Titel:
Abschiebungsandrohung bei unzulässigem Asylantrag - Nachgeborenes Kind mit Aufenthaltsgestattung
Normenkette:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, § 35, § 55 Abs. 1 S. 1, § 78 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 2, Abs. 4 S. 4
Leitsätze:
1. Ein nach § 55 Abs. 1 S. 1 AsylG rechtmäßiger Aufenthalt eines Kindes oder Familienmitglieds ist grundsätzlich geeignet, den Tatbestand des § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AsylG zu erfüllen. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dies schließt jedoch nicht aus, bei der Prüfung, ob der Abschiebung das Kindeswohl und/oder familiäre Bindungen entgegenstehen, auch weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Abschiebungsandrohung bei unzulässigem Asylantrag, Nachgeborenes Kind mit Aufenthaltsgestattung, Berücksichtigung des Kindeswohls, (keine) grundsätzliche Bedeutung, unzulässiger Asylantrag, Abschiebungsandrohung, nachgeborenes Kind mit Aufenthaltsgestattung, Kindeswohl, familiäre Bindungen, grundsätzliche Bedeutung, Divergenz
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 07.11.2024 – M 6 K 24.30507
Fundstelle:
BeckRS 2025, 16990
Tenor
I. Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 7. November 2024 – M 6 K 24.30507 – wird abgelehnt.
II. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Bevollmächtigten wird abgelehnt.
III. Die Kläger haben die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
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Die Kläger wenden sich (nur) gegen eine Abschiebungsandrohung in das Königreich Spanien (im Folgenden: Spanien) und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot, die im Rahmen der Ablehnung ihrer Asylanträge als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG erlassen worden sind. Ihre diesbezügliche Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen, da die in Deutschland nachgeborene Tochter gegenwärtig nur über eine Aufenthaltsgestattung für die Dauer ihres Asylverfahrens verfüge. Deshalb sei eine weitergehende Prüfung der Frage, ob ihr Bleiberecht in der Bundesrepublik der Rückführung der Familie als Ganzes nach Spanien entgegenstehen könnte, nicht veranlasst.
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Dagegen wenden sich die Kläger mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung und machen geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung. Es sei die Frage zu klären, „ob bei dem Erlass einer Abschiebungsandrohung bei einem Ausländer, dessen Schutzbegehren negativ verbeschieden worden ist, auch dann im Sinne von § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG das Kindeswohl und/oder familiäre Bindungen entgegenstehen können, wenn der weitere Aufenthalt des betroffenen Kindes bzw. des betroffenen Familienmitglieds im Bundesgebiet sich noch „nur“ im Asylverfahren befindet und der Aufenthalt dementsprechend „nur“ gem. § 55 AsylG für die Durchführung des Asylverfahrens gestattet ist.“
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Zur Begründung wird geltend gemacht, diese Frage würde in der obergerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet.
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Zudem liege eine Divergenz zur Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 1. August 2023 (Az. 6 ZB 22.31073) vor. Dort sei ausgeführt, dass ein unterschiedlicher Verlauf der Asylverfahren der einzelnen Familienmitglieder und eine dadurch etwa verursachte Verletzung des Kindeswohls bzw. der zu betrachtenden familiären Bindungen der betroffenen Ausländer vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vor Erlass der Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen sei.
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Das Bundesamt hat die Asylakte des nachgeborenen Kindes übersandt. Daraus ergibt sich, dass die Kläger zu 1 und 2 am 6. August 2024 das Formular „Aufrechterhaltung der Familieneinheit (gem. Art. 9 Dublin III-Verordnung)“ unterschrieben und angekreuzt haben, dass sie nicht wünschen, dass das Asylverfahren ihres Kindes in dem Mitgliedstaat durchgeführt wird, in dem sie bereits internationalen Schutz erhalten haben. Der Asylantrag solle in Deutschland geprüft werden, auch wenn sie selbst voraussichtlich keinen Schutz in Deutschland erhalten werden.
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Des Weiteren kann aus der Asylakte der nachgeborenen Tochter entnommen werden, dass das Bundesamt ihren Asylantrag mit Bescheid vom 24. Oktober 2024 bezogen auf Afghanistan als unbegründet abgelehnt, Abschiebungsverbote bezogen auf Spanien verneint und die Abschiebung nach Spanien angedroht hat. Gegen den Bescheid haben die Kläger zu 1 und 2 für ihre Tochter am 5. November 2024 Klage erhoben (M 6 K 24.33522) über deren Ausgang weder die Kläger noch die Beklagte etwas vorgetragen haben.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, denn keiner der in § 78 Abs. 3 AsylG genannten Berufungszulassungsgründe ist hinreichend dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
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Die Berufung ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zuzulassen. Zur Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung ist erforderlich, dass eine konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und klärungsfähig, insbesondere entscheidungserheblich, ist; ferner, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 72; Seeger in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.4.2025, § 78 AsylG Rn. 18 ff.).
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Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist oder aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne weiteres beantwortet werden kann (vgl. BVerwG, B.v. 19.1.2022 – 1 B 83.21 – juris Rn. 21).
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Die von den Klägern gestellte Frage ist bereits in der Rechtsprechung hinreichend geklärt (vgl. NdsOVG, B.v. 27.6.2024 – 4 LA 21/24 – juris; SächsOVG, B.v. 14.10.2024 – 4 A 303/23.A – juris) und lässt sich überdies mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung ohne weiteres dahingehend beantworten, dass ein nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG rechtmäßiger Aufenthalt eines Kindes oder Familienmitgliedes grundsätzlich geeignet ist, den Tatbestand des § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG zu erfüllen (zur Anwendbarkeit des § 34 AsylG auf Abschiebungsandrohungen nach § 35 AsylG vgl. BVerwG, U.v. 24.4.2024 – 1 C 8.23 – juris Rn. 23 f.). Dies schließt es jedoch nicht aus, bei der Prüfung, ob der Abschiebung das Kindeswohl und/oder familiäre Bindungen entgegenstehen, auch die für die Verstetigung des rechtmäßigen Aufenthalts maßgebenden Erfolgsaussichten und/oder die Dauer des Asylverfahrens sowie weitere Gesichtspunkte einzustellen. Hier kann daher auch berücksichtigt werden, dass die Kläger bewusst eine Behandlung des Asylantrags ihres nachgeborenen Kindes in Deutschland wünschten, obwohl nach Art. 9 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl Nr. L 180 vom 29.6.2013, S. 31) – Dublin III-VO – auch die Möglichkeit bestand, die Zuständigkeit Spaniens zu wählen. Darüber hinaus war über das Asylverfahren des nachgeborenen Kindes vom Bundesamt schon vor Erlass des streitgegenständlichen Urteils mit Bescheid vom 24. Oktober 2024 negativ entschieden worden und die Tochter kann im Rahmen des Familiennachzugs (Art. 23 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl Nr. L 337 S. 9, ber. ABl 2017 Nr. L 167 S. 58) – Anerkennungsrichtlinie – zu den international schutzberechtigten Klägern nach Spanien nachziehen, was auch dem Kindeswohl i.S.v. Art. 5 der RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl Nr. L 348 S. 98) – Rückführungsrichtlinie – entspricht. Dass das Verwaltungsgericht diese Aspekte nicht genannt und deshalb möglicherweise nicht erwogen hat, führt nicht dazu, dass eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache anzunehmen wäre.
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Darauf, ob das Verwaltungsgericht den von der Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen an die Prüfung des Kindeswohls im Einzelfall ausreichend und zutreffend Rechnung getragen hat, kommt es bei der Zulassungsentscheidung nicht an (vgl. BayVGH, B.v. 5.6.2023 – 11 ZB 23.30200 – juris Rn. 7). Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils oder besondere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten sind als Zulassungsgrund in der abschließenden und gegenüber § 124 VwGO vorrangigen Regelung des § 78 Abs. 3 AsylG nicht vorgesehen.
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2. Die Berufung ist auch nicht wegen einer Abweichung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG zuzulassen. Zur Darlegung einer Divergenz ist es erforderlich, aufzuzeigen, welchem abstrakten Rechtssatz oder verallgemeinerungsfähigen Tatsachensatz der Entscheidung des Divergenzgerichts ein bei der Anwendung derselben Rechtsvorschrift in der angefochtenen Entscheidung aufgestellter Rechts- oder Tatsachensatz widerspricht und dass die angefochtene Entscheidung auf dieser Abweichung beruht. Dem wird der Zulassungsantrag nicht gerecht. Es wird nur eine Textpassage des Beschlusses des Verwaltungsgerichtshofs vom 1. August 2023, 6 ZB 22.31073, mit dem ein Berufungszulassungsantrag abgelehnt worden ist, zitiert, aber nicht dargelegt, welcher Rechts- oder Tatsachensatz bei Anwendung welcher Rechtsvorschrift dort aufgestellt worden ist, von dem das Verwaltungsgericht abgewichen sein soll. Nachdem § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. erst nach Erlass dieses Beschlusses in Kraft getreten ist und der Beschluss eine Familie betraf, die nicht in ein anderes europäisches Land, sondern in ihr Heimatland zurückkehren musste, wären dazu jedenfalls konkrete Ausführungen erforderlich gewesen, weshalb gleichwohl eine Divergenz vorliegt. Im Übrigen hat der Verwaltungsgerichtshof die von den dortigen Klägern aufgeworfene Frage, ob eine Rückkehrentscheidung vor dem Abschluss der Asylverfahren aller Familienmitglieder ergehen darf, dahingehend beurteilt, dass sie einer grundsätzlichen Klärung bereits nicht zugänglich ist, da sie sich nicht allgemeingültig, sondern nur anhand der Umstände des jeweiligen Einzelfalles beantworten lässt. Entscheidend sind insbesondere die konkret-individuellen Umstände des Familienlebens und die Frage, inwieweit im Einzelfall eine geschützte Eltern-Kind Gemeinschaft vorliegt (vgl. BayVGH, B.v. 1.8.2023 – 6 ZB 22.31073 – juris Rn. 33). Es ist nicht ersichtlich, dass das Verwaltungsgericht einen anderen Rechtssatz aufgestellt hat, sondern es ist unter Anwendung dieser Prämissen zu dem Ergebnis gekommen, dass im vorliegenden Fall eine Aufenthaltsgestattung des nachgeborenen Kindes nicht ausreicht, um die Abschiebungsandrohung hinsichtlich der Kläger rechtswidrig sein zu lassen.
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3. Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Prozessbevollmächtigten war abzulehnen, da die Rechtssache nach den Ausführungen unter 1. und 2. keine hinreichenden Aussichten auf Erfolg hat.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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5. Dieser Beschluss, mit dem das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).