Titel:
Rotlichtverstoß nach Überfahren der Haltlinie bei Grün
Normenketten:
StPO § 353
OWiG § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
OWiG § 79 Abs. 3 S. 1
OWiG § 79 Abs. 6
StVO § 1
StVO § 37 Abs. 2 Nr. 1 S. 7
BKatV Lfd Nr. 132
Leitsätze:
1. Wer bei Grünlicht die Haltlinie überfährt, jedoch noch vor der Kreuzung zum Halten kommt, kann nach Umschalten der Lichtzeichenanlage auf Rotlicht auch bei deren fehlender Erkennbarkeit einen vorwerfbaren Rotlichtverstoß nach § 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 7 StVO durch Einfahren in die Kreuzung begehen, wenn er mit deren Umschalten rechnen muss.
2. Zu der Frage, ob sich ein Betroffener noch vor dem Kreuzungsbereich oder schon in ihm befand, hat der Tatrichter aussagekräftige Feststellungen zu den örtlichen Gegebenheiten zu treffen.
Schlagworte:
Ampel, Beweiswürdigung, Einmündung, Fahrradweg, Fußgängerfurt, grün, Grünlicht, Halt vor der Kreuzung, Haltlinie, Haltegebot, Kollision, Kreuzung, Kreuzungsbereich, Kreuzungsräumer, Lichtzeichenanlage, Rechtsbeschwerde, rot, Rücksichtnahmegebot, Querverkehr, Rotlicht, Rotlichtverstoß, Schaden, Schädigungsverbot, stockender Verkehr, Umschalten, unbestimmter Rechtsbegriff, Unfall, Wahrnehmbarkeit, Wechsellichtzeichenanlage, Zweifelssatz
Fundstelle:
BeckRS 2025, 16904
Tenor
I. Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts vom 21.02.2025 mit den Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.
Gründe
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Das Amtsgericht hat die Betroffene am 21.02.2025 wegen fahrlässigen Rotlichtverstoßes, wobei es zu einem Unfall kam, zu einer Geldbuße von 240 Euro verurteilt und ihr zugleich unter Einräumung der Vollstreckungserleichterung des § 25 Abs. 2a StVG für die Dauer eines Monats verboten, im Straßenverkehr Kraftfahrzeuge jeder Art zu führen.
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Zum Sachverhalt hat das Amtsgericht festgestellt, dass die Betroffene am 09.06.2024 gegen 6:47 Uhr mit ihrem Pkw von X kommend nach rechts in die Y-Straße abgebogen sei, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt bereits Rotlicht und der querende Verkehr Grünlicht hatte, wobei es zu einem Verkehrsunfall mit Sachschaden am querenden Fahrzeug kam. Das Amtsgericht hat festgestellt, dass die Betroffene nicht ausschließbar noch bei Grünlicht der für sie geltenden Lichtzeichenanlage in den „dahinter befindlichen“ Verkehrsraum eingefahren war. Aufgrund stockenden Verkehrs habe sie möglicherweise anhalten müssen, ohne dass ihr Pkw bereits in die Y-Straße hineingereicht hätte. Sie sei dem vorausfahrenden Verkehr bei Auflösung der Stockung jedoch nicht unverzüglich nachgefolgt, sondern habe zunächst „über einen längeren Zeitraum“ in ihrer Position verharrt, sodass der Querverkehr bereits mehrere Sekunden Grünlicht hatte und ungebremst unterwegs war, als sie schließlich in den Kreuzungsbereich einfuhr und eine Kollision verursachte.
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Mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Rechtsbeschwerde beanstandet die Betroffene die Verletzung sachlichen Rechts.
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Die Generalstaatsanwaltschaft München hat beantragt, die Rechtsbeschwerde der Betroffenen als unbegründet zu verwerfen.
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Die nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte und im Übrigen form- und fristgerecht begründete Rechtsbeschwerde hat in der Sache zumindest vorläufig Erfolg.
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Die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen sind lückenhaft, weil sie dem Rechtsbeschwerdegericht keine Überprüfung dahingehend ermöglichen, ob die Betroffene, wie vom Amtsgericht angenommenen, nach Haltlinie und Ampel jedoch vor dem geschützten Kreuzungsbereich angehalten hatte, bevor sie nach rechts in die querende Straße einbog.
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1. Im Ausgangspunkt ist das Amtsgericht allerdings von einer zutreffenden rechtlichen Bewertung ausgegangen.
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Die Verurteilung wegen eines Rotlichtverstoßes setzt nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung voraus, dass ein Fahrzeugführer bei Rotlicht in den durch die Wechsellichtzeichenanlage geschützten Fahrbahnbereich einfährt, so dass damit zumindest eine abstrakte Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer eingetreten ist. Das bloße Überfahren der Haltlinie genügt nicht (vgl. zuletzt BayObLG, Beschluss vom 07.06.2022 – 202 ObOWi 678/22 m.w.N.).
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Wenn eine Lichtzeichenanlage auf „Rot“ schaltet, nachdem ein Fahrzeugführer zuvor bei „Grün“ die vorgelagerte Haltlinie überfahren hat, so gilt für ihn ab dem Zeitpunkt des Umschaltens objektiv das Haltgebot vor der Kreuzung (BGH, Beschluss vom 24.06.1999 – 4 StR 61/99), wenn er – wie vorliegend vom Amtsgericht angenommen – den Kreuzungsbereich noch nicht erreicht hat und der Vorrang des Kreuzungsräumers (Hentschel/König Straßenverkehrsrecht 48. Aufl. § 37 StVO Rn. 17 m.w.N.) für ihn daher nicht gilt. Eine andere Sichtweise würde der Vorschrift des § 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 7 StVO, die bei Rotlicht das Gebot „Halt vor der Kreuzung“ anordnet und dem Schutz des Querverkehrs dient (BGH a.a.O.), nicht gerecht werden. Selbst wenn ein Fahrzeugführer die Lichtzeichenanlage in diesem Moment nicht mehr erkennen kann – die Betroffene kam nach den Urteilsfeststellungen im Verkehrsraum hinter der Lichtzeichenanlage zum Stehen – muss er bei beginnendem und erst recht bei angelaufenem Querverkehr damit rechnen, dass die Lichtzeichenanlage für seine Fahrtrichtung inzwischen auf Rotlicht umgeschaltet hat (Hentschel/König a.a.O. § 37 StVO Rn. 13 m.w.N.). Er handelt somit objektiv verkehrswidrig und unabhängig von der Erkennbarkeit der eigenen Ampel auch subjektiv vorwerfbar, wenn er über einen längeren Zeitraum zwischen Ampel und Kreuzungsbereich verharrt und sodann bei Rotlicht der von ihm bereits passierten Lichtzeichenanlage nach rechts in den mittlerweile ungebremst laufenden Querverkehr, für welchen Grünlicht angezeigt ist, abbiegt.
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2. Die Urteilsfeststellungen belegen jedoch nicht hinreichend, ob sich das Amtsgericht der Reichweite des durch das Rotlicht geschützten Kreuzungsbereichs i.S.d. § 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 7 StVO bewusst war.
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Zwar hat dieses ausgeführt, dass die Betroffene nach dem Vorbeifahren an der Ampel nicht in die Quer straße hineinragte. Allerdings ist dies keine ausreichende Feststellungsgrundlage, um einen Schuldspruch wegen eines Rotlichtverstoßes ausschließen oder treffen zu können. Die vom Amtsgericht getroffene Wortwahl lässt offen, ob es sich der Reichweite des durch das Rotlicht geschützten Kreuzungsbereichs bewusst war.
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Der unbestimmte Begriff des „Kreuzungsbereichs“ wird regelmäßig in der Rechtsprechung durch die Fluchtlinien der Kreuzung bestimmt (BayObLG a.a.O.). Diese wiederum sind einzelfallabhängig von den jeweils örtlichen Gegebenheiten, die der Tatrichter zur Ausfüllung des unbestimmten Begriffs festzustellen hat. Sinn und Zweck des Rotlichts einer Lichtzeichenregelung nach § 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 7 StVO ist es, dass der gesamte berechtigt in die Kreuzung einmündende Verkehr (vgl. BayObLG, Beschluss vom 19.10.1993 – 2 ObOWi 399/93) geschützt wird. Hierzu zählt auch der gerade im innerörtlichen Bereich häufig an ampelgeregelten Kreuzungen und Einmündungen ebenfalls anzutreffende Fahrrad- und Fußgängerverkehr, der die durch Rotlicht gesperrte Straße quert. Die Fluchtlinie, welche den Beginn des geschützten Bereichs markiert, ist daher nicht auf den Fahrbahnbereich allein für Kraftfahrzeuge bezogen; sie wird auch durch Fußgängerüberwege bzw. Fußgängerfurten und Fahrradwege, die regelmäßig vor der einmündenden Kraftfahrzeugfahrbahn liegen, bestimmt (vgl. nur OLG Stuttgart, Beschluss vom 26.11.2013 – 4 Ss 601/13 m.w.N.; OLG Dresden, Beschluss vom 07.11.2002 – Ss (OWi) 508/02).
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Ob die Betroffene nach Passieren der Ampel den so definierten Kreuzungsbereich bei Umschalten auf Rotlicht bereits erreicht hatte, lässt sich den Urteilsfeststellungen nicht entnehmen. Wäre dies der Fall gewesen, beispielsweise indem sie bereits in eine Fußgängerfurt hineinragte, so hätte sie zwar durch ihr späteres Rechtsabbiegen trotz Querverkehrs gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot und Schädigungsverbot nach § 1 StVO verstoßen, jedoch keinen Rotlichtverstoß i.S.d. § 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 7 StVO begangen, weil sie sich dann bei Umschalten der Ampel auf Rotlicht bereits im Kreuzungsbereich befunden und somit nicht gegen das Gebot „Halt vor der Kreuzung“ verstoßen hätte. Zu konkreten Tatsachenfeststellungen hinsichtlich der hier maßgeblichen örtlichen Gegebenheiten verhält sich das amtsgerichtliche Urteil nicht. Der Senat kann daher im Rahmen der Rechtsbeschwerde nicht prüfen, ob die Tatrichterin vom richtigen Verständnis des Begriffs der Kreuzung nach § 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 7 StVO ausgegangen ist.
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Aufgrund des aufgezeigten Rechtsfehlers ist das angefochtene Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 353 Abs. 1 StPO) und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 79 Abs. 6 OWiG). Der Senat verweist in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 2 StPO die Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurück, um eine unvoreingenommene Beurteilung des gesamten Tatgeschehens durch das Gericht zu gewährleisten.
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Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
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Weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst ist es geboten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat; auch die Einlassung eines Betroffenen ist nicht schon deshalb (ganz oder in Teilen) als unwiderlegbar hinzunehmen, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urt. v. 02.02.2022 – 5 StR 282/21 und v. 10.11.2021 – 5 StR 127/21 jew. m.w.N).
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Sollte das Tatgericht aufgrund der neu durchzuführenden Beweisaufnahme erneut zu dem Ergebnis kommen, dass
(a) der Querverkehr beim Einlenken der Betroffenen in die Y-Straße schon mehrere Sekunden lang Grünlicht hatte und sich ungebremst fortbewegte, es
(b) die Einlassung der Betroffenen für widerlegt erachten sollte, dass sie sich dem nach der Ampel stockenden Verkehr unmittelbar angeschlossen hatte und
(c) kein konkreter Anlass erkennbar ist, warum die Betroffene sonst hinter der Ampel für längere Zeit mit ihrem Fahrzeug verharrt haben sollte,
so besteht aus Rechtsgründen kein Anlass, zu ihren Gunsten von der tatsächlichen Annahme auszugehen, dass sie die Ampelanlage bei Grünlicht gequert und danach stehengeblieben sei, bevor sie nach rechts in den bereits mehrere Sekunden laufenden Querverkehr einlenkte.
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Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.