Titel:
Popularklageverfahren, Feststellungsinteresse, Anhängiges Bußgeldverfahren, Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Einstweilige Anordnung, Ermächtigungsgrundlage, Versammlungsfreiheit, Verfahrenseinstellung, Eingerichteter und ausgeübter Gewerbebetrieb, Ware, Recht auf Naturgenuss, Verfassungsgerichtliche Kontrolle, Individualrechtsschutz, Berufsfreiheit, Bestimmtheitsgebot, Rechtswirkungen, Verfassungswidrigkeit, Grundrechten, Untersagung des Betriebs, Zulässiger Prüfungsgegenstand
Leitsatz:
Zur Unzulässigkeit einer Popularklage gegen Vorschriften in mehreren außer Kraft getretenen Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen, weil kein objektives Interesse mehr an der Feststellung besteht, ob sie mit der Bayerischen Verfassung vereinbar waren.
Schlagworte:
Popularklage, Ausgangsbeschränkung, Verhältnismäßigkeitsprinzip, Bestimmtheitsgebot, Grundrechtseingriff, Verfassungswidrigkeit
Fundstelle:
BeckRS 2025, 17706
Tenor
Der Antrag wird abgewiesen.
Entscheidungsgründe
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1. Der Antragsteller wendet sich mit seiner am 14. April 2020 eingegangenen und später erweiterten Popularklage in erster Linie gegen die Regelung einer Ausgangsbeschränkung, die jeweils wortgleich in § 4 Abs. 2 der Bayerischen Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen anlässlich der Corona-Pandemie (Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung – BayIfSMV) vom 27. März 2020 (BayMBl Nr. 158, BayRS 2126-1-4-G, 2126-1-5-G), die durch Verordnung vom 31. März 2020 (GVBl S. 194, BayMBl Nr. 162) geändert worden ist, in § 5 Abs. 2 der Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (2. BayIfSMV) vom 16. April 2020 (GVBl S. 214, BayMBl Nr. 205, BayRS 2126-1-5-G), die zuletzt durch Verordnung vom 28. April 2020 (GVBl S. 254, BayMBl Nr. 225) geändert worden ist, und in § 7 Abs. 2 der Dritten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (3. BayIfSMV) vom 1. Mai 2020 (BayMBl Nr. 239, BayRS 2126-1-7-G) enthalten war. Sie hatte folgenden Wortlaut:
(2) Das Verlassen der eigenen Wohnung ist nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt.
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§ 4 Abs. 2 BayIfSMV war vom 1. bis zum 19. April 2020 in Kraft, § 5 Abs. 2 2. BayIfSMV vom 20. April bis zum 3. Mai 2020 und § 7 Abs. 2 3. BayIfSMV in dieser Fassung vom 4. bis einschließlich 5. Mai 2020. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 4. Oktober 2021 (BayVBl 2022, 158, GVBl 2022 S. 755, bestätigt durch BVerwG vom 22.11.2022 BVerwGE 177, 92) festgestellt, dass § 4 Abs. 2 BayIfSMV wegen Verstoßes gegen das im Grundgesetz verankerte Übermaßverbot unwirksam war.
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Der Antragsteller wendet sich weiter gegen die in den genannten Verordnungen anlässlich der Corona-Pandemie getroffenen Regelungen
- zur Untersagung von Veranstaltungen und Versammlungen einschließlich der Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen und Synagogen sowie der Zusammenkünfte anderer Glaubensgemeinschaften (§ 1 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BayIfSMV, § 1 Abs. 1 Sätze 1 und 2 2. BayIfSMV) bzw. allgemein von Veranstaltungen und Versammlungen (§ 1 Abs. 1 Sätze 1 und 2 3. BayIfSMV),
- zur Untersagung des Betriebs sämtlicher Einrichtungen, die nicht notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens, sondern der Freizeitgestaltung dienen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 BayIfSMV, § 2 Abs. 1 Satz 1 2. BayIfSMV, § 4 Abs. 1 Satz 1 3. BayIfSMV),
- zur Untersagung des Betriebs von Hotels für private touristische Zwecke (§ 2 Abs. 3 Satz 1 BayIfSMV, § 2 Abs. 3 Satz 1 2. BayIfSMV, § 4 Abs. 3 Satz 1 3. BayIfSMV),
- zur Untersagung der Öffnung von Ladengeschäften des Einzelhandels (§ 2 Abs. 4 Satz 1 BayIfSMV, § 2 Abs. 4 Satz 1 2. BayIfSMV),
- zu den bei der Öffnung von Ladengeschäften einzuhaltenden Schutz- und Hygienemaßnahmen (§ 4 Abs. 4 Satz 1 3. BayIfSMV).
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Die beanstandeten Regelungen der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung galten vom 31. März bis zum 19. April 2020, diejenigen der Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 20. April bis zum 3. Mai 2020 und diejenigen der Dritten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 4. bis einschließlich 10. Mai 2020. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat mit vier Urteilen vom 6. Oktober 2022 (20 N 20.783 – juris, GVBl 2024 S. 48, bestätigt durch BVerwG vom 15.2.2024 BVerwGE 181, 319; 20 N 20.794 – juris = BayVBl 2023, 224, GVBl 2023 S. 32; 20 N 20.853 – juris, GVBl 2024 S. 49, bestätigt durch BVerwG vom 15.2.2024 – 3 CN 18/22 – juris; 20 N 20.1023 – juris, GVBl 2024 S. 47, bestätigt durch BVerwG vom 15.2.2024 NVwZ 2024, 1174) festgestellt, dass § 2 Abs. 1 BayIfSMV, § 2 Abs. 1 und 4 2. BayIfSMV sowie § 4 Abs. 1 3. BayIfSMV wegen Verstoßes gegen das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot bzw. (soweit § 2 Abs. 4 2. BayIfSMV betroffen ist) gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG unwirksam waren.
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2. Gestützt waren die angegriffenen Rechtsverordnungen auf § 32 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) in Verbindung mit § 9 Nr. 5 der Delegationsverordnung (DelV) in der jeweiligen damals geltenden Fassung.
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1. Der Antragsteller ist der Auffassung, die angefochtenen Vorschriften hätten gegen die Bayerische Verfassung verstoßen.
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a) Die Regelungen hätten nicht auf einer den Anforderungen des rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalts genügenden Ermächtigungsgrundlage beruht und schon deshalb nicht in Grundrechte eingreifen dürfen. Der in der Rechtsverordnung genannte § 32 Satz 1 IfSG habe auch in Zusammenschau mit § 28 Abs. 1 IfSG keine ausreichende Ermächtigungsgrundlage dargestellt.
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b) Die angegriffenen Regelungen zu einer Ausgangsbeschränkung (§ 4 Abs. 2 BayIfSMV, § 5 Abs. 2 2. BayIfSMV und § 7 Abs. 2 3. BayIfSMV) seien mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 3 Abs. 1 BV) sowie den Grundrechten der körperlichen Unversehrtheit (Art. 100 BV i. V. m. Art. 101 BV), der persönlichen Freiheit (Art. 102 Abs. 1 BV), der Freizügigkeit (Art. 109 Abs. 1 BV), der Versammlungsfreiheit (Art. 113 BV) und dem Recht auf Naturgenuss (Art. 141 Abs. 3 BV) nicht vereinbar gewesen:
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aa) Die Regelungen hätten dem Bestimmtheitsgebot nicht genügt. Der unbestimmte Rechtsbegriff des „triftigen Grundes“ sei für die Betroffenen nicht verständlich gewesen.
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bb) Durch die Ausgangsbeschränkung sei in schwerwiegender Weise in die durch Art. 102 Abs. 1 BV geschützte körperliche Fortbewegungsfreiheit der Bürger eingegriffen worden. Aufgrund der Schwere und der Dauer des Eingriffs habe es sich dabei um eine freiheitsentziehende Maßnahme gehandelt, die nur unter engen – hier nicht gegebenen – Voraussetzungen zulässig gewesen wäre. Zudem habe wegen des Freiheitsentzugs eine Verletzung des Grundrechts auf Freizügigkeit (Art. 109 BV) und des Rechts auf Naturgenuss (Art. 141 Abs. 3 BV) vorgelegen.
Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 100 BV i. V. m. Art. 101 BV) sei dadurch verletzt worden, dass der Normgeber die physischen und psychischen Auswirkungen der Ausgangsbeschränkung außer Acht gelassen habe. Diese habe das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit (Art. 113 BV) beeinträchtigt, weil nicht ersichtlich gewesen sei, ob die Teilnahme an einer nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BayIfSMV (bzw. § 1 Abs. 1 Satz 3 2. BayIfSMV oder § 1 Abs. 1 Satz 2 3. BayIfSMV) genehmigten Versammlung einen triftigen Grund für das Verlassen der eigenen Wohnung dargestellt habe. Außerdem sei den Betroffenen die Möglichkeit genommen worden, sich spontan allein mit einem Schild auf einen öffentlichen Platz zu stellen, um zu demonstrieren.
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c) Die angegriffenen Regelungen zur Untersagung von Veranstaltungen und Versammlungen (§ 1 Abs. 1 Satz 1 BayIfSMV, § 1 Abs. 1 Satz 1 2. BayIfSMV, § 1 Abs. 1 Satz 1 3. BayIfSMV) hätten gegen die Grundrechte der Versammlungsfreiheit (Art. 113 BV), der Kunstfreiheit (Art. 108 BV) und der Berufsfreiheit (Art. 101 BV) verstoßen. Die Versammlungsfreiheit sei verletzt gewesen, weil die Ausnahmeregelung nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BayIfSMV (§ 1 Abs. 1 Satz 3 2. BayIfSMV oder § 1 Abs. 1 Satz 2 3. BayIfSMV) lediglich vorgesehen habe, dass die Kreisverwaltungsbehörde Versammlungen genehmigen könne. Richtigerweise hätte der Normgeber regeln müssen, dass Ausnahmegenehmigungen – soweit aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar – zwingend zu erteilen gewesen wären. Durch die Untersagung von Veranstaltungen seien Lesungen, Konzerte und Theateraufführungen landesweit unmöglich gemacht worden. Die Kunstfreiheit sei übermäßig eingeschränkt worden. Für die Veranstalter habe die Untersagung faktisch zu einem Berufsverbot geführt.
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d) Die angegriffenen Regelungen zur Untersagung von Zusammenkünften von Glaubensgemeinschaften (§ 1 Abs. 1 Satz 2 BayIfSMV, § 1 Abs. 1 Satz 2 2. BayIfSMV) hätten in unverhältnismäßiger Weise in den Wesensgehalt der Glaubensfreiheit (Art. 107 Abs. 1 und 2 BV) eingegriffen, indem sie das Ausleben der religiösen Überzeugung (forum externum) unterbunden hätten. Der Normgeber wäre gehalten gewesen, als milderes Mittel die Abhaltung von Gottesdiensten unter Hygieneauflagen zuzulassen.
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e) Die angegriffenen Regelungen zur Untersagung des Betriebs von Einrichtungen der Freizeitgestaltung (§ 2 Abs. 1 Satz 1 BayIfSMV, § 2 Abs. 1 Satz 1 2. BayIfSMV, § 4 Abs. 1 Satz 1 3. BayIfSMV) hätten zu einer übermäßigen Beschränkung der Berufsfreiheit (Art. 101 BV) der Betreiber der Einrichtungen sowie ihres Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (Art. 103 Abs. 1 BV) und zu einer nicht gerechtfertigten Beeinträchtigung der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 101 BV) der potenziellen Besucher geführt. Der Normgeber hätte Ausnahmegenehmigungen für solche Einrichtungen vorsehen müssen, deren Betrieb und Besuch aus infektionsschutzrechtlicher Sicht unbedenklich gewesen wäre.
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f) Die angegriffenen Regelungen zur Untersagung des Betriebs von Hotels für private touristische Zwecke (§ 2 Abs. 3 Satz 1 BayIfSMV, § 2 Abs. 3 Satz 1 2. BayIfSMV, § 4 Abs. 3 Satz 1 3. BayIfSMV) hätten ebenfalls gegen die Berufsfreiheit (Art. 101 BV), das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (Art. 103 Abs. 1 BV) sowie die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 101 BV) verstoßen. Sie seien unverhältnismäßig gewesen. Da der Normgeber davon ausgegangen sei, dass ein Hotelbetrieb für Geschäftsreisende bei Einhaltung von Abstandsregelungen (§ 2 Abs. 5 Satz 1 BayIfSMV, § 2 Abs. 7 Satz 1 2. BayIfSMV, § 4 Abs. 5 Satz 1 3. BayIfSMV) hinreichend sicher durchgeführt werden könne, hätte er dies in gleicher Weise für Privatreisende annehmen müssen.
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g) Die angegriffenen Regelungen zur Untersagung der Öffnung von Ladengeschäften des Einzelhandels (§ 2 Abs. 4 Satz 1 BayIfSMV, § 2 Abs. 4 Satz 1 2. BayIfSMV) hätten in unverhältnismäßiger Weise in das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (Art. 103 Abs. 1 BV), in die Berufsfreiheit und in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 101 BV) eingegriffen. Der Normgeber habe verkannt, dass anstelle der Schließung von Ladengeschäften als milderes Mittel eine Öffnung unter strengen Hygieneauflagen und Abstandsregelungen möglich gewesen wäre.
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2. Die Bayerische Staatsregierung hat sich mit Stellungnahme vom 8. Juni 2020 zur Popularklage geäußert. Sie hält diese für unzulässig und unbegründet.
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Der Bayerische Landtag hat sich nicht am Verfahren beteiligt.
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3. Der Antragsteller hatte seine Popularklage und deren Erweiterungen jeweils mit Anträgen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden. Zu einer Entscheidung über diese Anträge kam es nicht. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat in anderen Popularklageverfahren, die gegen dieselben oder vergleichbare Vorschriften gerichtet waren, entsprechende Anträge auf Außervollzugsetzung im Wege der einstweiligen Anordnung abgelehnt (vgl. VerfGH vom 26.3.2020 VerfGHE 73, 53; vom 24.4.2020 VerfGHE 73, 68; vom 8.5.2020 VerfGHE 73, 80).
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Die Popularklage, die sich ausschließlich gegen nicht mehr geltendes Recht richtet, ist unzulässig geworden, weil es inzwischen mangels objektiven Feststellungsinteresses an einem zulässigen Antragsgegenstand fehlt.
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1. Bei den angegriffenen Corona-Schutzmaßnahmen handelt es sich um Rechtsvorschriften des bayerischen Landesrechts, deren Verfassungswidrigkeit jedermann durch Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof (Popularklage) geltend machen kann (Art. 98 Satz 4 BV und Art. 55 Abs. 1 Satz 1 VfGHG). Dem steht nicht entgegen, dass sie auf einer bundesrechtlichen Ermächtigung beruhen. Denn der bayerische Normgeber, der aufgrund einer bundesrechtlichen Ermächtigung tätig wird, setzt Landesrecht und bleibt in den Bereichen, in denen das Bundesrecht ihm Entscheidungsfreiheit belässt, an die Bayerische Verfassung gebunden (vgl. VerfGH vom 27.9.2023 BayVBl 2024, 78 Rn. 34 zur 4. BayIfSMV). Die angegriffenen Verordnungsregelungen sind jedoch kein zulässiger Prüfungsgegenstand im Popularklageverfahren mehr.
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2. Die verfassungsgerichtliche Popularklage, die an die Antragsberechtigung geringe Anforderungen stellt (Art. 55 Abs. 1 Satz 1 VfGHG: „jedermann“) und keiner Fristbindung unterliegt, ist – anders als die auf subjektiven Rechtsschutz gerichtete Verfassungsbeschwerde nach Art. 120 BV – ein objektives Verfahren (vgl. VerfGH vom 7.12.2021 VerfGHE 74, 265 Rn. 42; vom 14.6.2023 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 54 und 58; BayVBl 2024, 78 Rn. 36 m. w. N.; Wolff in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Aufl. 2017, Art. 98 Rn. 8). Sie bezweckt im öffentlichen Interesse die Gewährleistung der Grundrechte als Institution. Dem entsprechend kommt eine verfassungsgerichtliche Kontrolle außer Kraft getretener Vorschriften nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs nur ausnahmsweise in Betracht, wenn noch ein objektives (nicht nur theoretisches) Interesse an der Feststellung besteht, ob sie mit der Bayerischen Verfassung vereinbar waren (VerfGH vom 15.11.1996 VerfGHE 49, 153/157; vom 28.11.2007 VerfGHE 60, 184/211). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn nicht auszuschließen ist, dass sie noch rechtliche Wirkungen entfalten, etwa weil sie für künftige (z. B. gerichtliche) Entscheidungen relevant sind (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 30.8.2017 VerfGHE 70, 162 Rn. 75; vom 20.8.2019 VerfGHE 72, 157 Rn. 18; VerfGHE 74, 265 Rn. 41; vom 14.6.2023 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 51; BayVBl 2024, 78 Rn. 36, jeweils m. w. N.; Müller in Meder/Brechmann, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 6. Aufl. 2020, Art. 98 Satz 4 Rn. 14; Wolff,a. a. O., Art. 98 Rn. 23). Ein objektives Interesse wird hingegen nicht allein dadurch begründet, dass die außer Kraft getretenen Vorschriften schwerwiegende Grundrechtseingriffe bewirkt haben oder ihre Geltungsdauer zu kurz war, um ein Popularklageverfahren in der Hauptsache durchzuführen (VerfGH BayVBl 2024, 78 Rn. 36; vom 18.12.2024 – Vf. 15-VII-17 – juris Rn. 28; vom 28.1.2025 – Vf. 2-VII-19 – juris Rn. 9). Hinzukommen muss vielmehr, dass die Grundrechte als Institution betroffen sind, etwa weil es um eine Vielzahl nicht abgeschlossener Fälle und nicht nur um einzelne Verfahren geht, in denen die Betroffenen auf Individualrechtsschutz zu verweisen sind (vgl. VerfGH vom 14.6.2023 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 58; vom 18.12.2024 – Vf. 15-VII-17 – juris Rn. 28; vgl. auch VerfGH vom 13.3.2025 – Vf. 5-VIII-18 u. a. – juris Rn. 71 zur Verfahrenseinstellung nach Erledigterklärung). Eine fortbestehende Rechtswirkung in diesem Sinn wäre vor allem dann zu bejahen, wenn die angegriffenen Vorschriften noch in relevantem Ausmaß in Gerichtsverfahren wegen Verstößen gegen die früheren CoronaSchutzmaßnahmen zur Anwendung kommen könnten.
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3. Hiervon ausgehend ist die Popularklage insgesamt unzulässig. An einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Vorschriften der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 27. März 2020 sowie der Zweiten und Dritten Infektionsschutzmaßnahmenverordnung besteht kein objektives Interesse mehr.
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a) Anders als bei der mit Entscheidung vom 27. September 2023 inhaltlich geprüften allgemeinen Maskenpflicht nach §§ 8 und 12 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 4. BayIfSMV (VerfGH BayVBl 2024, 78 Rn. 37) ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich, dass zu den im Lauf des Jahres 2020 außer Kraft getretenen Vorschriften weiterhin eine Vielzahl behördlicher oder gerichtlicher Verfahren anhängig wäre, für die es auf die Verfassungsmäßigkeit der betreffenden Regelungen ankäme.
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aa) Soweit sich die Popularklage gegen § 2 Abs. 1, § 4 Abs. 2 BayIfSMV, § 2 Abs. 1 und 4 2. BayIfSMV sowie § 4 Abs. 1 3. BayIfSMV richtet, steht bereits aufgrund der rechtskräftigen Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 4. Oktober 2021 und 6. Oktober 2022 (siehe oben unter I. 1.) allgemein verbindlich fest (vgl. § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2, Satz 3 i. V. m. § 183 VwGO), dass die angegriffenen Vorschriften von Anfang an unwirksam waren und zu keinem Zeitpunkt Rechtswirkungen entfalten konnten. Daher scheidet hier ein objektives Feststellungsinteresse, wie in aller Regel in solchen Fällen, aus (vgl. VerfGH vom 20.8.2019 VerfGHE 72, 157 Rn. 15 zur Verfahrenseinstellung nach Erledigterklärung; Wolff in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 98 Rn. 23 m. w. N.).
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bb) Im Übrigen kann insgesamt mittlerweile ausgeschlossen werden, dass wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Verstöße gegen die genannten Vorschriften, die nach § 5 Nrn. 1, 2, 4, 5 und 9 BayIfSMV, § 7 Nrn. 1, 2, 4, 5 und 9 2. BayIfSMV und § 9 Nrn. 1, 2, 4, 5 und 8 3. BayIfSMV i. V. m. § 73 Abs. 1 a Nr. 24, Abs. 2 IfSG bußgeldbewehrt waren, heute noch belastende Entscheidungen ergehen könnten. Nach einem per Pressemitteilung veröffentlichten Beschluss der Bayerischen Staatsregierung vom 5. November 2024 ist davon auszugehen, dass noch anhängige Verfahren wegen etwaiger Verstöße gegen die angegriffenen Vorschriften, soweit sie bußgeldbewehrt waren, von den zuständigen Verwaltungsbehörden nicht weiterverfolgt bzw. von den Verfolgungsbehörden eingestellt wurden oder werden. Von dem genannten Beschluss der Staatsregierung erfasst sind sämtliche bei den Kreisverwaltungsbehörden, den Staatsanwaltschaften und den Gerichten anhängigen Bußgeldverfahren und Vollstreckungsverfahren wegen Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit Verstößen gegen Corona-Rechtsvorschriften, insbesondere auch gegen die anlässlich der Corona-Pandemie erlassenen Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen. Danach findet auch keine (weitere) Vollstreckung aus rechtskräftigen Bußgeldbescheiden mehr statt, die wegen Verstößen gegen die früheren Corona-Schutzmaßnahmen erlassen wurden. Noch ausstehende Bußgelder müssen nicht bezahlt werden (https://www.bayern.de/ bericht-aus-der-kabinettssitzung-vom-5-november-2024/). Bereits bezahlte Bußgelder könnten auch dann nicht zurückgefordert werden, wenn die Popularklage Erfolg hätte, da in Bestands- bzw. Rechtskraft erwachsene Rechtsanwendungsakte von einer positiven Entscheidung über die Popularklage unberührt blieben (vgl. § 183 VwGO sowie zur entsprechenden Anwendung von § 79 BVerfGG VerfGH vom 29.4.1993 VerfGHE 46, 137/140; vom 27.8.2018 VerfGHE 71, 223 Rn. 25). Die nur theoretische Möglichkeit der Wiederaufnahme von Bußgeldverfahren entsprechend § 79 Abs. 1 BVerfGG (vgl. dazu Bethge in Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 79 Rn. 39 m. w. N.) reicht zur Begründung eines objektiven Interesses an der Feststellung der Verfassungswidrigkeit der außer Kraft getretenen Vorschriften nicht aus (vgl. VerfGH vom 10.11.2021 BayVBl 2022, 116 Rn. 24). Die Popularklage dient dem objektiv-rechtlichen Schutz der Grundrechte gegenüber Rechtsvorschriften, von denen noch rechtliche Wirkungen ausgehen können, nicht dagegen der nachträglichen Beseitigung von Entscheidungen, die trotz der gegebenen Rechtsmittel des Individualrechtsschutzes einschließlich der damit inzident verbundenen Möglichkeiten der Normüberprüfung rechtskräftig geworden sind (vgl. VerfGHE 46, 137/140).
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Für eine fortbestehende Rechtswirkung der angegriffenen Vorschriften im Sinn der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs oder für ein objektives Interesse aus anderen Gründen bestehen vor diesem Hintergrund keine Anhaltspunkte. Das gilt umso mehr, als die beanstandeten Corona-Schutzmaßnahmen auf einer bundesrechtlichen Ermächtigungsgrundlage beruhten und deshalb von vornherein nur einer eingeschränkten Kontrolle durch den Verfassungsgerichtshof unterliegen (vgl. VerfGH BayVBl 2024, 78 Rn. 45 ff., 69).
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b) Auch die Erwägung, eine Entscheidung über die Popularklage könne möglicherweise zu einer Klärung von Rechtsfragen führen, die bei Auftreten etwaiger künftiger Pandemien (wieder) Bedeutung erlangen könnten, ist nicht geeignet, das erforderliche objektive Feststellungsinteresse zu begründen. Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Regelung, die nach ihrem Außerkrafttreten keine Rechtswirkungen mehr entfaltet, würde, da es keinen praktischen Anwendungsbereich der Vorschrift mehr gibt, zwangsläufig nur im Rahmen eines – für die Zulässigkeit der Popularklage nicht ausreichenden – theoretischen Feststellungsinteresses erfolgen. Die Annahme, es könne im Fall einer künftigen Pandemie ein Anwendungsbereich für vergleichbare Schutzmaßnahmen entstehen, ändert nichts daran, dass sich die Frage der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Vorschriften derzeit nur in einem theoretischen, nicht aber in einem die konkrete Rechtsanwendung betreffenden Zusammenhang stellt.
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Das erneute Auftreten einer Pandemie hätte auch nicht zur Folge, dass die beanstandeten Vorschriften wieder in Kraft treten und somit wieder rechtliche Wirkung entfalten würden. Vielmehr wäre es im Fall einer neuerlichen Pandemie Sache des Normgebers, über die im Einzelfall erforderlichen Regelungen (neu) zu entscheiden. Dass er hierbei ohne Weiteres auf die mit der Popularklage angegriffenen Vorschriften zurückgreifen würde, steht keineswegs fest. Die Erfahrungen mit der Corona-Pandemie haben gezeigt, dass Schutzmaßnahmen kontinuierlich an das sich ändernde Infektionsgeschehen anzupassen sind. Es erscheint daher fernliegend, dass der Normgeber durch eine Übernahme alter Vorschriften auf mögliche künftige Pandemielagen reagieren könnte.
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Davon unabhängig würde selbst die vom Antragsteller begehrte Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, wonach die angegriffenen Vorschriften in ihrem für seine Popularklage maßgeblichen Geltungszeitraum verfassungswidrig gewesen sein sollen, nicht zwangsläufig bedeuten, dass im Fall einer „Wiederverwendung“ der Maßnahmen bei einer künftigen Pandemie ebenso eine Verfassungswidrigkeit der Regelungen anzunehmen wäre. Angesichts der kontinuierlichen Fortentwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Gefährlichkeit von Pandemielagen und zur Wirksamkeit von Schutzvorkehrungen setzt die verfassungsrechtliche Beurteilung der Vertretbarkeit und Verhältnismäßigkeit bestimmter Vorsorgemaßnahmen immer die Kenntnis der im Entscheidungszeitraum bestehenden Umstände und des jeweiligen aktuellen Stands der Wissenschaft voraus. Das Ergebnis der vom Antragsteller begehrten verfassungsgerichtlichen Überprüfung ließe sich deshalb nicht auf mögliche künftige Pandemielagen übertragen.
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Das Verfahren ist kostenfrei (Art. 27 Abs. 1 Satz 1 VfGHG).