren Impfungen überhaupt gelesen oder der Impfarzt die Fach- und/oder Gebrauchsinformation gelesen und in Kenntnis der dort aufgelisteten Risiken und in Abwägung mit den bei ihm bestehenden gesundheitlichen Gegebenheiten mit ihr das Für und Wider der Impfung erörtert hätte. Zumindest dies wäre aber im Falle einer Impfung, bei der der Patient das Arzneimittel in aller Regel nicht selbst anwendet, sondern von einem Arzt verabreicht bekommt, notwendig gewesen (OLG Koblenz ebd). Die Gebrauchsinformation ist nicht der Aufklärungszettel, den der Impfling bekommt, sondern ein Text, der sich an den Fachmann (hier: den Impfarzt) wendet (s. auch OLG München, Hinweisbeschluss vom 05.11.2024 – 14 U 2313/24 e).
116
Demnach kann die Fach- und Gebrauchsinformation schon aus diesem Grund keinen Einfluss auf die Entscheidung der Klägerin gehabt haben.
117
3. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch nach § 823 Abs. 1 BGB.
118
Einer Haftung der Beklagten aus § 823 Abs. 1 BGB scheitert aufgrund der obigen Ausführungen, auf die Bezug genommen wird, schon daran, dass das Vorliegen einer rechtswidrigen, kausalen Verletzungshandlung der Beklagten weder substantiiert vorgetragen wurde, noch ersichtlich ist. Zudem wurde ein Verschulden der Beklagten weder substantiiert vorgetragen, noch ist es ersichtlich.
119
Der Impfstoff der Beklagten wurde auf Grundlage einer zunächst bedingten, dann einer regulären Zulassung durch die zuständigen Behörden in Umlauf gebracht. Das Nutzen-Risiko-Verhältnis des Impfstoffes wird von den zuständigen Aufsichtsbehörden nach wie vor uneingeschränkt positiv bewertet. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass zum Zeitpunkt der Abgabe des streitgegenständlichen Impfstoffs an die Klägerin ein ernst zu nehmender Verdacht der Beklagten für ein erhöhtes Risiko bezüglich der aufgeführten Gesundheitsfolgen bestand.
120
Bei Instruktionsfehlern wie auch bei der Verletzung von Produktbeobachtungs- und daran geknüpften Warnpflichten hängt die Haftung davon ab, ob der Schaden bei pflichtgemäßem Handeln „mit Sicherheit“ vermieden worden wäre; die bloße Wahrscheinlichkeit, dass der Geschädigte die Warnung befolgt hätte, genügt nicht. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, da die Klägerin nicht substantiiert dargelegt hat, dass ihr Impfarzt die Fachinformationen zur Kenntnis genommen oder sie selbst die Packungsbeilage vor der Impfung gelesen hätte.
121
5. Die Klägerin hat gegen die Beklagte auch keinen Anspruch nach § 826 BGB.
122
Auch insoweit hat die Klägerin einen kausalen Schaden nicht hinreichend substantiiert dargelegt.
123
Zudem ist eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung durch die Beklagte nicht ersichtlich.
124
Im Hinblick auf das dargelegte positive Nutzen-Risiko-Verhältnis ist die Annahme eines sittenwidrigen Handelns fernliegend.
125
Zudem fehlt es am Schädigungsvorsatz. Selbst wenn die Beklagte auch in Gewinnerzielungsabsicht gehandelt hätte, ist nicht ausreichend substantiiert dargelegt, dass sie den Impfstoff in den Verkehr gebracht hat, um vorsätzlich Menschen an der Gesundheit zu schädigen (LG Berlin Urt. v. 22.11.2024 – 17 O 162/23, BeckRS 2024, 35619 Rn. 44).
126
6. Weitere Anspruchsgrundlagen, aus denen sich ein Anspruch ergibt, sind nicht ersichtlich.
127
7. Mangels Anspruchs in der Hauptsache hat die Klägerin auch keinen Anspruch auf die beantragten Zinsen.
128
Die Klägerin hat gegen die Beklagte auch keinen Anspruch auf die mit dem Klageantrag Ziff. 2 begehrte Feststellung. Es ergibt sich aus dem klägerischen Vortrag kein Anhaltspunkt dafür, dass aus der Impfung ein kausaler Schaden entstanden ist oder entstehen könnte.
129
Die Klägerin hat gegen die Beklagte auch keinen Anspruch auf die mit Klageantrag Ziff. 4 begehrte Auskunft gemäß § 84a AMG.
130
Der Anspruch auf Auskunft besteht nach § 84a Abs. 1 S. 1 AMG dann, wenn Tatsachen vorliegen, die die Annahme begründen, dass ein Arzneimittel einen Schaden verursacht hat, es sei denn, dies ist zur Feststellung, ob ein Anspruch auf Schadensersatz nach § 84 AMG besteht, nicht erforderlich.
131
Erforderlich ist die Auskunft im Sinne des § 84a Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AMG bereits dann, wenn die Möglichkeit besteht, dass die begehrten Auskünfte der Feststellung eines Schadensersatzanspruchs dienen können; vermag hingegen die begehrte Auskunft die beweisrechtliche Situation des die Auskunft Begehrenden in Bezug auf einen solchen Schadensersatzanspruch offensichtlich nicht zu stärken, fehlt die Erforderlichkeit (vgl. BGH, Urteil vom 12.05.2015 – ZR 328/11, BGHZ 205, 270-287, juris, Rn. 21 mwN).
132
Der Auskunftsanspruch ist unter anderem dann nicht erforderlich, wenn offensichtlich ist, dass der Geschädigte keinen Anspruch aus § 84 Abs. 1 AMG hat, etwa die erlittene Rechtsgutverletzung unerheblich ist, der Geschädigte lediglich einen Vermögensschaden erlitten hat oder der Anspruch aus § 84 Abs. 1 AMG bereits verjährt (BGH, Urteil vom 26.03.2013 – ZR 109/12, juris, Rn. 42) oder erfüllt ist (OLG Bamberg, Teilurteil vom 08.04.2024 – 4 U 15/23 e, juris, Rn. 77 ff.). Gleiches gilt, wenn der pharmazeutische Unternehmer bereits im Rahmen der Geltendmachung des Auskunftsanspruchs andere schadensgeeignete Umstände iSd § 84 Abs. 2 Satz 3 AMG darlegen und beweisen kann (BeckOGK/Franzki, 01.06.2024, AMG § 84a Rn. 16; BGH, Urteil vom 26.03.2013 – ZR 109/12, juris Rn. 43), weil dann ein Anspruch aus § 84 AMG eindeutig ausscheidet (zuletzt: OLG München, Hinweisbeschluss vom 05.11.2024 – 14 U 2313/24 e, BeckRS 2024, 31623 Rn. 227; LG Kleve Urt. v. 27.11.2024 – 2 O 133/23, BeckRS 2024, 33759 Rn. 46; OLG Koblenz Urteil vom 10.07.2024 – 5 U 1375/23, BeckRS 2024, 16169, Rn. 160; LG Bielefeld, Urteil vom 12.07.2024 – 4 O 296/22, BeckRS 2024, 19424, Rn. 42 f.; BeckOGK/Franzki, 1.6.2024, AMG § 84a Rn. 15; LG Detmold, Urteil vom 13.02.2024 – 02 O 85/23, PharmR 2024, 228, 233).
133
Der Klägerin ist es vorliegend nicht gelungen, einen kausalen Gesundheitsschaden hinreichend darzulegen. Darüber hinaus bestehen möglicherweise andere schadensgeeignete Alternativursachen, die das Gericht aufgrund der unzureichenden Substantiierung nicht prüfen konnte (s.o.), sodass kein Anspruch auf die begehrte Auskunft besteht.
134
Eine Vorlage des Rechtsstreits an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 AEUV war mangels Vorliegens der Vorlagevoraussetzungen nicht veranlasst.
135
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO.
136
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 S. 2, S. 1 ZPO.