Titel:
Antrag eines Nachbarn auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80a Abs. 3 VwGO i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO, Antrag auf Anordnung einstweiliger Sicherungsmaßnahmen, Baugenehmigung für die Errichtung eines Flexi-Wohnheims zur Unterbringung wohnungsloser Familien, Sondereigentümer, keine Geltendmachung des Gebietserhaltungsanspruchs durch den Sondereigentümer, Drittschützende Wirkung von Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung (Geschossflächenzahl Zahl der Vollgeschosse), der überbaubaren Grundstücksfläche und der Dachform (verneint), Rücksichtnahmegebot
Normenketten:
VwGO § 80a Abs. 3
VwGO § 80 Abs. 5
VwGO § 80a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3
BauGB § 212a
BauGB § 30
BauGB § 31 Abs. 2
BauGB § 31 Abs. 3
BauNVO § 15
Schlagworte:
Antrag eines Nachbarn auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80a Abs. 3 VwGO i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO, Antrag auf Anordnung einstweiliger Sicherungsmaßnahmen, Baugenehmigung für die Errichtung eines Flexi-Wohnheims zur Unterbringung wohnungsloser Familien, Sondereigentümer, keine Geltendmachung des Gebietserhaltungsanspruchs durch den Sondereigentümer, Drittschützende Wirkung von Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung (Geschossflächenzahl Zahl der Vollgeschosse), der überbaubaren Grundstücksfläche und der Dachform (verneint), Rücksichtnahmegebot
Fundstelle:
BeckRS 2025, 16303
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Mit seinem Antrag begehrt der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung sowie die Anordnung einstweiliger Sicherungsmaßnahmen.
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Der Antragsteller ist – dies ergab eine Einsichtnahme des Gerichts in das Grundbuch (Wohnungsgrundbuch von …, Bl. ...) – Miteigentümer des nach dem Wohnungseigentumsgesetz aufgeteilten Grundstücks FlNr. … Gemarkung … (im Folgenden: Nachbargrundstück), verbunden mit Sondereigentum an sämtlichen Räumen der Wohnung (Reihenhaus) Nr. 1 laut Aufteilungsplan Nr. … (N. …straße 14). Das Wohngebäude des Antragstellers [ausweislich öffentlich-zugänglicher Luftbilder („google maps“) zur Straße hin E+I, zur Gartenseite hin E+I+ausgebautes Dachgeschoss] bildet zusammen mit den übrigen Gebäuden auf dem Nachbargrundstück eine fünfteilige Reihenhauszeile. Soweit nach öffentlich zugänglichen Luftbildern erkennbar, ist der im Südwesten liegende, rückwärtige Bereich des Nachbargrundstücks parzellenartig unterteilt und wohl jeweils den Sondereigentumseinheiten (Reihenhäusern) zugewiesen. Dort finden sich Terrassen und gärtnerische Nutzung.
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In südlicher bzw. südwestlicher Richtung grenzt unmittelbar das Grundstück H. …- …Straße 99 (FlNr. … Gemarkung ….) an, das die Form eines auf dem Kopf stehenden „L“ aufweist; südöstlich an dieses schließt sich wiederum das Grundstück H. …Straße 101 (FlNr. … Gemarkung …; beide Grundstücke im Folgenden: Baugrundstück) an.
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Vgl. zur Lage der Grundstücke und ihrer Bebauung anliegenden Lageplan im Maßstab 1 : 1.000, welcher eine Darstellung des streitgegenständlichen Vorhabens enthält (nach dem Einscannen möglicherweise nicht mehr maßstabsgetreu):
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Sowohl das Bau- als auch das Nachbargrundstück liegen im Geltungsbereich des qualifizierten Bebauungsplans der Antragsgegnerin Nr. … – „…, …“, der für die beiden Grundstücke ein allgemeines Wohngebiet festsetzt. Die überplanten Grundstücke wurden zwischenzeitlich neu geordnet. Im Übrigen trifft der Bebauungsplan für das Baugrundstück folgende Festsetzungen: Zahl der Vollgeschosse als Höchstgrenze 2, Grundflächenzahl 0,4, Geschossflächenzahl 0,7, Satteldach, Dachneigung flacher als 23 Grad sowie eine Baugrenze zur H. …Straße und zur C. …straße. § 3 Abs. 1 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans sieht ferner vor, dass Ausnahmen nach § 4 Abs. 3 Nr. 4 und 6 der Baunutzungsverordnung nicht Bestandteil des Bebauungsplans sind.
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Mit Bescheid vom 26. März 2024 nach PlanNr. … wurde der Bauantrag der Beigeladenen vom 14. Dezember 2023 (Eingang bei der Antragsgegnerin) auf Errichtung eines Flexi-Heimes zur Unterbringung von wohnungslosen Familien (Var. 1) mit Mobilitätskonzept als Sonderbau genehmigt. Ausweislich der genehmigten Bauvorlagen ist die Errichtung eines Baukörpers in Form eines liegenden „L“ geplant mit Abmessungen des einen, auf dem Grundstück FlNr. … liegenden Schenkels von 33,84 m x 15,50 m und des anderen, auf der FlNr. … – und damit im Bereich u.a. des Reihenhauses des Antragstellers – liegenden Schenkels mit Abmessungen von 15,30 m x 19,802 m. Das Vorhaben soll in seiner Südost- bis Nordwestausdehnung eine Gesamtlänge von 49,14 m und bis zu vier Geschosse (dort Oberkante Attika +11,76 m, Bezugspunkt 0,00) aufweisen. Bei dem auf dem Grundstück FlNr. … liegenden Teil des Gebäudes springt das dritte Obergeschoss um 2,50 m von der nordöstlichen (Höhe Attika 2. OG hier: +8,83 m, Höhe Oberkante Terrassengeländer +9,68 m, Bezugspunkt jeweils 0,00) und um 1,46 m von der nordwestlichen Gebäudeaußenkante zurück. An der Nordostgrenze des Baugrundstücks zum Nachbargrundstück hin, auf Höhe des Gartenbereichs der Reihenhäuser N. …straße 14a und b, ist die Errichtung einer Flachdachgarage (5,60 m x 5,70 m; Höhe 3 m) für vier Stellplätze (Doppelparker) vorgesehen. Die Zufahrt soll entlang der Nordwestgrenze der FlNr. … erfolgen. Auf der Südostseite des Gesamtkomplexes soll eine Fluchttreppe errichtet werden.
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Nach der in der Behördenakte enthaltenen Betriebsbeschreibung vom 28. Februar 2024, die zum Bestandteil der Baugenehmigung erklärt wurde, soll das Gebäude als Flexi-Heim genutzt werden, das der befristeten Unterbringung akut wohnungsloser Familien zur Abklärung ihrer Wohnungsperspektive und zur sicherheitsrechtlichen Unterbringung als kommunale Pflichtaufgabe dienen soll. Das Gebäude soll 39 Appartementeinheiten zur Unterbringung von 139 Personen aufweisen. Jede Einheit soll über ein eigenes Bad und eine Wohnküche mit Küchenzeile sowie mindestens einen Schlafraum verfügen. Im Erdgeschoss, zweiten und dritten Obergeschoss soll sich jeweils ein Gemeinschaftsraum mit Küchenzeile befinden. In das Gebäude integriert sind ferner Räume für die Hausverwaltung, deren Bürozeiten laut Betriebsbeschreibung in der Regel werktags von Montag bis Donnerstag in der Zeit von 9:00 bis 17:00 Uhr und freitags von 9:00 bis 14:00 Uhr liegen, sowie Büroräume, welche der sozialpädagogischen Betreuung der „untergebrachten Haushalte“ nach in der Regel individueller Terminvereinbarung dienen. Weiterhin finden sich Gemeinschafts- und Besprechungsräume, welche für Besprechungen und Angebote sowie für Feiern und Veranstaltungen genutzt werden sollen. Einzelveranstaltungen sind nach der Betriebsbeschreibung auch in den Abendstunden und selten an Wochenenden möglich. Im Erdgeschoss ist eine Pforte vorgesehen, welche laut Betriebsbeschreibung täglich 24 Stunden besetzt ist.
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Die Baugenehmigung enthält neben verschiedenen Auflagen folgende Befreiungen bzw. folgende Zulassung von den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. …:
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- „Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB wegen Überschreitung der im Bebauungsplan festgesetzten Geschossflächenzahl von 0,7 auf 1,41.
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- Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB wegen Überschreitung der im Bebauungsplan festgesetzten Höhenentwicklung von II auf IV Vollgeschosse.
11
- Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB von der Festsetzung Satteldach zu Flachdach (…).
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- Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB wegen der Überschreitung der Baugrenze durch eine notwendige Fluchttreppe.
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- Zulassung gemäß § 23 Abs. 3 BauNVO wegen Überschreitung der Baugrenze durch 9 Kellerlichtschächte, 11 Fahrradabstellplätze und 4 Restmülltonnen.“
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Zur Begründung der Erteilung der Befreiungen von der festgesetzten GFZ, der Zahl der maximal vorgesehenen Vollgeschosse und der Dachform führte die Antragsgegnerin im Bescheid aus, das Baugrundstück befinde sich im Kreuzungsbereich …Straße, A. …-Straße und C. …straße im südöstlichen Rand des B-Plans Nr. … Durch diese städtebauliche Sondersituation und der besonderen Wohnnutzung als Flexiheim könne einer Befreiung für die massive Überschreitung der GFZ sowie der Anzahl der Vollgeschosse nach § 31 Abs. 3 BauGB entsprochen werden. Die Befreiungen vom Maß der baulichen Nutzung könnten nach pflichtgemäßem Ermessen erteilt werden. Das Vorhaben erfülle eine öffentliche, dem Gemeinwohl dienende Funktion und sei in dem festgesetzten allgemeinen Wohngebiet nach § 4 BauNVO allgemein zulässig. Die Befreiungen seien daher nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB wegen des dringenden Bedarfs an Flächen für die Unterbringung wohnungsloser Familien zu erteilen. Eine unerwünschte Bezugsfallwirkung und bodenrechtliche Spannungen könnten aus einem Gebäude, welches diese Aufgaben erfüllen müsse, nicht abgeleitet werden. Die Entscheidung beeinträchtigte keine nachbarlichen Interessen, weil das Gebot der Rücksichtnahme nicht verletzt sei. Öffentliche Belange, die gegen die Erteilung der Befreiungen sprächen, lägen nicht vor.
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Nach Aktenlage wurde dem Antragsteller über seinen Prozessbevollmächtigten eine Nachbarausfertigung der Baugenehmigung mit Schreiben vom 26. März 2024 übermittelt. Ein Zustellungsnachweis ist in den Behördenakten nicht enthalten.
16
Mit Schriftsatz vom 2. Mai 2024, bei Gericht eingegangen am selben Tag, ließ der Antragsteller durch seinen Prozessbevollmächtigten Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben mit dem Ziel der Aufhebung der Baugenehmigung vom 26. März 2024, die am 3. April 2024 zugestellt worden sei. Über diese Klage (M 8 K 24.2362) wurde noch nicht entschieden.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 13. Juni 2025 ließ der Antragsteller beantragen (M 8 SN 25.3604):
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I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Baugenehmigungsbescheid der Landeshauptstadt München vom 26.03.2024, Az.: … … wird angeordnet.
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II. Der Antragsgegnerin wird aufgegeben, die von der Beigeladenen begonnen Arbeiten zur Errichtung des „Flexi-Heimes zur Unterbringung von wohnungslosen Familien“ mit einer sofort vollziehbaren Verfügung einzustellen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen geltend gemacht, die Baugenehmigung sei rechtswidrig und verletze den Antragsteller in seinen Rechten. Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplanes in der vorliegenden Qualität seien schon aus grundsätzlichen Erwägungen nicht zulässig. Die Funktion der Befreiung sei es, in vom Satzungsgeber nicht vorhergesehenen Sonderfällen von den Anwendungen auf einer notwendigen Verallgemeinerung beruhenden Festsetzungen in einem Bebauungsplan abzuweichen. Vorliegend sei jedoch von zahlreichen Festsetzungen jeweils in großem Umfang abgewichen worden. Die Antragsgegnerin spreche in der Baugenehmigung selbst von einer „massiven Überschreitung der GFZ sowie der Anzahl der Vollgeschosse“. Damit würden die Grundzüge der Planung nicht nur berührt, sondern vollständig missachtet. Entstehe das Bedürfnis für eine Befreiung in mehr als nur unwesentlicher Hinsicht, nicht mehr im Einzel-, sondern im Regelfall, könnten die Voraussetzungen für eine Änderung des Bebauungsplanes gegeben sein. Der Antragsteller sei bereits hierdurch in seinen Rechten verletzt. Bei der (notwendigen) Änderung des Bebauungsplanes hätte er im Rahmen der (notwendigen) Öffentlichkeitsbeteiligung (§ 3 BauGB) beteiligt werden müssen und hätte auf die entsprechende Planung Einfluss nehmen können.
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Die erteilten Befreiungen seien darüber hinaus rechtswidrig und verletzten den Antragsteller in seinen Rechten. Zumindest die Festsetzungen zur Zahl der Vollgeschosse und zur Geschossflächenzahl vermittelten unmittelbaren Drittschutz. Für das gesamte Plangebiet seien maximal zwei Vollgeschosse zulässig; gewollt sei offensichtlich eine aufgelockerte Bebauung mit Einfamilienhäusern mit jeweils geringer Fläche gewesen. Es sei davon auszugehen, dass die Beschränkung der Vollgeschosse und der Geschossflächenzahl das Ziel verfolgte habe, den benachbarten Wohnhäusern ausreichende Besonnung zu ermöglichen. Die Befreiung berühre die Grundzüge der Planung, die Befreiungsvoraussetzungen lägen nicht vor. Sollten die Festsetzungen keine unmittelbar drittschützende Wirkung entfalten, sei jedenfalls die Würdigung der nachbarlichen Interessen nicht ausreichend erfolgt, obwohl die Antragsgegnerin ausdrücklich anerkenne, dass es zu einer „massiven Überschreitung“ der Geschossflächenzahl und der Anzahl der Vollgeschosse komme. Eine Begründung dafür, dass die nachbarlichen Interessen ausreichend berücksichtigt worden seien, bleibe die Antragsgegnerin schuldig.
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Darüber hinaus sei auch das Gebot der Rücksichtnahme verletzt. Insbesondere im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung erweise sich das Vorhaben als grob rücksichtslos, führe zu einer erdrückenden bzw. abriegelnden Wirkung und zu einer massiven Verschattung des gesamten Grundstücks des Antragstellers. Dieser würde über die gesamte Länge seines Grundstücks auf eine wuchtige Riegelbebauung blicken müssen, ihm würde durch das Vorhaben regelrecht die „Luft zum Atmen“ genommen. Der notwendige Sozialabstand sei nicht gewahrt. Diese Tatsachen seien im Rahmen der Ermessensausübung der Antragsgegnerin völlig ignoriert worden. Schließlich verstoße die streitgegenständliche Baugenehmigung gegen das Gebot inhaltlicher Bestimmtheit in Bezug auf nachbarschützende Rechte. Weder aus der Baugenehmigung noch aus der Baubeschreibung im Bauantrag sei ersichtlich, um was es sich bei einem „Flexiheim“ handeln solle. Insbesondere sei nicht erkennbar, ob es sich tatsächlich um eine Wohnnutzung handele. Eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs des Antragstellers sei daher nicht ausgeschlossen.
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Das Gericht könne nach § 80a Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Nr.2 VwGO neben der Aussetzung der Vollziehung auch einstweilige Maßnahmen zur Sicherung der Rechte des Dritten treffen. Als eine solche Maßnahme komme vor allem die vorläufige Einstellung der Arbeiten zur Ausnutzung der Genehmigung in Betracht. Eine derartige Anordnung sei vorliegend geboten.
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Die Antragsgegnerin legte die Behördenakten vor, äußerte sich im Übrigen aber nicht zum Verfahren.
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Die Beigeladene stellte ebenfalls keinen Antrag und äußerte sich nicht.
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Wegen der weiteren Einzelheiten und zum Vorbringen der Beteiligten wird im Übrigen auf die vorgelegten Behördenakten sowie die Gerichtsakte in diesem und im Hauptsacheverfahren (M 8 K 24.2362) Bezug genommen.
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Der mit Schriftsatz vom 13. Juni 2025 gestellte Antrag hat keinen Erfolg.
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Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO) ist unbegründet (siehe nachstehend I.). Damit kann der Antragsteller auch mit seinem weiteren Antrag (Ziffer II. der Antragsschrift), der bei verständiger Würdigung seines Rechtsschutzziels, § 122 Abs. 1, § 88 VwGO, auf Erlass einer einstweiligen Sicherungsmaßnahme nach § 80a Abs. 3 Satz 1 VwGO i.V.m. Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 VwGO gerichtet ist, nicht durchdringen (siehe nachfolgend II.).
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I. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung hat in der Sache keinen Erfolg.
30
Nach § 212a Baugesetzbuch (BauGB) hat die Anfechtungsklage eines Dritten gegen die einem anderen erteilte Baugenehmigung keine aufschiebende Wirkung. Auf Antrag kann das Gericht daher gem. § 80a Abs. 3 Satz 2, § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage ganz oder teilweise anordnen. Im Rahmen eines Verfahrens nach § 80a Abs. 3 Satz 2, § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO trifft das Gericht aufgrund der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage eine eigene Ermessensentscheidung darüber, ob die Interessen, die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts sprechen, oder diejenigen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streiten, höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Diese sind ein wesentliches, wenngleich nicht das alleinige Indiz für und gegen den gestellten Antrag. Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein (weil er zulässig und begründet ist), so wird regelmäßig nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben (weil er unzulässig oder unbegründet ist), so ist dies ein starkes Indiz für die Ablehnung des Antrages auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Sind schließlich die Erfolgsaussichten offen, findet eine allgemeine, von den Erfolgsaussichten unabhängige Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt (BayVGH, B.v. 7.3.2023 – 15 CS 23.142 – juris Rn. 24 m.w.N.).
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Bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten ist zu berücksichtigen, dass sich Dritte sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen können, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit auf der Verletzung von Normen beruht, die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren und zumindest auch dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH, B.v. 21.7.2020 – 2 ZB 17.1309 – juris Rn. 4). Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind. Dementsprechend findet im gerichtlichen Verfahren auch keine umfassende Rechtskontrolle statt, vielmehr hat sich die gerichtliche Prüfung darauf zu beschränken, ob durch den angefochtenen Bescheid drittschützende Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch vermitteln, verletzt werden. Hinzu kommt, dass der Antragsteller als Sondereigentümer nur solche Eigentumsrechte geltend machen kann, die nicht der Wohnungseigentümergemeinschaft zustehen. Der einzelne Wohnungseigentümer kann gem. § 13 Abs. 1 Halbs. 2 des Gesetzes über das Wohnungseigentum und das Dauerwohnrecht (Wohnungseigentumsgesetz – WEG) baurechtliche Nachbarrechte aus eigenem Recht nur geltend machen, wenn eine konkrete Beeinträchtigung seines Sondereigentums in Frage steht (BVerwG, U.v. 20.8.1992 – 4 B 92/92 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 110, juris Rn. 7 ff.; BayVGH, B.v. 8.7.2013 – 2 CS 13.807 – NVwZ 2013, 383, juris Rn. 5; B.v. 24.11.16 – 1 CS 16.2011 – ZMR 2017, 857, juris Rn. 4; U.v. 12.7.2012 – 2 B 12.1211 -BayVBl 2013, 51, juris Rn. 22).
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Der Antragsteller hat bisher noch nicht näher dargelegt, ob zu seinem Sondereigentum – dem Reihenhaus N. …straße 14 – auch ein Gartenanteil gehört. Ein Aufteilungsplan, aus dem sich Lage und Umfang des Sondereigentums ersehen ließe, liegt dem Gericht nicht vor. Aufgrund der – anhand von Luftbildern zu beurteilenden – Gartengestaltung spricht Vieles für eine entsprechende parzellenartige Aufteilung und Zuordnung der Gartenbereiche zum Sondereigentum. Die Kammer legt dies ihrer Beurteilung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes daher zugrunde.
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Die angefochtene Baugenehmigung verletzt bei summarischer Prüfung voraussichtlich keine nachbarschützenden Vorschriften, auf die sich der Antragsteller als Sondereigentümer berufen kann und die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO, Art. 60 Satz 1 Bayerische Bauordnung – BayBO). Seine in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage (M 8 K 24.2362) wird nach der im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung voraussichtlich keinen Erfolg haben. Damit überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers nicht gegenüber den entgegenstehenden Vollzugsinteressen der Beigeladenen.
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1. Insbesondere kann sich eine Verletzung drittschützender Vorschriften vorliegend nicht aus einem etwaigen Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch oder dem Gebietsprägungs(erhaltungs) anspruch, sofern man einen solcher überhaupt anerkennt (vgl. hierzu: BayVGH, B.v. 9.10.2012 – 2 ZB 11.2653 – juris; B.v. 8.1.2019 – 9 CS 17.2482 – BayVBl 2019, 349, juris Rn. 16; B.v. 15.10.2019 – 15 ZB 19.1221 – BayVBl 2020, 273, juris, Ls u. Rn. 9 ff.), ergeben.
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Dem Antragsteller steht als Sondereigentümer kein Anspruch auf Wahrung der Gebietsart zu. Eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs kann nur von der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer geltend gemacht werden (BayVGH, B.v. 3.5.2024 – 15 ZB 23.1727 – juris Orientierungssatz, Rn. 6; B.v. 16.1.2023 – 1 CS 22.2399 – NZM 2023, 292, juris Orientierungssatz 2, Rn. 18; B.v. 27.7.2017 – 1 CS 17.918 – BRS 85, 149, juris Rn. 3; B.v. 8.7.2013 – 2 CS 13.807 – NVwZ 2013, 383, juris Rn. 4 ff. m.w.N.; VG München, U.v. 26.8.2024 – M 8 K 22.6303 – juris Rn. 24; U.v. 6.6.2016 – M 8 K 15.2783 – juris Rn. 30; U.v. 14.6.2021 – M 8 K 19.4591 – n.v., Urteilsumdruck Rn. 31; U.v. 6.6.2016 – M 8 K 15.2783 – juris Rn. 30; B.v. 30.6.2017 – M 8 SN 14.2208 – juris Rn. 18 ff.). Eine konkrete Beeinträchtigung des Sondereigentums des Antragstellers, welche über das hinausginge, was die Eigentümergemeinschaft als solche für das Gemeinschaftseigentum geltend machen kann, ist weder erkennbar noch dargelegt. Gleiches gilt für einen – etwaigen – Gebietsprägungs(erhaltungs) anspruch.
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Aus diesem Grund bedarf auch die vom Antragsteller gerügte Unbestimmtheit der Baugenehmigung im Hinblick auf die Beurteilung des Gebietserhaltungsanspruchs im vorliegenden Verfahren keiner weiteren Erörterung. Unabhängig davon lassen sich Art, Umfang und Zweckbestimmung der Nutzung ohne Weiteres der Baugenehmigung und den ihr zugrundeliegenden Unterlagen, insbesondere der in der Bauakte enthaltenen Betriebsbeschreibung vom 28. Februar 2024, die zudem zum Bestandteil der Baugenehmigung erklärt wurde, entnehmen.
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2. Ebenso wenig ergibt sich aus den erteilten Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 174 eine Rechtsverletzung des Antragstellers – und zwar unabhängig davon, ob diese auf § 31 Abs. 2 oder § 31 Abs. 3 Baugesetzbuch (BauGB i.V.m. § 1 der Verordnung zur bauplanungsrechtlichen Bestimmung von Gebieten mit angespanntem Wohnungsmarkt – GBestV-Bau) zu stützen sind. Im streitgegenständlichen Bescheid sind, soweit die Befreiungen die Geschossflächenzahl, die Geschossigkeit und die Dachform betreffen, beide Vorschriften zitiert.
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Soweit eine Befreiung gem. § 31 Abs. 2 BauGB oder § 31 Abs. 3 BauGB (zur dortigen Heranziehung der zu § 31 Abs. 2 BauGB entwickelten Grundsätze vgl. Söfker in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, 157. EL November 2024, § 31 Rn. 70n) erteilt wird, ist hinsichtlich des Nachbarschutzes zu differenzieren, ob von drittschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans oder von nicht drittschützenden Festsetzungen befreit wird. Handelt es sich um eine nachbarschützende Festsetzung, so hat der Nachbar einen Rechtsanspruch auf Einhaltung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 bzw. 3 BauGB (zu § 31 Abs. 2 BauGB: BayVGH, B. v. 26.2.2014 – 2 ZB 14.101 – BayVBl 2015, 170, juris Rn. 3). Entscheidend ist damit nicht nur, ob die Abweichung unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist, sondern auch, ob die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 bzw. Abs. 3 BauGB im konkreten Fall erfüllt sind. Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht drittschützend ist, werden nachbarschützende Rechte nur verletzt, wenn der Nachbar durch die Erteilung der Baugenehmigung unzumutbar beeinträchtigt wird; eine Rechtsverletzung kommt insoweit nur in dem im Begriff der „Würdigung nachbarlicher Interessen“ verankerten Rücksichtnahmegebot in Betracht (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – UPR 1998, 455, juris Rn. 5 f.; U.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – BVerwGE 162, 363, juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 13.10.2021 – 9 CS 21.2211 – juris Rn. 28; B.v. 11.8.2021 – 15 CS 21.1775 – juris Rn. 9; B.v. 15.2.2019 – 9 CS 18.2638 – BRS 87 Nr. 91, juris Rn. 19; B.v. 21.5.2019 – 1 CS 19.474 – juris Rn. 4). Nachbarrechte werden in diesem Fall also nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung aus irgendeinem Grund rechtswidrig ist, sondern nur dann, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BayVGH, B.v. 13.10.2021 – 9 CS 21.2211 – juris Rn. 28; B.v. 15.2.2019 – 9 CS 18.2638 – BRS 87 NR. 91, juris Rn. 19 m.w.N.).
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Die Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. …, von denen die Antragsgegnerin Befreiungen erteilt hat, sind nicht nachbarschützend (siehe nachfolgend 2.1.). Eine unzureichende Berücksichtigung der nachbarlichen Interessen des Antragstellers ist nicht erkennbar (siehe nachstehend 2.2.).
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2.1. Die erteilten Befreiungen beziehen sich auf Festsetzungen des Maßes der baulichen Nutzung (Zahl der Vollgeschosse, Geschossflächenzahl), der überbaubaren Grundstücksfläche sowie der Festsetzung der Dachform, die allesamt grundsätzlich nicht drittschützend sind (vgl. zum Maß der baulichen Nutzung: BVerwG, B.v. 11.6.2019 – 4 B 5/19 – BRS 87 Nr. 118, juris Rn. 4; B.v. 23.6.1995 – 4 B 52/95 – UPR 1995, 396; juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 11.08.2021 – 15 CS 21.1775 – juris Rn. 12; B.v. 7.1.2014 – 2 ZB 12.1787 – juris Rn. 5; U.v. 19.3.2013 – 2 B 13.99 – BayVBl 2013, 729, juris Rn. 27 m.w.N.; zur überbaubaren Grundstücksfläche: BVerwG, B.v. 11.6.2019 a.a.O., Rn. 4; B.v. 13.12.2016 – 4 B 29/16 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 34; B.v. 23.11.2015 – 1 CS 15.2207 – juris Rn. 8; zur Dachform und -neigung: BayVGH, B.v. 10.1.2000 – 27 ZB 97.1931 – juris Rn. 3; B.v. 29.8.2006 – 15 CS 06.1943 – juris Rn. 15; OVG NW, B.v. 8.7.2020 – 10 A 3398/19 – juris).
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Dem Ortsgesetzgeber steht es allerdings grundsätzlich frei, eine Festsetzung statt ausschließlich aus städtebaulichen Gründen auch zum Schutze Dritter zu treffen und er darf dies regelmäßig selbst und ohne Bindung an das Eigentumsrecht des Nachbarn entscheiden (BVerwG, U. v. 16.09.1993 – 4 C 28.91 – BVerwGE 94, 151, juris Rn. 11; U.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – BVerwGE 162, 363, juris Rn. 17; BayVGH, B.v. 11.08.2021 – 15 CS 21.1775 – juris Rn. 13; zur überbaubaren Grundstücksfläche: BayVGH, B.v. 7.10.2019 – 1 CS 19.1499 – juris Rn. 17; B.v. 24.7.2020 – 15 CS 20.1332 – BayVBl 2020, 704, juris Rn. 23). Von einer neben diese Ordnungsfunktion tretenden nachbarschützenden Wirkung einer Festsetzung ist ausnahmsweise dann auszugehen, wenn konkrete Anhaltspunkte für einen entsprechenden planerischen Willen erkennbar sind (vgl. BVerwG, U.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – BVerwGE 162, 363, juris Rn. 14; BayVGH, B.v. 11.08.2021 – 15 CS 21.1775 – juris Rn. 13; B.v. 7.1.2014 – 2 ZB 12.1787 – juris Rn. 5).
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Ob und inwieweit eine Norm des Bauplanungsrechts betroffenen Nachbarn Abwehrrechte einräumt, ist dabei anhand von Inhalt, Rechtsnatur und Schutzzweck der jeweiligen Festsetzung, ihrem Zusammenhang mit den anderen Regelungen des Plans, der Planbegründung oder den Akten über die Aufstellung des Bebauungsplans im konkreten Einzelfall im Wege der Auslegung zu ermitteln, wobei sich ein entsprechender Wille unmittelbar aus dem Bebauungsplan selbst (etwa kraft ausdrücklicher Regelung von Drittschutz), aus seiner Begründung, aus sonstigen Vorgängen im Zusammenhang mit der Planaufstellung oder aus einer wertenden Beurteilung des Festsetzungszusammenhangs ergeben kann (BayVGH, B.v. 11.08.2021 – 15 CS 21.1775 – juris Rn. 13; B.v. 24.7.2020 – 15 CS 20.1332 – BayVBl 2020, 704, juris Rn. 23 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, U.v. 19.9.1986 – 4 C 8.84 – BauR 1987, 70, juris Rn. 11; B.v. 13.12.2016 – 4 B 29.16 – juris Rn. 5; U.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – BVerwGE 162, 363, juris Rn. 14; B.v. 11.6.2019 – 4 B 5.19 – BRS 87 Nr. 118, juris Rn. 4). Auch die Reichweite der drittschützenden Wirkung einer Festsetzung muss sich mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Inhalt der erlassenen Vorschrift oder aus den übrigen, objektiv erkennbaren Umständen ergeben.
43
2.1.1. Vorliegend lassen sich weder dem Bebauungsplan selbst (Planzeichnung und textliche Festsetzungen) noch dessen Begründung Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die Vorgaben zur Zahl der maximal zulässigen Vollgeschosse, zur Geschossflächenzahl, einer Baugrenze sowie der Dachform /-neigung nach dem eindeutig erkennbaren Willen der Antragsgegnerin nicht nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung, sondern darüber hinausgehend auch dem Zweck dienen sollten, die Rechte der Nachbarn zu schützen.
44
In der Begründung zum Bebauungsplan wird ausgeführt, dass dem Baubestand im WA 3, 4 und 5 durch Ausweisung großflächiger Bauräume mit der Geschossflächenzahl 0,7, der Grundflächenzahl 0,4 und der einheitlichen Gebäudehöhe bis zu II Vollgeschossen Rechnung getragen wurde. Dies entspreche etwa dem bisher bereits geltenden Maß der baulichen Nutzung. Dabei handelt es sich um rein objektive städtebauliche Gesichtspunkte, die keinerlei Nachbarinteressen zum Gegenstand haben.
45
Lässt sich die drittschützende Zweckbestimmung nicht hinreichend erkennen, ist eine nachbarschaftsschützende Wirkung abzulehnen (BayVGH, B.v. 16.3.2021 – 15 CS 21.545 – juris Rn. 59; VG Würzburg U.v. 31.01.2017 – W 4 K 16.599 – juris Rn. 25). Günstige Auswirkungen einer Festsetzung auf die Nachbargrundstücke reichen zur Annahme eines Nachbarschutzes ebensowenig aus (vgl. BayVGH, B.v. 30.6.2009 – 1 ZB 07.3058 – juris Rn. 29; B.v. 23.11.2015 – 1 CS 15.2207 – juris Rn. 8).
46
2.1.2. Eine andere Beurteilung ergibt sich schließlich auch nicht bei Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts („Wannsee-Entscheidung“) zur Möglichkeit einer nachträglichen subjektiv-rechtlichen bzw. nachbarschützenden „Aufladung“ von Festsetzungen eines Bebauungsplans, die nicht die Art der baulichen Nutzung betreffen (höchstrichterlich entschieden hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung, vgl. BVerwG, U.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – BVerwGE 162, 363, juris). Zum einen ist die mit dieser Rechtsprechung für möglich erachtete Ermittlung eines „objektivierten“ planerischen Willens nur bei (übergeleiteten) Bebauungsplänen aus einer Zeit vor dem Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes 1960 möglich, der hier nicht vorliegt (vgl. BayVGH, B.v. 11.08.2021 – 15 CS 21.1775 – juris Rn. 17; vgl. auch B.v. 24.7.2020 – 15 CS 20.1332 – BayVBl 2020, 704, juris Rn. 26 m.w.N.). Zum anderen ist auch dann eine drittschützende Wirkung dieser Festsetzungen nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn durch Auslegung des Bebauungsplans ein wechselseitiges Austauschverhältnis im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung zu ermitteln ist (vgl. BayVGH, B. v. 22.6.2020 – 2 CS 20.1085 – n.v. Rn. 4). Dies ist hier nach dem vorstehend Ausgeführten gerade nicht der Fall.
47
2.1.3. Nicht entscheidungserheblich ist ferner, ob das Vorhaben nur nach einer entsprechenden Bebauungsplanänderung hätte zugelassen werden dürfen oder nicht. Selbst wenn ein Planungserfordernis (§ 1 Abs. 3 Satz 1, Abs. 8 BauGB) bestanden haben sollte, eine Bebauungsplanänderung mithin notwendig gewesen wäre und die Widersprüche zum geltenden Bebauungsplan nicht über das Instrument der Befreiung hätten ausgeräumt werden können (und dürfen), würde der Antragsteller hierdurch nicht in seinen Rechten verletzt (vgl. BVerwG, B.v. 3.8.1982 – 4 B 145/82 – DVBl 1982, 1096, juris Rn. 4 ff.; U.v. 10.12.1982 – 4 C 49/79 – NJW 1983, 1574, juris Rn. 15 f.; B.v. 28.7.1994 – 4 B 94/94 – ZfBR 1995, 53, juris Rn. 4 ff.; B.v. 24.4.1997 – 4 B 65/97 – ZfBR 1997, 269, juris Rn. 2f).
48
2.2. Damit kommt es für die Beurteilung der Erfolgsaussichten von Klage und Eilantrag nicht darauf an, ob die der Beigeladenen erteilten Befreiungen (objektiv) rechtmäßig erteilt wurden, die Befreiungen vollständig sind oder bei der Erteilung der Befreiungen eine ermessensfehlerfreie Entscheidung getroffen wurde (BayVGH, B.v. 11.8.2021 – 15 CS 21.1775 – juris Rn. 21). Der Antragsteller hat über den Anspruch auf Würdigung ihrer nachbarlichen Interessen hinaus keinen umfassenden Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Baugenehmigungsbehörde. Alle übrigen denkbaren Fehler einer Befreiung machen diese zwar möglicherweise objektiv rechtswidrig, vermitteln dem Nachbarn aber keinen Abwehranspruch, weil seine eigenen Rechte dadurch nicht berührt werden (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – UPR 1998, 455, juris Rn. 5; OVG NW, B.v. 10.9.2018 – 10 B 1228/18 – juris Rn. 10).
49
Ein Abwehranspruch des Nachbarn besteht nur dann, wenn die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung über die Befreiung nicht die gebotene Rücksicht auf die Interessen des Nachbarn genommen hat, wobei hier nur materielle Nachbarinteressen eine Rolle spielen (vgl. BVerwG, B.v. 17.11.2015 – 4 B 35/15 – ZfBR 2016, 156, juris Rn. 5). Daher bedarf es keiner Erörterung, ob der Bescheid in formeller Hinsicht dem Begründungserfordernis des Art. 68 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 1 BayBO entspricht oder nicht (vgl. insoweit auch: BayVGH, B.v. 9.8.2019 – 9 CS 11.09 – BeckRS 2019, 19823 Rn. 16, wonach allein ein Verstoß gegen das Begründungserfordernis nicht automatisch zur Aufhebung der Baugenehmigung zugunsten des Nachbarn führt).
50
Der Nachbarschutz richtet sich insoweit nach den Grundsätzen des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme, das aufgrund der gemäß § 31 Abs. 2, Abs. 3 BauGB gebotenen „Würdigung nachbarlicher Interessen“ Eingang in die bauplanungsrechtliche Prüfung findet. Demnach werden Nachbarrechte nur verletzt, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BVerwG, U.v. 19.9.1986 – 4 C 8/84 – BauR 1987, 70, juris Rn. 17; B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – UPR 1998, 455, juris Rn. 5 f.; U.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – BVerwGE 162, 363, juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 25 m.w.N.; B.v. 18.12.2017 – 9 CS 17.345 – juris Rn. 15).
51
Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, Spannungen und Störungen, die durch unverträgliche Grundstücksnutzungen entstehen, möglichst zu vermeiden. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab. Für eine sachgerechte Bewertung des Einzelfalles kommt es wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zumutbar ist, an (BVerwG, U.v. 18.11.2004 – 4 C 1.04 – NVwZ 2005, 328, juris, Rn. 22; U.v. 29.11.2012 – 4 C 8.11 – BVerwGE 145, 145, juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 12.9.2013 – 2 CS 13.1351 – juris Rn. 4). Bedeutsam ist ferner, inwieweit derjenige, der sich gegen das Vorhaben wendet, eine rechtlich geschützte wehrfähige Position innehat (BVerwG, B.v. 6.12.1996 – 4 B 215.96 – NVwZ-RR 1997, 516, juris Rn. 9). Eine Rechtsverletzung ist erst dann zu bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht (BayVGH, B.v. 22.6.2011 – 15 CS 11.1101 – juris Rn. 17).
52
Bei Würdigung der besonderen Umstände des Einzelfalls ist nicht ersichtlich, dass mit dem Vorhaben Auswirkungen einhergehen, welche dem Antragsteller nicht zugemutet werden können.
53
Ein Verstoß gegen das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme ergibt sich nicht bereits aus der Anzahl an in Aussicht gestellten Befreiungen. Entscheidend ist vielmehr, ob aufgrund der Belastungswirkungen, die aus den Befreiungen – einzeln und in der Gesamtwirkung – folgen, eine unzumutbare Betroffenheit des Nachbarn resultiert (BayVGH, B.v. 6.3.2007 – 1 CS 06.2764 – BayVBl 2008, 84, juris Rn. 32 f.; B.v. 11.8.2021 – 15 CS 21.1775 – juris Rn. 24). Dies ist jedoch hier nicht ersichtlich.
54
Insbesondere vermag die Kammer weder eine erdrückende Wirkung des streitigen Vorhabens festzustellen noch lässt sich eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme zu Lasten seines Sondereigentums aus einer vorhabenbedingten Verschattung herleiten.
55
2.2.1. Festzustellen ist zunächst, dass das genehmigte Vorhaben die Vorgaben des bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenrechts zum Nachbargrundstück hin wahrt. Die Einhaltung der bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenvorschriften indiziert für das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmgebot in tatsächlicher Hinsicht, dass auch das planungsrechtliche Rücksichtnahmegebot im Regelfall nicht verletzt ist (vgl. BVerwG, B.v. 11.1.1999 – 4 B 128.98 – UPR 1999, 191, juris Rn. 4; B.v. 15.6.2016 – 4 B 52.15 – BRS 84 Nr. 123, juris Rn. 9; BayVGH, B.v. 6.11.2008 – 14 ZB 08.2326 – juris Rn. 10; B.v. 15.3.2011 – 15 CS 11.9 – juris Rn. 30). Dass insoweit eine Ausnahmesituation vorliegt, ist auch unter Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalles nicht ersichtlich.
56
2.2.2. Das geplante Vorhaben entfaltet weder einmauernde noch erdrückende Wirkung auf das Sondereigentum des Antragstellers.
57
Ein Vorhaben übt grundsätzlich dann „erdrückende“ bzw. „einmauernde“ Wirkung gegenüber dem Nachbarn aus, wenn es in Höhe und Volumen ein Übermaß besitzt und auch nicht annähernd den vorhandenen Gebäuden gleichartig (vgl. BayVGH, B.v. 12.9.2013 – 2 CS 13.1351 – juris Rn. 5 m.w.N.) ist. Für die Annahme einer solchen Wirkung besteht grundsätzlich schon dann kein Raum, wenn der Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes (vgl. BayVGH, B.v. 11.5.2010 – 2 CS 10.454 – juris Rn. 5; B.v. 5.12.2012 – 2 CS 12.2290 – juris Rn. 9; B.v. 17.7.2013 – 14 ZB 12.1153 – BauR 2014, 810, juris Rn. 14; B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 30). Dies gilt insbesondere dann, wenn die Gebäude im dicht bebauten städtischen Bereich liegen (vgl. BayVGH, v. 20.4.2010 – 2 ZB 07.3200 – juris Rn. 3; B.v. 11.5.2010 a.a.O. Rn. 5; U.v. 7.10.2010 – 2 B 09.328 – juris Rn. 22).
58
Legt man zugrunde, unter welchen Umständen von der Rechtsprechung eine einmauernde oder erdrückende Wirkung angenommen wurde (vgl. bspw. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – DÖV 1981, 672, juris Rn. 38: 12-geschossiges Gebäude in 15 m Entfernung zum 2,5-geschossigen Nachbarwohnhaus; U.v. 23.5.1986 – 4 C 34/85 – DVBl 1986, 1271, juris Rn. 15: drei 11,05 m hohe Siloanlagen im Abstand von 6 m zu einem zweigeschossigen Wohnanwesen), so ist ein solcher Extremfall hier schon angesichts der Abstände der Gebäude zueinander (ca. 16 m) nicht erkennbar (die Oberkante Attika des zweiten Obergeschosses beträgt 8,83 m, diejenige des darauf befindlichen zurückgesetzten Terrassengeländers + 9,68 m und die Oberkante Attika des – um 2,50 m zurückspringenden – Terrassengeschosses + 11,76 m, Bezugspunkt jeweils 0,00). Zwar übersteigt die Höhe des genehmigten Vorhabens mit bis zu vier Geschossen diejenige des Wohnhauses des Antragstellers, welches nach öffentlich zugänglichen Quellen – „google maps“ – gartenseitig dreigeschossige Wirkung besitzt. Ein erheblicher Höhenunterschied i.S. einer erdrückenden Wirkung liegt hierin nicht (vgl. BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 30). Im Bereich des Reihenhauses des Antragstellers springt das oberste Geschoss auch um 2,50 m von der nordöstlichen Gebäudeaußenkante zurück, was die Beeinträchtigung (zusätzlich) schmälert.
59
2.2.2. Auch die durch das Vorhaben zu erwartenden Auswirkungen auf die Belichtung erreichen nicht ansatzweise ein unzumutbares Ausmaß. Ein Verschattungseffekt als typische Folge der Bebauung ist insbesondere in innergemeindlichen bzw. innerstädtischen Lagen, bis zu einer im Einzelfall zu bestimmenden Unzumutbarkeitsgrenze in der Regel nicht rücksichtslos und daher hinzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 10.12.2008 – 1 CS 08.2770 – BayVBl 2009, 751, juris Rn. 24; B.v. 20.3.2018 – 15 CS 17.2523 – juris Rn. 28 m.w.N.; OVG Bremen, B.v. 19.3.2015 – 1 B 19/15 – BauR 2015, 1802, juris Rn. 19; SächsOVG, B.v. 4.8.2014 – 1 B 56/14 – IBR 2014, 694, juris Rn. 19). Dass die Unzumutbarkeitsgrenze bei der gebotenen Einzelfallbetrachtung aufgrund einer besonderen Belastungswirkung im konkreten Fall überschritten sein könnte, ist schon angesichts der Gebäudeabstände vorliegend nicht erkennbar. Was die in Aussicht gestellte Befreiung von der festgesetzten Baugrenze anbelangt, ist zudem darauf hinzuweisen, dass der Bereich, in welchem diese überschritten wird, an der Südostseite des geplanten Baukörpers – und damit an der vom Antragsteller abgewandten Seite, gelegen ist.
60
2.2.3. Auch in Bezug auf Situierung der Garage mit insgesamt vier Einstellplätzen (Doppelparker) ist ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme in Bezug auf das Sondereigentum des Antragstellers nicht ersichtlich.
61
II. Mangels Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage durch das Gericht kann auch der in Ziffer II. der Antragsschrift enthaltene Antrag auf Erlass einer Sicherungsmaßnahme keinen Erfolg haben.
62
Die Anordnung einer Sicherungsmaßnahme nach § 80a Abs. 3 Satz 1 VwGO i.V.m. Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 VwGO stellt eine Annexentscheidung zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Nachbarklage gegen den Baugenehmigungsbescheid dar und setzt mithin voraus, dass die Vollziehung des Verwaltungsaktes ausgesetzt bzw. die aufschiebende Wirkung einer Klage – wie hier – gerichtlich angeordnet bzw. wiederhergestellt wurde.
63
III. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, dass die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt, da sie keine Anträge gestellt und sich somit keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat (§ 162 Abs. 3 und § 154Abs. 3 VwGO).
64
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) i.V.m. den Ziffern 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.