Titel:
Aufnahmezusage, Antragsgegner, Änderung der Verwaltungspraxis, Einstweilige Anordnung, Verwaltungsgerichte, Widerrufsbescheid, Befähigung zum Richteramt, Anordnungsgrund, Aufnahmebescheid, Vorläufiger Rechtsschutz, Anordnungsanspruch, Selbstbindung der Verwaltung, Staatsangehörigkeit, Antragstellers, Aufnahmeanordnung, Wert des Beschwerdegegenstandes, Sicherheitsbedenken, Anhörungsverfahren, Festsetzung des Streitwerts, Unterbringung
Normenketten:
AufenthG § 23 Abs. 2
Anordnung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat gemäß § 23 Absatz 2, Absatz 3 i.V.m. § 24 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) zur Aufnahme von besonders gefährdeten afghanischen Staatsangehörigen aus Afghanistan vom 19. Dezember 2022
GG Art 3 Abs. 1
Schlagworte:
Einstweiliger Rechtsschutz, Widerruf von Aufnahmezusagen, Sicherheitsbedenken, Verwaltungspraxis, Selbstbindung der Verwaltung, Gleichbehandlungsgrundsatz, Abschiebeschutz
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 27.06.2025 – 19 CE 25.965
Fundstelle:
BeckRS 2025, 16968
Tenor
1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragsteller begehren im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die Verpflichtung der Antragsgegnerin, die Antragsteller bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms Afghanistan durch die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Islamabad unterzubringen und zu versorgen sowie den ihnen ausgestellten Schutzbrief aufrechtzuerhalten.
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Die Antragsteller sind afghanische Staatsangehörige. Sie halten sich momentan in … in Pakistan auf.
3
Mit Aufnahmebescheid vom 13. November 2023 erteilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin zu 1) als Hauptperson und dem Antragsteller zu 2) als Ehemann der Hauptperson eine Aufnahmezusage gemäß § 23 Abs. 2 AufenthG i.V.m. der Anordnung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat gemäß § 23 Absatz 2, Absatz 3 i.V.m. § 24 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) zur Aufnahme von besonders gefährdeten afghanischen Staatsangehörigen aus Afghanistan vom 19. Dezember 2022 (im Folgenden: Aufnahmeanordnung).
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Mit Bescheid vom 22. April 2025 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) den Aufnahmebescheid vom 13. November 2023 gemäß dem Vorbehalt nach §§ 49 Abs. 2 Nr. 1, 36 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG.
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Zur Begründung führte die Antragsgegnerin insbesondere aus, dass der Widerruf aufgrund des Bestehens von Sicherheitsbedenken i.S.d. Punkt 4 Satz 3 lit. a der Aufnahmeanordnung erfolge. Aus der persönlichen Befragung des Antragstellers zu 2) hätten sich Anhaltspunkte ergeben, die die Annahme rechtfertigten, der Antragsteller zu 2) habe vorsätzlich falsche Angaben gemacht und eine zumutbare Mitwirkung am Verfahren verweigert. Die Einlassungen stünden außerdem im Widerspruch zu anderen vorliegenden Informationen zu der Verwendung innerhalb des Militärdienstes.
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Mit Schriftsatz vom 23. April 2025 haben die Antragsteller Klage gegen den Bescheid vom 22. April 2025 erhoben und beantragen im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes,
die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung gem. § 123 VwGO zu verpflichten, die Antragsteller*innen bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren weiterhin im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms Afghanistan durch die GIZ in Islamabad unterzubringen und zu versorgen sowie den ihnen ausgestellten Schutzbrief aufrechtzuerhalten.
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Zur Begründung haben die Antragsteller vorgetragen, dass alle Menschen mit einer Aufnahmezusage im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms (im Folgenden: BAP) durch die GIZ in Islamabad untergebracht und versorgt würden. Die GIZ organisiere auch die Kommunikation zwischen den Antragstellern und dem Bundesamt. Das Verfahren direkt zu betreiben sei nicht möglich. Zusammen mit der Aufnahmezusage erhalte man auch eine Art „Schutzbrief“, mit dem man gegenüber pakistanischen Behörden nachweisen könne, dass man sich in einem Aufnahmeverfahren nach Deutschland befinde und nicht nach Afghanistan abgeschoben werden dürfe. Anfang 2025 habe die pakistanische Regierung eine Abschiebungskampagne gegen in Pakistan lebende afghanische Staatsbürger angekündigt, die ab April 2025 beginnen solle. Nur Personen mit „Schutzbrief“ seien noch bis Juni 2025 vor Abschiebungen geschützt. Bei einem Ende der Unterbringung drohe damit die Obdachlosigkeit und die Abschiebung von Pakistan nach Afghanistan. In Pakistan hätten die Antragsteller weder ein Hilfsnetzwerk von Freunden oder Familie noch ein Einkommen. In Afghanistan bestehe eine besondere Gefährdung von gewaltsamen Repressalien durch die Taliban, was auch Grund für die Erteilung der Aufnahmezusage gewesen sei. Der angefochtene Bescheid sei aufgrund der Klage noch nicht bestandskräftig, die Aufnahmezusage sei damit noch nicht wirksam widerrufen. Die begehrte vorläufige Anordnung der weiteren Unterbringung und Unterstützung sei nötig, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Die Entscheidung in der Hauptsache sei nicht abzuwarten, da die GIZ von den Antragstellern verlange, die Unterkunft am 30. April 2025 zu verlassen. Selbst bei einer kurzfristigen Verlängerung dieser Frist sei die Gefahr hoch, dass die Unterkunft sehr bald verlassen werden müsse.
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Mit Schreiben vom 29. April 2025 haben die Antragsteller ergänzt, dass die Unterstützung am 30. April 2025 eingestellt werde und die Antragsteller damit die Unterkunft verlassen müssten. Die Zusammenarbeit mit der GIZ im Aufnahmeverfahren sei verpflichtend. Ohne Zusammenarbeit mit der GIZ seien die verschiedenen Verfahrensschritte in Pakistan für die Antragsteller nicht umsetzbar. Es bestehe für individuelle Antragsteller kein Möglichkeit Kontakt mit der Botschaft oder anderen Akteuren des Aufnahmeverfahrens zu bekommen. Dies zeige, dass die Unterstützung durch die GIZ kein freiwilliges Angebot sei, sondern ein fester Bestandteil des Aufnahmeprogramms. Die komplette Kommunikation zwischen den Antragstellern und der Antragsgegnerin laufe über die GIZ, die sogar die Zustellung der Bescheide übernehme. Eine Erreichbarkeit der Antragsteller sei ausschließlich über die GIZ gewährleistet.
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Zudem zeige sich in mehreren (im Schreiben zitierten) Aussagen des BMI und seiner Vertreter, dass die Unterstützung nicht nur freiwillige Leistung war, sondern Bestandteil eines Aufnahmebescheids. Es bestehe darüber hinaus auch akut die Gefahr der Abschiebung nach Afghanistan. Seit 2023 seien alle Ausländer ohne Aufenthaltstitel für Pakistan von Abschiebung bedroht. Dazu gehörten auch Personen im Ausreiseverfahren nach Deutschland. Darauf habe die Antragsgegnerin auch im Dezember 2023 mit einer Verfahrensanpassung reagiert. Die pakistanische Regierung habe angekündigt, ab April 2025 auch Menschen abzuschieben, die sich im Aufnahmeverfahren befinden, aber noch nicht aufgenommen sind.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte verwiesen.
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Der Antrag im einstweiligen Rechtsschutz bleibt erfolglos.
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Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO).
13
Eine einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO setzt sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes aufgrund Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) als auch einen Anordnungsanspruch voraus, d.h. die bei summarischer Überprüfung der Sach- und Rechtslage hinreichende Aussicht auf Erfolg oder zumindest auf einen Teilerfolg des geltend gemachten Begehrens in einem (etwaigen) Hauptsacheverfahren. Das Vorliegen eines derartigen Anordnungsgrunds und Anordnungsanspruchs ist vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
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Ein Anordnungsgrund ist hinsichtlich des „Schutzbriefs“ schon nicht glaubhaft gemacht. Es ist insoweit nicht dargetan, dass der durch die Deutsche Botschaft ausgestellte „Schutzbrief“, mit dem nachgewiesen werden kann, dass ein Ausreiseverfahren durchlaufen wird, eingezogen werde oder die Antragsteller auf andere Art von dessen Gebrauch abgehalten werden sollen.
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Im Hinblick auf die Unterstützung durch Unterbringung und Verpflegung durch die GIZ ist zwar ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, nachdem die GIZ zuletzt mit EMail vom 29. April 2025 mitgeteilt hat, dass trotz der Aufhebungsklage mit aufschiebender Wirkung gegen den Widerrufsbescheid ab dem 30. April 2025 keine Unterstützung durch die GIZ erfolgen könne. Ein Anordnungsanspruch ist jedoch nicht dargelegt.
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Es ist schon eine Rechtsgrundlage für einen Anspruch auf die Gewährleistung der begehrten Unterstützung weder dargetan noch ist eine solche ersichtlich.
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Die Unterstützung durch Unterbringung, Verpflegung und Ausstellung des „Schutzbriefs“ folgt weder aus der Aufnahmeanordnung des BMI, noch aus der Aufnahmezusage selbst.
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Auch aus dem Grundsatz der Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. der Verwaltungspraxis des Bundesamts ergibt sich nach dem Vorbringen der Antragsteller kein Anspruch aufgrund einer Selbstbindung der Antragsgegnerin. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ebenso wie des Bundesverwaltungsgerichts ist zwar anerkannt, dass die tatsächliche Verwaltungspraxis sowohl aufgrund des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) als auch des im Rechtsstaatsprinzip verankerten Gebots des Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs. 3 GG) zu einer Selbstbindung der Verwaltung führen kann (BVerfG, B.v. 13.6.2006 – 1 BvR 1160/03 – juris Rn. 64 f.; BVerwG, U.v. 21.8.2003 – 3 C 49.02 – juris Rn. 14). Durch eine etablierte Verwaltungspraxis wird die Verwaltung auch für die Zukunft an ihre bisherige Entscheidungspraxis gebunden und kann von dieser Praxis nicht ohne sachlichen Grund abweichen, sodass sich ein Leistungsanspruch damit ergeben kann, wenn ein Anspruchsteller die nach der Verwaltungspraxis bestehenden Voraussetzungen erfüllt, aber dennoch nicht begünstigt wurde. Möglich bleibt damit lediglich eine Abweichung bei hinreichender Rechtfertigung im Einzelfall oder als generelle Änderung der Verwaltungspraxis (vgl. Huber/Voßkuhle/Wollenschläger, 8. Aufl. 2024, GG, Art. 3 Rn. 192ff.; von Münch/Kunig/Boysen, 7. Aufl. 2021, GG, Art. 3 Rn. 42, 76 ff.; Jarass/Pieroth/Jarass, 18. Aufl. 2024, GG, Art .3 Rn. 44f.). Voraussetzung eines Anspruchs aufgrund Selbstbindung der Verwaltung ist demzufolge sowohl eine etablierte Verwaltungspraxis als auch gleichzeitig die Zugehörigkeit zu derjenigen Gruppe, auf die sich diese Verwaltungspraxis bezieht.
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Im vorliegenden Fall ist gemessen hieran schon nicht glaubhaft gemacht, dass tatsächlich eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem besteht. Selbst wenn davon ausgegangen wird, dass alle Personen mit einer Aufnahmezusage, die streitgegenständliche Unterstützung erhalten, liegen in der Person der Antragsteller Gründe vor, die sie von der Gruppe der Übrigen mit einer Aufnahmezusage in Pakistan befindlichen afghanischen Staatsbürgern, die von der GIZ im Auftrag der Antragsgegnerin insbesondere durch Unterbringung und Verpflegung unterstützt werden, unterscheiden. Ihre Aufnahmezusage wurde nämlich (wenn auch bisher nicht bestandskräftig) widerrufen, so dass insoweit bereits ein sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung besteht. Auch in den Sicherheitsbedenken der Antragsgegnerin, die auf Tatsachen – den Äußerungen des Antragstellers zu 2) im Sicherheitsgespräch – beruhen, liegt ein Anknüpfungspunkt für eine gerechtfertigte Ungleichbehandlung. Die Aussage des Antragstellers zu 2) im Anhörungsverfahren, er habe die Fragen, die ihm bei der Befragung am 15. März 2024 zu seinem Militärdienst gestellt worden seien, so gut beantwortet, wie es ihm nach der langen Zeit möglich gewesen sei, ist nicht geeignet, diese Sicherheitsbedenken in einem Maße zu widerlegen, die ihre Berücksichtigung als sachliches Differenzierungskriterium ausschließen könnte.
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Darüber hinaus ist ebenfalls nicht glaubhaft gemacht, dass eine Verwaltungspraxis der Antragsgegnerin dahingehend besteht, dass Personen mit – wenn auch nicht rechtskräftig – widerrufener Aufnahmezusage die streitgegenständliche Unterstützung erhalten. Vielmehr ist gerichtsbekannte Behördenpraxis, dass eine dahingehend ausgeübte Verwaltungspraxis der Antragsgegnerin besteht, wonach die Personengruppe, deren Aufnahmezusage widerrufen wurde, selbst dann nicht mehr durch insbesondere die Unterbringung in einer Unterkunft unterstützt wird, wenn Klage gegen den Widerrufsbescheid erhoben wurde.
21
Schließlich hat die Antragsgegnerin jedenfalls ihre Verwaltungspraxis – sofern man entgegen den obigen Ausführungen von einer solchen ausginge – nunmehr geändert. Ebenso wie die tatsächliche Verwaltungspraxis zu einer Selbstbindung der Verwaltung führen kann, ist anerkannt, dass eine Behörde ihre Praxis aus willkürfreien, d.h. sachlichen Gründen ändern kann (vgl. BVerwG, U.v. 25.9.2013 – 6 C 13/12 – juris Rn. 55). Es ist daher nicht zu beanstanden, wenn Unterstützungsangebote an den politischen Willen zur Aufnahme geknüpft sind. Ein solcher Wille besteht jedenfalls ab Erlass des Widerrufsbescheids aufgrund von Sicherheitsbedenken nicht mehr. Die Abkehr von der bisherigen Praxis, Personen mit Aufnahmezusage Unterstützung in Form einer Unterkunft zu gewähren, ist daher keineswegs willkürlich, sondern von der sachlichen Erwägung getragen, dass nur jene Personen in den Genuss der Unterbringung (auch verbunden mit einem entsprechenden Einsatz von Haushaltsmitteln) kommen sollen, die aus Sicht der Antragsgegnerin das Aufnahmeverfahren erfolgreich zum Abschluss bringen können. Unerheblich ist insoweit, dass die Antragsteller Anfechtungsklage gegen den Widerrufsbescheid erhoben haben. Es kommt lediglich darauf an, dass die Antragsgegnerin ihre Unterstützungsleistung gleichermaßen gegenüber allen Personen, deren Aufnahmezusage widerrufen wurde, einstellt. Gegenteiliges ist vorliegend weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht.
22
Der Antrag war nach alledem abzulehnen.
23
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.