Titel:
Asyl, Marokko: Staatlicher Schutz bei häuslicher Gewalt
Normenketten:
AsylG § 3c Nr. 3, § 3e
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
GG Art. 16a Abs. 1
Leitsätze:
Der marokkanische Staat ist nicht nach § 3c Nr. 3 AsylG erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens, im Sinne des § 3d AsylG Frauen Schutz vor Verfolgung im Falle häuslicher Gewalt zu bieten. (Rn. 33)
1. Aus den vorstehenden Erkenntnismitteln ergibt sich letztlich nicht, dass der marokkanische Staat derzeit erwiesenermaßen nicht in willens oder in der Lange sind, der Klägerin Schutz nach § 3d AsylG zu bieten. Letztlich ausreichend ist der dargebotene Schutz jedenfalls dann, wenn sich das Niveau der staatlichen Schutzgewährung im konkreten Einzelfall als ausreichend wirksam erweist, um die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer schutzrelevanten Verfolgung bzw. Gefährdung auszuschließen. Absoluter Schutz kann dabei nicht verlangt werden. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
2. Aus dem Auskunftsmitteln ergeben sich zudem etliche Anhaltspunkte dafür, dass sich die Lage für Opfer häuslicher Gewalt verbessert hat. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Staatlicher Schutz vor häuslicher Gewalt in Marokko, Interner Schutz in Großstädten, häusliche Gewalt, Flüchtlingseigenschaft, Marokko, Furcht vor Verfolgung, Verfolgungsgefahr, staatlicher Schutz
Fundstelle:
BeckRS 2025, 17003
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger haben die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens als Gesamtschuldner zu tragen.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung abwenden gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
1
Die Kläger begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie jeweils hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzes und die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten.
2
Die Kläger, alle marokkanischer Staatsangehörigkeit, arabischer Volkszugehörigkeit und muslimischer Religionszugehörigkeit, reisten nach eigenen Angaben am 03.06.2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 12.10.2022 Asylanträge.
3
Mit den Asylanträgen wurde gemäß § 13 Abs. 2 Asylgesetz (AsylG) sowohl die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, als auch die Anerkennung als Asylberechtigte gemäß Art. 16 a Abs. 1 Grundgesetz (GG) beantragt, da die Anträge nicht auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt wurden. Die persönliche Anhörung beim Bundesamt erfolgte am 25.01.2023.
4
Die Klägerin zu 1. (fortan: die Klägerin) trug im Wesentlichen vor, sie sei von ihrem Ehemann seit mehreren Jahren körperlich und psychisch misshandelt worden, weswegen sie im Mai 2022 ihr Heimatland zusammen mit den beiden Klägern zu 2. und zu 3. verlassen habe.
5
Der Ehemann der Klägerin sei nach der Eheschließung mit der Zeit im Umgang mit seiner Familie bezüglich muslimischer Regeln immer strenger geworden. Insbesondere nach dem Tod des Vaters des Ehemanns im Jahre 2015 sei der Klägerin verboten worden das Haus zu verlassen und Besuch zu bekommen. Auch habe sie andere Kleidung tragen müssen wie z.B. einen Hijab. Nachdem sie sich einmal im Jahr 2017 weigerte den Geschichtsschleier anzuziehen, sei sie von ihrem Ehemann mit dem Gürtel geschlagen und mit einem Messer verletzt worden. Auch habe er den gemeinsamen Sohn geschlagen und mit einem großen Bratspieß verbrannt, nachdem sich dieser für die Klägerin schützend eingesetzt habe. Wegen dieser Schläge hätten ihre beiden Söhne psychische Probleme. Die Ehefrau habe nach den strengen Vorschriften ihres Ehemanns und dessen Geschwistern leben müssen. Sie habe nicht mehr arbeiten, nicht mehr einkaufen gehen und auch keine Familienfeiern mehr besuchen dürfen. Sie habe sich wie in einem Gefängnis gefühlt. Den Entschluss zur Ausreise habe sie nach der Messerattacke gefasst, da sie Angst um ihr Leben und um das ihrer Kinder habe. Nach der Messerattacke sei sie zum Familiengericht um die Scheidung einzureichen. Noch während der Personendatenaufnahme sei sie jedoch von ihrem Ehemann an den Haaren gepackt und in ein Taxi gezerrt worden. Der Ehemann habe ihr gesagt, dass er bis zum Tod bei ihnen keine Scheidung gebe. Die Klägerin sei nicht gleich zur Polizei gegangen, da diese die Angelegenheit an das Familiengericht gemeldet hätte. Die Ermittlungen hätten sodann Jahre gedauert, die Klägerin habe sich jedoch sofort von ihrem Ehemann trennen wollen. Die Polizei unternehme in diesen Angelegenheiten nichts, sondern überweise einen an das zuständige Gericht, das dann Jahre für eine Entscheidung brauche. Hilfe bei ihrer Familie habe sie nicht gesucht, da ihr Ehemann sie dann wieder an den Haaren ziehend zurückgeholt hätte. Auch könne er sie überall in Marokko finden und sie mit jedem Mittel zurückholen.
6
Bis vor 6 bis 7 Jahren habe die Klägerin in einer Konservenfabrik gearbeitet, jedoch auf Wunsch ihres Ehemannes damit aufgehört. Sie selbst hätte eigentlich weiterarbeiten wollen, sei anschließend dann aber lediglich Hausfrau gewesen.
7
Folgende Unterlagen wurden im Rahmen der persönlichen Anhörung überreicht: 3 Befundberichte v. 24.08.2022, Regierung von … / AEO …
- Bzgl. Klägerin: Diagnose: Verdacht auf Posttraumatische Belastungsstörung; Zustand nach körperlicher Misshandlung durch Ehegatten
- Bzgl. des Klägers zu 2.: Diagnose: Angststörung; Verdacht auf Posttraumatische Belastungsstörung
- Bzgl. des Klägers zu 3.: Diagnose: Exposition gegenüber Folterung, Akute Pharyngitis, Verdacht auf Posttraumatische Belastungsstörung, Zustand nach Körperlicher Misshandlung durch Vater
8
Die Klägerin trug vor, dass sie sich mit ihren beiden Söhnen, den Klägern zu 2. und 3., in der Bundesrepublik Deutschland aufhalte. Zudem sei ihre volljährige Tochter in der Bundesrepublik, die hier eine Ausbildung … mache.
9
Mit Bescheid vom 28.03.2023, der Klägerin am 30.03.2023 zugestellt, wurde die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt (Nr. 1). Der Antrag auf Asylanerkennung wurde abgelehnt (Nr. 2). Auch der subsidiäre Schutzstatus wurde nicht zuerkannt (Nr. 3). Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht vor (Nr. 4). Die Kläger wurden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Sollten die Kläger die Ausreisefrist nicht einhalten, würden sie nach Marokko oder in einen anderen Staat abgeschoben, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rücknahme verpflichtet sei (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
10
Die Klägerin zu 1 erhob hiergegen am 05.04.2023 zu Protokoll der Rechtsantragstelle auch als Vertreterin der Kläger zu 2 und 3 Klage mit den Anträgen:
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28.03.25023, Aktenzeichen …, wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, uns als asylberechtigt anzuerkennen, uns den Flüchtlingsstatus und hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen sowie festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen.
11
Zur Begründung wurde auf die Angaben im Rahmen der Asylantragstellung bzw. der Anhörung beim BAMF am 25.01.2024 verwiesen.
12
Mit Schriftsatz vom 13.04.2023 beantragte die Beklagte,
13
Zur Begründung bezog sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
14
Mit Beschluss vom 03.04.2025 wurde Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen.
15
Wegen der weiteren Einzelheiten wird gemäß § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung am 30.04.2025 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
16
Die Klage konnte trotz Ausbleiben der Beklagten verhandelt und entschieden werden, da die Beteiligten auf diese Möglichkeit in der ordnungsgemäßen Ladung hingewiesen worden sind, § 102 Abs. 2 VwGO.
17
Die Klage hat keinen Erfolg.
18
Die Klage ist zulässig, insbesondere ist sie fristgerecht erhoben worden.
19
Sie hat indes in der Sache keinen Erfolg. Der Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt die Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Kläger haben weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG), die Zuerkennung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) noch bestehen Abschiebeverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG. Auch begegnet die Abschiebungsandrohung und die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
20
1. Ein Anspruch der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft besteht nicht.
21
Gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Buchst. a AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK –, BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (sog. Verfolgungsgründe, vgl. zu deren Definition § 3b Abs. 1 AsylG) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten zunächst Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), ferner Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG).
22
Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind gemäß § 3c AsylG der Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatliche Akteure, sofern die in Nummer 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne von § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).
23
Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 AsylG und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen, wobei es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse, oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinen Verfolgern zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG).
24
Einem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e AsylG allerdings nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftsstaates keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
25
Die Furcht vor Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist begründet, wenn dem Ausländer bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt (stRspr, vgl. etwa BVerwG, B.v. 11.12.2019 -1 B 79.19 – juris Rn. 15; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 19, 32).
26
Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erfordert, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Maßgebend ist letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; ein drohender ernsthafter Schaden ist danach beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (stRspr, vgl. etwa BVerwG, B.v. 11.12.2019 – 1 B 79.19 – juris Rn. 15; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32 m.w.N.).
27
Wurde der Ausländer bereits vor der Ausreise in seinem Herkunftsland verfolgt bzw. war er von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht, ist dies nach Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist; das heißt, es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere (unmittelbar drohende) Verfolgungshandlungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 33.18 – juris Rn. 16; U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 15; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 23).
28
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
29
a) Gemessen hieran konnte die Klägerin auch unter Berücksichtigung ihres individuellen Vortrags nicht glaubhaft machen, dass ihr in Marokko mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist der Einzelrichter davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass die Klägerin ihr Heimatland nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung verlassen hat. Denn die Angaben der Klägerin sind nicht geeignet, die Annahme einer vor ihrer Ausreise tatsächlich erlittenen oder unmittelbar drohenden flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung zu rechtfertigen.
30
aa) Etwas anderes ergibt sich zunächst nicht aus der Rechtsprechung des EuGH (U.v. 16.1.2024 – C-621/21; U.v. 4.10.2024 – C-608/22 und C-609/22). Insoweit kann offenbleiben, ob Frauen im Sinne dieser Rechtsprechung in Marokko eine bestimmte soziale Gruppe nach Art. 10 Abs. 1 lit. d RL 2011/95/EU darstellen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG; zu den Voraussetzungen EuGH, U.v. 16.1.2024 – C-621/21 – juris Rn. 57). Jedenfalls müssen unabhängig von dieser Prüfung auch etwaige Verfolgungshandlungen betrachtet werden (EuGH, U.v. 16.1.2024 – C-621/21 – juris Rn. 55). Eine Verfolgung spezifisch gegenüber der Gruppe der Frauen nach Art. 9 Abs. 1 lit. a RL 2011/95/EU (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG; hierzu EuGH, U.v. 16.1.2024 – C-621/21 – juris Rn. 35 ff.) wurde vom EuGH etwa hinsichtlich des vollständigen Fehlens des Schutzes vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt genannt, die eine Form unmenschlicher und erniedrigender Behandlung nach Art. 3 EMRK darstellt (EuGH, U.v. 4.10.2024 – C-608/22 und C-609/22 – juris Rn. 43, 46). Daneben können verschiedene diskriminierende Maßnahmen in der Gesamtschau eine Verfolgungshandlung nach Art. 9 Abs. 1 lit. b RL 2011/95/EU ergeben (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Die Entscheidung des EuGH betraf die Situation von Frauen in Afghanistan unter dem Regime der Taliban. Von einer vergleichbaren Form der Diskriminierung, die in einzelnen Maßnahmen oder in der Kumulierung verschiedener Maßnahmen liegen könnte, kann in Marokko unter Berücksichtigung der aktuellen Auskunftslage indes nicht die Rede sein. Insoweit wird auf die sogleich folgenden Ausführungen zu § 3c Nr. 3 AsylG verwiesen.
31
bb) Die Klägerin fühlt sich letztlich nicht wegen eines individuellen Verfolgungsmerkmals i.S.d. § 3b AsylG bedroht, sondern wegen ihr möglicherweise durch private Dritte, genauer gesagt ihren vormaligen Ehemann, drohenden kriminellen Unrechts. Insoweit fehlt es an einem Akteur nach § 3c Nr. 1 und 2 AsylG. Dies deckt sich mit der Aussage der Klägerin in der Anhörung beim BAMF, in welcher sie äußerte, dass sie keine Probleme mit dem Staat habe.
32
Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln liegen auch nicht die Voraussetzungen des § 3c Nr. 3 AsylG vor. Die Verfolgung kann hiernach auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die in den § 3c Nr. 1 und 2 AsylG genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Nach § 3d Abs. 1 AsylG kann Schutz vor Verfolgung nur geboten werden, vom Staat oder von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, sofern sie willens und in der Lage sind, Schutz gemäß § 3d Abs. 2 AsylG zu bieten. Der Schutz vor Verfolgung muss wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein, § 3d Abs. 2 S. 1 AsylG. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in § 3d Abs. 1 AsylG genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat, § 3d Abs. 2 S. 2 AsylG.
33
Dass der marokkanische Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens ist, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung im Falle häuslicher Gewalt zu bieten, kann im Ergebnis nicht angenommen werden.
34
Aus der dem Einzelrichter zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln ergibt sich in rechtlicher Hinsicht, dass im Jahr 2016 das Gesetz 103.13 zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen verabschiedet wurde. Dies stellt nach dem marokkanischen Familienministerium einen umfassenden Rechtsrahmen für die Bekämpfung aller Formen von Gewalt gegen Frauen dar. Das Gesetz ist im September 2018 in Kraft getreten und zielt darauf ab, Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind, auf vier Dimensionen rechtlichen Schutz zu bieten: Durch Prävention, Schutzmaßnahmen, Strafverfolgung und eine gute Betreuung der Opfer. Durch dieses neue Gesetz wurden die Schutzmaßnahmen der Regierung zufolge verstärkt, denn auch psychische Gewalt werde nun davon abgedeckt. Strafverfolgte Personen dürfen sich für den Zeitraum von einem Jahr ab dem Zeitpunkt der Anklage beispielsweise nicht mehr dem Opfer nähern und ihnen wird jeglicher Kontakt zum Opfer untersagt. Die strafverfolgte Person muss nach der Klage für ein Jahr in eine individuell angepasste psychische Behandlung (zum Ganzen BAMF, Länderkurzinformation Marokko, Situation von Frauen und Mädchen, Stand: 09/2024, S. 1).
35
Dem USamerikanischen Außenministerium zufolge wird häusliche Gewalt gegen Frauen und Minderjährige im marokkanischen Gesetz nicht ausdrücklich definiert. Ein schweres Gewaltvergehen soll hingegen rechtlich allgemein vorliegen, wenn die Verletzungen eines Überlebenden eine Arbeitsunfähigkeit von mind. 20 Tagen zur Folge hat. Ein geringes Gewaltvergehen liegt vor, wenn die Arbeitsunfähigkeit weniger als 20 Tage dauert (zum Ganzen BAMF, Länderkurzinformation Marokko, Situation von Frauen und Mädchen, Stand: 09/2024, S. 1).
36
Auch in internationalen Abkommen hat sich Marokko zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen verpflichtet, aber den Vorrang des Islams geltend gemacht. Beispielsweise ratifizierte Marokko das Fakultativprotokoll zum VN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau im April 2022 (Auswärtiges Amt – Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Marokko, Stand: 23.12.2024, S. 13).
37
In faktischer Hinsicht ist aus den Erkenntnismitteln hinsichtlich häuslicher Gewalt zu entnehmen: Obwohl in Marokko im Jahr 2018 das in Kapitel 1 erwähnte Gesetz 103.13 verabschiedet wurde, das physische, psychische, sexuelle oder wirtschaftliche Gewalt gegen Frauen im privaten und öffentlichen Bereich verbietet, erstattet der UN zufolge nur jede zehnte Frau, die Gewalt erlebt, Anzeige bei der Polizei oder anderen Behörden. Noch weniger von ihnen meldeten demnach Fälle häuslicher Gewalt (in diese Richtung auch Auswärtiges Amt – Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Marokko, Stand: 23.12.2024, S. 14).
38
In einem von der UN durchgeführten Interview mit einem Opfer häuslicher Gewalt erzählte die Betroffene, dass sie „Angst hätte, zur Polizei zu gehen, weil sie von anderen Frauen gehört habe, dass den Frauen, die ihre gewalttätigen Ehemänner bei der Polizei melden wollten, gesagt wurde, dass sie diese Art von Behandlung verdient hätten. Bei den Spezialeinheiten für Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind, sollten die Frauen in Warteräumen voller Männer warten, und sie haben sich blamiert, lächerlich gemacht und gedemütigt gefühlt.“ Demgegenüber gaben die meisten der ca. 20 im September 2015 durch Human Rights Watch befragten Frauen und Mädchen, die häusliche Gewalt erlebt haben, an, dass sie Hilfe bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder den Gerichten gesucht hätten. Jedoch hätten sich die Beamtinnen und Beamten in vielen Fällen entweder geweigert, ihre Aussagen zu protokollieren, die Anzeige zu verfolgen oder gar Ermittlungen aufzunehmen. Die Polizei habe auch Verdächtige häuslicher Gewalt nicht verhaftet, selbst nachdem die Staatsanwaltschaft sie dazu aufgefordert haben soll. In einigen Fällen habe die Polizei nichts weiter unternommen und den mutmaßlichen Opfern gesagt, sie sollten in ihren Haushalt zurückkehren. Allgemein soll die Polizei häusliche Gewalt häufiger als eine gesellschaftliche bzw. private und nicht als eine kriminelle bzw. öffentliche Angelegenheit betrachten. Rechtlich ist körperliche Misshandlung ein anerkannter Scheidungsgrund, aber Human Rights Watch zufolge melden nur wenige Frauen solche Misshandlungen den Behörden (zum Ganzen BAMF, Länderkurzinformation Marokko, Situation von Frauen und Mädchen, Stand: 09/2024, S. 3).
39
Aus den vorstehenden Erkenntnismitteln ergibt sich letztlich nicht, dass der marokkanische Staat derzeit erwiesenermaßen nicht in willens oder in der Lange sind, der Klägerin Schutz nach § 3d AsylG zu bieten. Letztlich ausreichend ist der dargebotene Schutz jedenfalls dann, wenn sich das Niveau der staatlichen Schutzgewährung im konkreten Einzelfall als ausreichend wirksam erweist, um die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer schutzrelevanten Verfolgung bzw. Gefährdung auszuschließen (Wittmann in: BeckOK MigR, 20. Ed. 1.1.2025, § 3d AsylG Rn. 28 m.w.N.; vgl. EuGH, U.v. 20.01.2021, C-255/19 – juris Rn. 57, 60). Absoluter Schutz kann dabei nicht verlangt werden. So zeigt sich, dass in der letzten Dekade verschiedenste Maßnahmen seitens des marokkanischen Staats ergriffen wurden, die Situation für Frauen zu verbessern. Soweit die Erkenntnismittel auf einen Bericht von Human Rights Watch aus dem Jahr 2015 referenzieren, ergibt sich aus diesem freilich nicht, ob sich dies seit den Rechtsänderungen 2016 geändert hat. Aus dem Umstand, dass vielfach keine Anzeige im Falle häuslicher Gewalt erstattet wird, folgt nicht, dass der Schutz so unwirksam wäre, sodass der Maßstab der beachtlichen Gefahr überschritten würde.
40
Aus dem Auskunftsmitteln ergeben sich zudem etliche Anhaltspunkte dafür, dass sich die Lage für Opfer häuslicher Gewalt verbessert hat. So wurden zwischen 2018 und 2021 zahlreiche Einrichtungen aufgebaut, bei denen es sich um soziale Einrichtungen handelt, die eine Vielzahl von Dienstleistungen für Frauen in Not anbieten. Dazu sollen 45 weiteren Zuhör- und Rechtsberatungsstellen für Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind eingerichtet werden. (BAMF, Länderkurzinformation Marokko, Situation von Frauen und Mädchen, Stand: 09/2024, S. 5). Von der regionalen Menschenrechtskommission wurde folgende Auflistung von Hilfseinrichtungen geteilt: Gesundheitssektor: 113 integrierte Einrichtungen, die medizinische Dienste für Frauen und Kinder anbieten, die Opfer von Gewalt geworden sind. Rechtswesen: 105 Einrichtungen für die Behandlung von Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind. Die Einrichtungen sind auf der Ebene der Berufungsgerichte und erstinstanzlichen Gerichten angesiedelt und bieten Dienstleistungen wie die Aufnahme, Beratung, Unterstützung, Orientierung und Rechtsbeistand an. Nationale Sicherheit: 133 Einrichtungen für den Umgang mit weiblichen Opfern von Gewalt in den Stellen von Sicherheitsdiensten der marokkanischen Städte. Diese stehen unter der Aufsicht von Sicherheitsbeamten, zusätzlich zu den 448 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die für die Betreuung der Frauen zuständig sein sollen. Jugendsektor: 168 Räume in Jugend- und Frauenhäusern, in denen weibliche Gewaltopfer Schutz und Unterstützung finden können. Diese sollen auf weitere 368 Berufsbildungszentren ausgeweitet werden. Königliche Gendarmerie: 613 Einheiten für den Umgang mit weiblichen Gewaltopfern wurden regional in 28 Justizabteilungen, 90 Justizzentren und 495 Polizeistationen eingerichtet (BAMF, Länderkurzinformation Marokko, Situation von Frauen und Mädchen, Stand: 09/2024, S. 5).
41
cc) Jedenfalls steht der Klägerin bei einer Rückkehr nach Marokko eine die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausschließende zumutbare inländische Fluchtalternative i.S.d. § 3e AsylG zur Verfügung. Der Klägerin ist ein Umzug in eine andere große Stadt möglich und zumutbar, insbesondere wäre dort auch ihr Existenzminium gesichert (in diesem Sinne OVG NW, B.v. 2.9.2021 – 1 A 184/20.A – juris Rn. 11; VG Saarland, U.v. 24.9.2021 – 3 K 712.20 – juris Rn. 79; VG Augsburg, Urt. v. 5.6.2023 – 4 K 22.30200 – juris Rn. 23). Das deckt sich mit den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln. Es gibt kein zentrales Melderegister in Marokko (Auswärtiges Amt – Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Marokko, Stand: 23.12.2024, S. 23), sodass nicht davon auszugehen ist, dass ihr vormaliger Ehemann oder seine Familie sie finden würde. Angesichts der Größe Marokkos und der Größe der dortigen Städte sowie der dortigen Infrastruktur, hält es das Gericht nicht für beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin befürchten müsste, von ihren Angehörigen entdeckt und gefährdet zu werden, zumal nicht auszuschließen ist, dass bei gewalttätigen Übergriffen nicht doch die Polizei bzw. Sicherheitskräfte schutzbereit und schutzfähig wären, wenn auch ein absoluter Schutz naturgemäß nicht gewährleistet werden kann (vgl. VG Saarlouis, U.v. 24.9.2021 – 3 K 712/20 – juris Rn. 79; VG Augsburg, U.v. 5.6.2023 – Au 4 K 22.3022 – juris Rn. 23).
42
b) Vorstehende Erwägungen gelten auch für die Kläger zu 2) und 3).
43
2. Eine Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG scheitert bereits an Art. 16a Abs. 2 GG, da die Kläger über Festland-Europa nach Deutschland gelangt sind.
44
3. Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf Zuerkennung eines subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG.
45
Nach § 4 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt dabei die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AsylG), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG).
46
a) Die Klägerin hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihr bei einer Rückkehr nach Marokko ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bis 3 AsylG droht. Wie bereits oben ausgeführt, besteht jedenfalls eine innerstaatliche Fluchtalternative, was die befürchtete Bedrohung durch ihren vormaligen Ehemann bzw. Vater angeht.
47
b) Auch die derzeitige humanitäre Situation in Marokko rechtfertigt nicht die Zuerkennung subsidiären Schutzes. Es fehlt nämlich insoweit bereits an einem Akteur nach § 3c AsylG.
48
4. Durchgreifende Anhaltspunkte für das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergeben sich nach dem Klägervorbringen nicht.
49
a) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG ergibt sich insbesondere nicht aus dem Umstand, dass die Klägerin als alleinstehende Frau mit zwei Kindern nach Marokko zurückkehren würde. Vorliegend ist nämlich davon auszugehen, dass die Kläger als gelebte Kernfamilie gemeinsam zurückkehren würden (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris Rn. 14 ff.).
50
Zu Maßstab des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK führt das BVerwG (U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris Rn. 12) zusammenfassend aus:
„Eine Verletzung des Art. 3 EMRK kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei „nichtstaatlichen“ Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein „verfolgungsmächtiger Akteur“ (§ 3c AsylG) fehlt, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12 Rn. 25; s.a. Urteil vom 13. Juni 2013 – 10 C 13.12 – BVerwGE 147, 8 Rn. 25). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein „Mindestmaß an Schwere“ (minimum level of severity) aufweisen (vgl. EGMR <GK>, Urteil vom 13. Dezember 2016 – Nr. 41738/10, Paposhvili/Belgien – Rn. 174; EuGH, Urteil vom 16. Februar 2017 – C-578/16 PPU [ECLI:ECLI:EU:C:2017:127], C.K. u.a. – Rn. 68); es kann erreicht sein, wenn er seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (s.a. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 – 1 B 25.18 – NVwZ 2019, 61 Rn. 11). In seiner jüngeren Rechtsprechung stellt der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 – C-297/17 u.a. [ECLI:ECLI:EU:C:2019:219], Ibrahim – Rn. 89 ff. und – C-163/17 [ECLI:ECLI:EU:C:2019:218], Jawo – Rn. 90 ff.) darauf ab, ob sich die betroffene Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre““ (zum Ganzen BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris Rn. 12).
51
Die Kläger würden im Fall ihrer Abschiebung nach Marokko nach Überzeugung des Einzelrichters nach der Erkenntnislage keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass ihre elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nach obigen Maßstäben nicht gesichert wären (vgl. in diesem Sinne OVG NW, B.v. 22.8.2019 – 1 A 2616/19.A – juris Rn. 17 ff.; VG Cottbus, U.v. 15.12.2022 – 5 K 299/20.A – juris; VG Würzburg, U.v. 20.1.2020 – W 8 K 19.30861 – juris; VG Saarland, U.v. 24.9.2021 – 3 K 712.20 – juris Rn. 79 ff.; VG Augsburg, U.v. 5.6.2023 – Au 4 K 22.3022 – juris Rn. 27 ff.).
52
Diese Einschätzung kann auch auf die aktuelle Erkenntnislage gestützt werden.
53
Die Arbeitslosenquote unter Frauen und jungen Menschen betrug im 1. Quartal 20,1% bzw. 35,9%, wobei sich die Arbeitslosigkeit zwischen Stadt und Land unterscheidet (Marokko, Länderinformation 2024, S. 5). Dies deckt sich mit Informationen des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl für das Jahr 2024 (BFA, Länderinformationen der Staatendokumentation, Marokko, Version 9, Stand: 25.11.2025, S. 38). Probleme bereitet hiernach die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit von 13,3%. Besonders hoch fällt diese mit 17% in städtischen Gebieten aus. Bei den 15- bis 24-Jährigen liegt die Arbeitslosenquote sogar bei 38,2%, wovon 49,7% auf urbane und 23,3% auf ländliche Regionen entfallen (BFA, Länderinformationen der Staatendokumentation, Marokko, Version 9, Stand: 25.11.2025, S. 38 unter Verweis auf GTAI 31.5.2024).
54
Das BFA (Länderinformationen der Staatendokumentation, Marokko, Version 9, Stand: 25.11.2025, S. 28 f.) führt spezifisch zur Lage von Frauen in Marokko aus:
„Die Armut ist weit verbreitet. Das Lohngefälle ist nach wie vor groß. Frauen verdienen 30% weniger als ihre männlichen Kollegen, und während nur 64% der weiblichen Arbeitskräfte entlohnt werden, sind es bei den Männern 91%. Laut Weltbank lag der Anteil der weiblichen Arbeitskräfte an der gesamten Erwerbsbevölkerung im Jahr 2022 bei 25,7%. Gleichzeitig stehen acht von zehn Frauen laut der unabhängigen staatlichen Statistikbehörde HCP [Haut Commissariat au Plan] nicht auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Der Zugang von Frauen zu administrativen und wirtschaftlichen Entscheidungspositionen ist ebenfalls zurückgegangen (BS 19.3.2024). Obwohl die Gleichstellung der Geschlechter auch in der Verfassung von 2011 anerkannt wurde werden Frauen auf gesellschaftlicher Ebene weiterhin erheblich diskriminiert und sind in der Erwerbsbevölkerung unterrepräsentiert (FH 25.4.2024a). Das Gesetz fordert gleichen Lohn für gleiche Arbeit, was in der Praxis jedoch oft nicht der Fall ist (USDOS 23.4.2024).“
55
Gleichwohl ist damit auch festzuhalten, dass – selbst für eine ledige Mutter ohne Berufsausbildung – nicht unmöglich ist, eine Arbeit zu finden (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 21.02.2020, Gz. 508-516.80/53918, S. 5; VG Augsburg, U.v. 5.6.2023 – Au 4 K 22.3022 – juris Rn. 28 m.w.N.).
56
Auch die individuell in der Person der Klägerin liegenden Umstände sprechen nicht dafür, dass im Fall einer Abschiebung dies mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass die elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären. So hat die gesunde Klägerin mittleren Alters Schulbildung bis zur 9. Klasse genossen, auch wenn sie letztlich ihre Schulausbildung nicht formal abgeschlossen hat. Daneben ist festzustellen, dass die Klägerin in Marokko bereits arbeitstätig war und sie nach ihren eigenen Bekundungen auch nach der Heirat gerne wieder arbeiten gegangen wäre, dies aber durch den Ehemann unterbunden worden sei. Auch war die Klägerin in Deutschland bereits berufstätig. Die Klägerin zeigt damit, dass sie auch unter widrigen Umständen in der Lage ist, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dies deckt sich mit den Ausführungen der Klägerin in ihrer persönlichen Anhörung vor dem BAMF. Dort hat sie gesagt, dass sie sich im Falle ihrer Scheidung alleine durchschlagen würde. Sie wolle aber lieber in Deutschland bleiben. Wie die Klägerin in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt hat, hat sie sich zudem zwischenzeitlich tatsächlich von ihrem Ehemann scheiden lassen. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Kläger zu 2. (geb. 2008) und zu 3. (geb. 2010) aufgrund ihres Alters keiner durchgehenden elterlichen Aufsicht durch die Klägerin mehr bedürfen, was damit der Aufnahme einer Arbeitstätigkeit durch die Klägerin nicht entgegenstünde. Der 2008 geborene Kläger zu 2. kann zudem zumutbarerweise selbst auch darauf verwiesen werden, einer Arbeitstätigkeit in Marokko nachzugehen und die Kernfamilie damit zu unterstützen. Bei lebensnaher Betrachtung kann die Klägerin auch auf eine finanzielle Unterstützung durch ihre in Deutschland lebende Tochter rechnen, die einer Arbeitstätigkeit nachgeht. Zu dieser hat sie nach ihren Ausführungen in der mündlichen Verhandlung offenbar ein gutes Verhältnis. Es kommt hinzu, dass Hilfswerke spezifisch auch ledige bzw. alleinstehende Frauen unterstützen. Diese Hilfswerke unterstützen alleinstehende Frauen mit Kindern bei der Reintegration in Familie, bei der Suche nach Arbeit, Wohnung sowie eines Kitaplatzes, helfen bei administrativen Aufgaben, begleiten zu medizinischen Behandlungen und bieten psychologische Unterstützung und juristische Beratung an (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 21.02.2020, Gz. 508-516.80/53918, S. 5; VG Augsburg, U.v. 5.6.2023 – Au 4 K 22.3022 – juris Rn. 27 m.w.N.). Dies wird mittlerweile flankiert durch die oben genannten staatlichen Hilfsangebote. In Großstädten finden alleinstehende Frauen zudem häufiger Zimmer oder Wohnungen oder teilen sich diese mit anderen Frauen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 21.02.2020, Gz. 508-516.80/53918, S. 3; VG Augsburg, U.v. 5.6.2023 – Au 4 K 22.3022 – juris Rn. 27 m.w.N.). Daneben bestehen freiwillige Rückkehrhilfen zur Verfügung, die in Anspruch genommen werden könnten (VG Köln, B.v. 11.9.2024 – 27 L 1541/24.A – juris Rn. 35; VG Düsseldorf, U.v. 29.1.2024 – 23 K 2358/22.A – juris Rn. 5). Berichte mit der Information, Rückkehrer nach Marokko würden verelenden, liegen nicht vor und sind auch in der Rechtsprechung nicht ersichtlich.
57
Im Übrigen wird auf die zutreffenden Ausführungen im Bescheid verwiesen.
58
Angesichts dieser Umstände ändert auch der Umstand nichts, dass die Klägerin nach ihrem Vorbringen im Rahmen der Scheidung von ihrem Ehemann ihr Vermögen verloren haben soll.
59
b) Daneben besteht zugunsten der Kläger auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG.
60
Das Bundesverwaltungsgericht führt aus:
„Allerdings gehört zur Substantiierung eines Sachverständigenbeweisantrags, der das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen PTBS zum Gegenstand hat, angesichts der Unschärfen des Krankheitsbildes sowie seiner vielfältigen Symptome regelmäßig die Vorlage eines gewissen Mindestanforderungen genügenden fachärztlichen Attests. Aus diesem muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben. Wird das Vorliegen einer PTBS auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt und werden die Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen, so ist in der Regel auch eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist. Diese Anforderungen an die Substantiierung ergeben sich aus der Pflicht des Beteiligten, an der Erforschung des Sachverhalts mitzuwirken (§ 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO), die in besonderem Maße für Umstände gilt, die in die eigene Sphäre des Beteiligten fallen (vgl. Beschluss vom 16. Februar 1995 – BVerwG 1 B 205.93 – Buchholz 451.20 § 14 GewO Nr. 6)“ (BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 – 10 C 8/07 –, BVerwGE 129, 251-264, Rn. 15)
61
Die von der Klägerseite bereits bei der Anhörung vor dem BAMF vorgelegten Dokumente entsprechen diesen Anforderungen nicht. Diese sind mehrere Jahre alt. Aktuelle Beschwerden wurden zudem durch die Kläger nicht geltend gemacht und kamen auch in der mündlichen Verhandlung nicht zur Sprache.
62
5. Auch die Abschiebungsandrohung aus Ziffer 5 des streitgegenständlichen Bescheids ist rechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere sind keine Gründe des § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AsylG zu erkennen. Das Vorbringen der Klägerin hinsichtlich des Aufenthalts ihrer erwachsenen Tochter in Deutschland ist nicht ausreichend, entgegenstehende familiäre Bindungen anzunehmen, die eine Trennung unzumutbar erscheinen lassen. So war die Tochter etwa bereits einige Jahre in Deutschland, als die Kläger nach Deutschland nachgekommen sind. Eine gegenseitige Abhängigkeit der Kläger und der nicht mehr zur Kernfamilie zählenden Tochter ist nicht ersichtlich (Waldvogel, NJOZ 2024, 545/548).
63
6. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziffer 6 des streitgegenständlichen ist ebenso rechtmäßig. Auf die zutreffende Begründung im streitgegenständlichen Bescheid wird Bezug genommen.
64
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 154 Abs. 1, § 159 Satz 2 VwGO. Als im Verfahren unterlegen haben die Kläger die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
65
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.