Titel:
Geschlechtsspezifische Verfolgung von Frauen im militärischen Teil des eritreischen Nationaldienstes
Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 2 Nr. 5, § 3b Abs. 1 Nr. 4, § 4 Abs.1 S.1 Nr. 2, § 26 Abs. 2, Abs. 5, § 26a Abs. 1 S. 1, Abs. 2, § 27 Abs. 1, Abs. 3 S. 1
GG Art. 16a Abs. 1
AnerkennungsRL Art. 4 Abs. 4
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Frauen im militärischen Teil des eritreischen Nationaldienstes bilden eine bestimmte soziale Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG und sind aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit geschlechtsspezfischer Verfolgung ausgesetzt. (Rn. 101 – 104)
2. Entsprechend sind Frauen im eritreischen Nationaldienst auch als eine soziale Gruppe i.S.v. Art. 16a Abs. 1 GG zu betrachten und sind dort einer politischen Verfolgung ausgesetzt. (Rn. 125 – 138)
3. Auch 16-jährigen ledigen, kinderlosen Frauen droht die Einziehung in den militärischen Bereich des Nationaldienstes von Eritrea. (Rn. 96 – 99)
1. Die Unterzeichnung der „Reueerklärung“, mit der eine möglicherweise straffreie Rückkehr nach Eritrea ermöglicht werden soll, ist vor dem Hintergrund der Willkürlichkeit des Vorgehens des eritreischen Staats nicht zumutbar. (Rn. 80) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Ausländer kann die Ausschlusswirkung des § 27 Abs. 1 AsylG abwenden, wenn er glaubhaft machen kann, dass seine Flucht trotz eines mehr als dreimonatigen Aufenthalts in einem Drittstaat nicht beendet gewesen ist, weil dieser Aufenthalt lediglich ein Zwischenaufenthalt war, um die Weiterreise nach Deutschland im Rahmen der Familienzusammenführung überhaupt erst möglich zu machen. (Rn. 122) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus für volljährigen Eritreer., Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und der Asylberechtigung für 16-Jährige Eritreerin. Gefahr der Einziehung in den militärischen Bereich des Nationaldienstes von Eritrea auch bei 16-Jährigen. Geschlechtsspezifische Verfolgung von Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes. Definition der bestimmten sozialen Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG unter Berücksichtigung unionsrechtlicher Vorgaben nach dem Urteil des EuGH vom 16.1.2024 (Az. C-621/21). Fluchtbeendigung i.S.d. § 27 Abs. 1, 3 AsylG. Bestimmung der politischen Verfolgung i.S.d. Art. 16a Abs. 1 GG im Lichte der Genfer Flüchtlingskonvention, der EU-Richtlinie 2011/95/EU und der Rechtsprechung des EuGH., Feststellung eines Abschiebungsverbots für minderjährigen Eritreer., Eritrea, Flüchtlingseigenschaft, Asyl, Nationaldienst, Wehrdienstentziehung, Diaspora-Status, Reueerklärung, Tigray-Konflikt, "giffa", Abschiebungsverbot, Drittstaat
Fundstelle:
BeckRS 2025, 16065
Tenor
I. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger zu 1 den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, der Klägerin zu 2 die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und ihre Asylberechtigung anzuerkennen sowie das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG für den Kläger zu 3 hinsichtlich Eritrea festzustellen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18.1.2024 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Kläger ein Drittel, die Beklagte zwei Drittel. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in jeweils entsprechender Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Kläger, drei Geschwister, wenden sich gegen die vollständige Ablehnung ihres gemeinsamen Asylantrags.
2
Der Kläger zu 1 ist am …2006 in U. A. Eritrea geboren. Die Klägerin zu 2 ist am …2009 in U. A. , Eritrea geboren. Der Kläger zu 3 ist am …2016 in D. , Eritrea geboren. Die Kläger sind eritreische Staatsangehörige tigrinischer Volkszugehörigkeit und christlich-orthodoxer Religionszugehörigkeit. Die Kläger sind zusammen mit ihrer Mutter am 27.8.2022 im Rahmen der Familienzusammenführung zu ihrem Vater mit dem Flugzeug aus Äthiopien nach Deutschland eingereist. Ihre Eltern stellten am 22.11.2022 einen gemeinsamen Asylantrag für sie. Der Vater der Kläger wurde eingebürgert und verfügt über die deutsche Staatsangehörigkeit.
3
Am 12.4.2023 fand die Anhörung der von ihrem Vater vertretenen Kläger durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) statt. Der Vater der Kläger führte dabei unter anderem aus, dass die Kläger der Volksgruppe der Tigrinya angehörten. Die Eltern des Vaters seien bereits verstorben, er habe aber noch einen Bruder sowie die Großfamilie in Eritrea. Zu denen habe er auch selten Kontakt. Sie lebten in U. A. . Der Vater der Kläger erklärte, seine Kinder seien noch minderjährig und könnten noch nicht für sich selbst sprechen. Aber in Eritrea würden sie keine richtige Schulbildung bekommen. Sie würden im Falle der Rückkehr nach der Schule Wehrdienst leisten müssen und könnten nicht machen, was sie wollten. Sie hätten keine Zukunft in Eritrea. Wegen der jetzigen Regierung könne man sich nicht frei äußern. Der Bruder des Vaters der Kläger, der noch sehr jung sei, habe zwei Kinder. Weil der Bruder nicht zum Militärdienst gegangen sei, habe man seine Frau und Kinder aus der Wohnung geworfen. Es gebe keine Menschenrechte in Eritrea. Es habe früher in Eritrea die Tradition gegeben, Mädchen minderjährig zu verheiraten, aber mittlerweile seien die Menschen aufgeklärter. Der Vater der Kläger würde seine Tochter auch nicht minderjährig heiraten lassen. Im Falle einer Rückkehr der Kinder nach Eritrea drohe eine schwere Strafe, weil sie das Land illegal verlassen hätten. Würden die Kläger zurückkehren, so würden sie inhaftiert und dann zum Militär eingezogen werden. Der Vater der Kläger sei gegen die Beschneidung. In Eritrea sei das gesetzlich verboten. Es gebe auch niemanden, der sie zwingen würde, das zu tun. Seine Tochter sei nicht beschnitten worden. Die Kinder hätten in Deutschland noch ihre Eltern sowie einen volljährigen Bruder.
4
In den Akten des Bundesamtes findet sich auch eine Niederschrift über die Anhörung der Mutter der Kläger vom 12.4.2023 durch das Bundesamt. Auf deren Inhalt wird verwiesen.
5
Mit Bescheid vom 18.1.2024, den gesetzlichen Vertretern der Kläger laut Postzustellungsurkunde am 30.1.2024 zugegangen, lehnte das Bundesamt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab (Ziffer 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4).
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Hiergegen erhoben die Eltern der Kläger am 5.2.2024 Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht Regensburg.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen angeführt, dass im Falle einer Rückkehr nach Eritrea die illegal ausgereisten Kläger zu 1 und 2 sofort verhaftet und/oder zum Nationaldienst gegen ihren Willen verpflichtet werden würden. Der Kläger zu 3 würde irgendwo als „Waise“ untergebracht werden. Derzeit lebten die Kläger gemeinsam mit ihren Eltern, sowie ihrem kleinen Bruder (der deutscher Staatsbürger sei) in der gemeinsamen Familienwohnung. Ebenfalls lebe in der Familie ein weiterer Bruder der Kläger. Der Vater der Kläger stehe in einem ungekündigten unbefristeten Arbeitsverhältnis mit einem Monatseinkommen von +/- ca. 2.000,- € netto monatlich. Durch Abschiebung würde die Familie auseinandergerissen werden, es bestünden daher zu Gunsten der Kläger jedenfalls Abschiebungshindernisse gem. § 60 Abs. 5, 7 AufenthG.
- 1.
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Der Bescheid der Beklagten vom 18.01.2024, Az.: 9986269-224 wird aufgehoben.
- 2.
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Die Beklagte wird verpflichtet, den Asylantrag der Kläger anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorliegen.
- 3.
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Hilfsweise wird die Beklagte verpflichtet, subsidiären Schutzstatus der Kläger anzuerkennen.
- 4.
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Hilfsweise wird die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Aufenthaltsgesetz bestehen.
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Das Bundesamt beantragt für die Beklagte unter Bezugnahme auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung,
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Mit Beschluss vom 15.1.2025 wurde der Rechtsstreit auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.
11
Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der vorgelegten Behördenakte und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 8.4.2025 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Entscheidung ergeht gem. § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) durch den Berichterstatter als Einzelrichter.
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Die Klage ist zulässig und im tenorierten Umfang begründet.
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1. Die Klage ist zunächst insoweit begründet, als der Kläger zu 1 die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus begehrt.
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a) Der Kläger zu 1 hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter oder auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Insoweit ist die Klage unbegründet.
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(1) Ein solcher Anspruch leitet sich bereits nicht aus dem dem Vater zuerkannten Schutzstatus gem. § 26 Abs. 2, 5 Satz 1, 2 AsylG ab.
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Gem. § 26 Abs. 2, 5 Satz 1, 2 AsylG wird ein zum Zeitpunkt seiner Asylantragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylberechtigten bzw. eines international Schutzberechtigten auf Antrag als asylberechtigt bzw. international schutzberechtigt anerkannt, wenn die Anerkennung des sogenannten Stammberechtigten unanfechtbar ist und diese Anerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist.
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Als der Ablehnungsbescheid am 18.1.2024 erging, war der Kläger zu 1 zwar noch nicht volljährig, er ist dies jedoch zwischenzeitlich, nämlich am …2024 geworden. Zudem war sein Vater bereits zum Zeitpunkt der Ablehnungsentscheidung eingebürgert und ist nach wie vor deutscher Staatsbürger. Mit Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft verlor der Vater der Kläger seinen Schutzstatus, sodass sich hieraus auch kein akzessorischer Status seiner Kinder ableiten kann (vgl. BVerwG, B.v. 16.12.2008 – 10 B 12/08 – Rn. 6 juris). Der Wortlaut des § 26 AsylG ist insoweit eindeutig und lässt keinen Raum für eine analoge Anwendung.
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(2) Auch hat der Kläger zu 1 keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter oder auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus Art. 16a Abs. 1 Grundgesetz (GG) bzw. § 3 AsylG.
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Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist – unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben – Flüchtling, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland wegen seiner „Rasse“, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG ausgesetzt ist (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris). Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn dem Einzelnen in Anknüpfung an die genannten Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die wegen ihrer Intensität den Betroffenen dazu zwingen, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielten Rechtsverletzung fehlt es aber regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolution und Kriegen (vgl. OVG NRW, U.v. 28.3.2014 – 13 A 1305/13.A – juris). Eine Verfolgung i.S. d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten (vgl. auch VG Augsburg, U.v. 11.8.2016 – Au 1 K 16.30744 – juris). Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist es nach § 3b Abs. 2 AsylG auch unerheblich, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist, weil er tatsächlich die Merkmale besitzt, die zu seiner Verfolgung führen, sofern der Verfolger dem Betroffenen diese Merkmale tatsächlich zuschreibt.
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Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt unabhängig davon, ob bereits eine Vorverfolgung stattgefunden hat, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – BVerwGE 140, 22). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festzustellenden Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 RL 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie – QRL) neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67 m.w.N.). Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn bei einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50% für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris m.w.N.).
22
Eine Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU. Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Handlungen oder Bedrohungen eine Beweiskraft für die Wiederholung in der Zukunft bei, wenn sie eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen (vgl. BayVGH, U.v. 13.2.2019 – 8 B 17.31645 m.w.N. – juris). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften (BayVGH, U.v. 13.2.2019 – 8 B 17.31645 m.w.N. – juris).
23
Bezüglich der vom Ausländer im Asylverfahren geltend gemachten Umstände, die zu seiner Ausreise aus dem Heimatland geführt haben, genügt aufgrund der regelmäßig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Ausländers die Glaubhaftmachung. Die üblichen Beweismittel stehen ihm häufig nicht zur Verfügung. In der Regel können unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Ausländers und dessen Würdigung eine gesteigerte Bedeutung zu. Dies bedeutet anderseits jedoch nicht, dass der Tatrichter einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris; BVerwG, U.v. 11.11.1986 – 9 C 316.85 – juris). Eine Glaubhaftmachung in diesem Sinne setzt voraus, dass die Geschehnisse im Heimatland schlüssig, substantiiert und widerspruchsfrei geschildert werden. Erforderlich ist somit eine anschauliche, konkrete und detailreiche Schilderung des Erlebten. An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es in der Regel, wenn der Asylsuchende im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellung nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheint, sowie auch dann, wenn er sein Asylvorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Asylbegehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. VG Ansbach, U.v. 24.10.2016 – AN 3 K 16.30452 – juris m.w.N.).
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Dies zugrunde gelegt hat der Kläger zu 1 keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG. Der Kläger zu 1 macht im Wesentlichen geltend, dass er bei seiner Rückkehr nach Eritrea in den militärischen Teil des Nationaldienstes geschickt werden würde.
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Die Einberufung zum Nationaldienst durch den eritreischen Staat stellt jedenfalls für männliche Rekruten keinen im Rahmen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG beachtlichen Verfolgungsgrund dar. Die Einberufung von Männern zum Nationaldienst weist keine Verknüpfung mit einem Kriterium des § 3b AsylG auf. Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
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Ausgehend von diesen Maßstäben geht der zur Entscheidung berufene Einzelrichter bei einer qualifizierenden Gesamtbetrachtung und Würdigung der vorliegenden Erkenntnismittel mit der einhelligen obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris; OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online; OVG Greifswald, U.v. 17.8.2023 – 4 LB 145/20 OVG – beck-online; OVG Bremen, B.v. 24.1.2023 – 1 LA 200/21 – juris u. v. 29.7.2022 – 1 LA 284/21 – juris; OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 29.9.2022 – OVG 4 B 14/21 – juris; VGH Baden-Württemberg, U.v. 18.1.2022 – VGH A 13 S 2403/21 – juris; BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris; OVG Saarland, U.v. 21.3.2019 – 2 A 10/18 – juris; VGH Hessen, U.v. 30.7.2019 – 10 A 797/18.A – juris) davon aus, dass die Einziehung zur Ableistung des Nationaldienstes in Eritrea nicht an eine dem Kläger zu 1 zugeschriebene politische Überzeugung oder ein anderes flüchtlingsschutzerhebliches Merkmal anknüpft.
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Gegen eine Anknüpfung an ein flüchtlingsschutzerhebliches Merkmal des Klägers zu 1 ist in erster Linie anzuführen, dass sich die Verpflichtung zur Ableistung des Nationaldienstes in Eritrea nach Rechtslage und Anwendungspraxis im Wesentlichen auf alle erwachsenen eritreischen Staatsangehörigen ohne Unterscheidung nach flüchtlingsschutzerheblichen individuellen Persönlichkeitsmerkmalen („Rasse“, Religion, Nationalität, politische Überzeugung, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe) erstreckt (vgl. auch OVG Lüneburg U. v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online).
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Gemäß der Proklamation Nr. 82/1995 über den Nationaldienst (Proclamation on National Service No. 82/1995) vom 23. Oktober 1995 sind in Eritrea Männer und Frauen vom achtzehnten bis zum vierzigsten Lebensjahr nationaldienstpflichtig („active national service“) und gehören bis zum fünfzigsten Lebensjahr der Reservearmee („reserve military service“) an (Bundesamt für Fremdenwesen (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 18; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse vom 30.6.2017, S. 4). Nach abweichenden Angaben soll sich das Höchstalter für den Wehr- und Nationaldienst seit 2009 für Männer auf 57 und für Frauen auf 27 bzw. 47 Jahre belaufen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 18; Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 14; Amnesty International (AI) an VG Magdeburg vom 2.8.2018). In der Praxis kommt es vor, dass Eritreer bereits ab dem Alter von etwa 16 Jahren als dienstpflichtig behandelt werden, wobei teilweise auch noch jüngere Eritreer rekrutiert werden. Maßgeblich für die Rekrutierung ist nicht das tatsächliche Alter, sondern häufig eine Alterseinschätzung aufgrund des Aussehens der Person (vgl. European Asylum Support Office (EASO), Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 32 f.; EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 36 f.; SFH, Eritrea: Rekrutierung von Minderjährigen, Auskunft der SFH Länderanalyse, 6.12.2021, S. 1 ff.). Alle Dienstpflichtigen absolvieren gem. Art. 8 der Proklamation Nr. 82/1995 zuerst eine sechsmonatige militärische Ausbildung und werden dann entweder dem militärischen Teil unter dem Verteidigungsministerium zugeteilt oder einer zivilen Aufgabe, die von einem anderen Ministerium verwaltet wird. Angehörige des militärischen Teils leisten Dienst im eritreischen Militär (Armee, Marine oder Luftwaffe). Teilweise leisten sie auch Arbeitseinsätze im Aufbau von Infrastruktur und in der Landwirtschaft. Sie leben auf militärischen Stützpunkten und sind in Einheiten eingeteilt. Angehörige des zivilen Teils leisten ihren Dienst in zivilen Projekten. Zu diesem Zweck teilt sie die Regierung verschiedenen Ministerien zu. Meist handelt es sich um Personen mit guter Ausbildung oder speziellen Fähigkeiten. Typisch sind Einsätze an Schulen, Gerichten oder in der medizinischen Versorgung. Ihren zugeteilten Aufgaben gehen die Dienstleistenden wie einer normalen Arbeit nach. Sie leben mit ihren Eltern, Familien oder in privaten Wohnungen am Arbeitsort (vgl. Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), Staatssekretariat für Migration (SEM), Sektion Analysen: Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise (Stand: 22.6.2016), S. 11 f.). Zuständig für die Einteilung der Wehrpflichtigen in den militärischen bzw. zivilen Teil ist das Verteidigungsministerium (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 25.). Ausgenommen vom Nationaldienst sind lediglich Personen, die ihre Dienstpflicht bereits vor Inkrafttreten der Proklamation Nr. 82/1995 erfüllt haben, sowie ehemalige Unabhängigkeitskämpfer (Art. 12 der Proklamation Nr. 82/1995). Gesundheitliche Beeinträchtigungen führen in der Regel nur dazu, dass die militärische Ausbildung erlassen wird (Art. 13 Abs. 1 der Proklamation Nr. 82/1995), nicht jedoch die Dienstverpflichtung als solche. Faktisch werden verheiratete oder schwangere Frauen sowie Mütter in der Regel jedenfalls von der Dienstleistung im militärischen Teil des Nationaldiensts ausgenommen (vgl. Danish Immigration Service (DIS), Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 29; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 34, vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online). Ein Einsatz im zivilen Bereich des Nationaldienstes bleibt aber auch für verheiratete oder schwangere Frauen sowie Mütter möglich (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 19; AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 15). Nach Art. 21 der Proklamation Nr. 82/1995 kann die Dienstpflicht im Falle eines Kriegs oder einer allgemeinen Mobilmachung über die Dauer von 18 Monaten hinaus verlängert werden, sofern die zuständige Behörde den Dienstpflichtigen nicht offiziell entlassen hat. Seit dem Grenzkrieg mit Äthiopien rechtfertigt die eritreische Regierung die unbeschränkte Dauer des Nationaldiensts mit der Bedrohung durch Äthiopien. Der 1998 verhängte faktische Ausnahmezustand wurde seither nicht aufgehoben. Auf dieser Grundlage zieht der Staat Eritrea seine Staatsangehörigen regelmäßig zu einer die 18-Monats-Grenze überschreitenden, langjährigen Dienstleistung heran (Human Rights Council (HRC), Situation of human rights in Eritrea 5/2024, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, S. 7; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 19; AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 13; DIS, Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 17 ff.; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 33 f. EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32 ff.; EJPD, SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 11 f.; SFH, Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 30.6.2017, S. 4 f.; AI; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online).
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Die wichtigste Methode der Rekrutierung zum Nationaldienst stellt das Schulsystem dar. Die eritreische Regierung bezeichnet diese Rekrutierungsform als „reguläre“ Rekrutierung. Die Rekrutierung in den Nationaldienst findet unmittelbar im Anschluss an das 12. Schuljahr statt. Schülerinnen und Schüler, die das 11. Schuljahr abgeschlossen haben, absolvieren die 12. Klasse in dem Militärlager in Sawa. Das Resultat der dort abgelegten Abschlussprüfung (Eritrean Secondary Education Certificate Examination, ESECE) bestimmt die weiteren Bildungsmöglichkeiten und die Einteilung in den Nationaldienst. Die Schüler mit den besten Noten beginnen das Studium an einer der neun Hochschulen. Nach Studienabschluss werden den Absolventen Funktionen im zivilen Teil des Nationaldiensts zugeteilt. Schüler mit einem mittelmäßigen Abschluss besuchen das „Sawa Center for Technical and Vocational Education“. Den Absolventen werden anschließend Aufgaben im zivilen oder militärischen Teil des Nationaldiensts zugewiesen. Die Schüler mit den schlechtesten Noten gehen entweder an Berufsbildungsschulen oder direkt in den Nationaldienst. Wer direkt in den Nationaldienst kommt, wird dem zivilen oder militärischen Teil oder der Mitarbeit in einem der Bau- oder Landwirtschafts-Unternehmen der Regierungspartei PFDJ zugeteilt (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 27 ff.; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online).
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Die Rekrutierung der Schüler, die die Schule bereits vor Erreichen der 12. Klasse verlassen haben, erfolgt durch die lokale Verwaltung. Durch Informationen der Schulen behalten die Lokalverwaltungen einen Überblick über die Schulabgänger und ihr Alter. Das Militär weist die lokalen Verwaltungen regelmäßig an, Schulabgänger einzubestellen, damit sie dem Nationaldienst zugeführt werden können oder zumindest eine Liste mit geeigneten Heranwachsenden zu übergeben. Die Einberufungen werden von der lokalen Verwaltung u.a. an schwarzen Brettern, mit Briefen, Hausbesuchen oder Radioansagen bekannt gemacht. Von der Lokalverwaltung einberufene Personen werden meist dem militärischen Teil des Nationaldiensts zugeteilt (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 29 f; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online). Die Einberufung zum Nationaldienst findet zudem statt, wenn Schulabbrecher bei dem Versuch, das Land zu verlassen, aufgegriffen werden (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 31 f.). Eine weitere Methode der Rekrutierung zum Nationaldienst stellen Razzien durch die Sicherheitskräfte (sog. „giffas“) dar. Die in „giffas“ rekrutierten Deserteure und Dienstverweigerer verbleiben üblicherweise erst einige Tage oder Wochen in einem Gefängnis und werden dann zur militärischen Ausbildung in Ausbildungslager geschickt. Vereinzelt fahnden militärische Einheiten auch gezielt nach Dienstverweigerern, insbesondere wenn diese einem Aufgebot keine Folge geleistet haben (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 31 f.; EJPD, SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 5; vgl. insgesamt auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online).
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Aufgrund der dargestellten Rechtslage und Anwendungspraxis geht der zur Entscheidung berufene Einzelrichter davon aus, dass der eritreische Staat grundsätzlich jeden eritreischen Bürger im dienstpflichtigen Alter gleichermaßen und ohne Ansehung von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen als dienstverpflichtet ansieht. Insoweit sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Staat Eritrea eine Auswahl oder Auslese anhand flüchtlingsschutzrechtlicher Merkmale wie „Rasse“, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vornimmt. Dies lässt sich vor allem an der dargestellten Rekrutierung jugendlicher eritreischer Staatsangehöriger zum Nationaldienst durch das Schulsystem erkennen, die nach den vorstehenden Ausführungen systematisch alle Kreise der eritreischen Bevölkerung gleichermaßen erfasst (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, U.v. 21.9.2020 – 19 A 1857/19.A – juris; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online). Aus keinem der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel ergibt sich etwas anderes, als dass der eritreische Staat im Wesentlichen alle Staatsbürger ab der Volljährigkeit oder faktisch zum Teil auch kurz vorher in den Nationaldienst einzieht bzw. dies vorgesehen ist.
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Es ist nach dem Vorstehenden auch nicht ersichtlich, dass der Staat Eritrea hinsichtlich der – in der Praxis regelmäßig die 18-Monats-Grenze überschreitenden – Dauer des Nationaldiensts oder in Bezug auf die dargestellten gesetzlichen oder faktischen Ausnahmen von den Altersgrenzen (Rekrutierung Minderjähriger) und von der Einziehung (ehemalige Unabhängigkeitskämpfer; verheiratete bzw. schwangere Frauen und Mütter) eine Anknüpfung an flüchtlingsschutzerhebliche Persönlichkeitsmerkmale vornimmt (so auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online; BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris).
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Angesichts der insoweit praktisch sämtliche erwachsenen eritreischen Staatsangehörigen gleichermaßen ohne Ansehung ihrer individuellen Persönlichkeitsmerkmale treffenden Dienstverpflichtung fehlt es insbesondere an Anhaltspunkten dafür, dass die Heranziehung zum Nationaldienst als solche an eine dem Kläger zu 1 unterstellte regimegegnerische politische Überzeugung anknüpft. Aus diesen Gründen scheidet auch die Annahme des Verfolgungsgrunds der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG hinsichtlich der Heranziehung zum Nationaldienst aus. Denn angesichts der die eritreische Bevölkerung ausnahmslos treffenden Dienstverpflichtung kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Gruppe der Dienstverpflichteten als solche im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AsylG von der eritreischen Gesellschaft als andersartig betrachtet würde und daher eine deutlich abgegrenzte Identität besäße (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online).
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Etwas anderes folgt auch nicht aus der (auch) politischen Dimension des Nationaldiensts. Zwar dient der Nationaldienst auch der Verbreitung der Staatsideologie und wird als „Schule der Nation“ angesehen (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 24 f.). So heißt es etwa in Art. 5 der Proklamation Nr. 82/1995, der Nationaldienst diene unter anderem dazu, das Gefühl der nationalen Einheit im eritreischen Volk zu stärken und subnationale Gefühle zu eliminieren. Die ideologische Bedeutung spiegelt sich auch darin wieder, dass im 12. Schuljahr – das nur im militärischen Ausbildungslager in Sawa vorgesehen ist – neben der militärischen Ausbildung die Vermittlung der nationalen Werte und damit die Ideologie der Regierungspartei im Mittelpunkt steht (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 24 f., 27; SFH, Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 30.6.2017, S. 6 f.; EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32, 37). Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Einziehung in den Nationaldienst nicht an ein Merkmal i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG anknüpft, sondern grundsätzlich alle eritreischen Staatsbürger trifft (vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online; BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris).
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Bezüglich der Heranziehung zum militärischen Teil des Nationaldiensts kommt hinzu, dass diese – wie es in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG indirekt zum Ausdruck kommt – jedenfalls grundsätzlich nicht dem flüchtlingsschutzrechtlichen Schutzversprechen unterfällt, da jedem souveränen Staat grundsätzlich das Recht zusteht, seine Staatsangehörigen zum Wehr- bzw. Militärdienst heranzuziehen (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online; BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris). Auch wenn die Regelung des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG kein umfänglicher Ausschlussgrund für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Zusammenhang mit dem Wehr- und Militärdienst ist oder man den Nationaldienst in Eritrea nicht als Dienst i.d.S. sehen würde, so führt dies dennoch nicht dazu, dass die Einberufung bzw. eine Festnahme und Inhaftierung in diesem Zusammenhang in Eritrea grundsätzlich eine flüchtlingsrelevante Vorverfolgung darstellt, da es an einem Anknüpfen an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal fehlt (s.o.).
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Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Bedingungen, unter denen der Nationaldienst in Eritrea abzuleisten ist, denn auch sie knüpfen jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an flüchtlingsschutzrechtliche Merkmale i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG wie „Rasse“, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe an. Zwar ist davon auszugehen, dass in „giffas“ aufgegriffene Deserteure und Dienstverweigerer sowie bei dem Versuch der illegalen Ausreise verhaftete Personen in der Regel dem militärischen Teil des Nationaldiensts zugeführt werden (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 31 f.), in dem die Bedingungen deutlich härter sind als im zivilen Teil des Nationaldiensts (EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 40). Allerdings ist zu berücksichtigen, dass nicht nur Wehrdienstverweigerer und Deserteure bzw. illegal ausgereiste Personen Aufgaben im militärischen Teil des Nationaldiensts erhalten, sondern insgesamt etwas weniger als die Hälfte aller Dienstverpflichteten im militärischen Teil des Nationaldiensts dient, darunter insbesondere auch Schulabsolventen mit mittelmäßigen oder schlechten Schulabschlüssen und Schulabbrecher (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 12; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 25 f., S. 28 ff.). Ob ein Staatsbürger dem militärischen oder zivilen Teil des Nationaldienst zugeführt wird, richtet sich daher erkennbar nicht nach flüchtlingsrelevanten Merkmalen wie zum Beispiel einer (zugeschriebenen) politische Gesinnung. Nach der vorliegenden Erkenntnismittellage treffen als unmenschlich und erniedrigend bzw. als Folter einzuordnende Behandlungen und Bestrafungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch ausnahmslos alle Dienstverpflichten im militärischen Teil des Nationaldiensts, weil diese systematisch und routinemäßig als Prinzip zur Schaffung eines allgemeinen Klimas der Angst zur Aufrechterhaltung von Disziplin, Kontrolle und „Mut und Heldentum“ verstanden und angewandt werden (vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online). Angesichts dessen kann nicht festgestellt werden, dass unmenschliche Behandlungen im militärischen Teil des Nationaldiensts zielgerichtet eingesetzt werden, um Deserteure und Wehrdienstverweigerer bzw. illegal ausgereiste Personen wegen ihrer – auch nur zugeschriebenen – politischen Überzeugung oder als Teil einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG zu treffen.
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Dies zugrunde gelegt ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung bei einer Rückkehr des Klägers zu 1 durch die Einberufung in den Nationaldienst zu verneinen.
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Des Weiteren besteht auch kein Anspruch des Klägers zu 1 auf Flüchtlingsanerkennung auf Grund einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung oder illegaler Ausreise.
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Der Kläger zu 1 reiste als 13-Jähriger aus Eritrea aus. Im Hinblick auf den Abstand zum Einberufungsalter von 18 Jahren erscheint es wohl bereits nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger zu 1 bei seiner Rückkehr wegen Wehrdienstentziehung bestraft würde. Zudem führt auch die Gefahr einer Bestrafung nicht zu einem Anspruch des Klägers zu 1 auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, da auch die Bestrafung jedenfalls nicht an einen in §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 genannten Verfolgungsgrund, insbesondere nicht an eine – auch nur unterstellte – politische Überzeugung, anknüpft (vgl. auch BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris; OVG Saarland, U.v. 21.3.2019 – 2 A 7/18 – juris; VG Regensburg, U.v. 26.10.2023 – RN 2 K 23.30938 – beck-online).
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Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellen an eine Wehrdienstentziehung geknüpfte Sanktionen, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine Verfolgung dar, wenn diese nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen flüchtlingsrechtlich erheblichen Merkmals treffen sollen. Eine Verfolgung wird verneint, wenn Sanktionen an eine alle Staatsbürger gleichermaßen treffende Pflicht anknüpfen (vgl. BVerwG, B.v. 24.4.2017 – 1 B 22/17, m.w.N – juris; vgl. auch BayVGH, U.v. 24.3.2000 – 9 B 96.35177 – juris; VGH Hessen, U.v. 30.7.2019 – 10 A 797/18.A – juris). Sanktionen wegen Wehrdienstentziehung dienen regelmäßig nicht der politischen oder religiösen Verfolgung, sondern werden ungeachtet solcher Merkmale im Regelfall allgemein und unterschiedslos gegenüber allen Deserteuren/Verweigerern aus Gründen der Aufrechterhaltung der Disziplin verhängt (vgl. auch VG Osnabrück, U.v. 18.5.2015 – 5 A 465/14 – juris). In eine flüchtlingsrelevante Verfolgung schlägt eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung erst dann um, wenn sie zielgerichtet gegenüber Personen eingesetzt wird, die durch diese Maßnahme gerade wegen eines in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Merkmals getroffen werden soll (vgl. auch VG Osnabrück, U.v. 18.5.2015 – 5 A 465/14 – juris), bzw. wenn die zuständigen Behörden aus der Verwirklichung der Tat auf eine Regimegegnerschaft der betroffenen Person schließen und die strafrechtliche Sanktion nicht nur der Ahndung kriminellen Unrechts, sondern auch der Bekämpfung von politischen Gegnern dient (vgl. BVerwG, U.v. 25.6.1991 – 9 C 131.90 – juris).
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Es kann jedoch nach Ansicht des zuständigen Einzelrichters derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass die illegale Ausreise, um sich dem Nationalen Dienst zu entziehen oder die Desertion, vom eritreischen Staat allgemein als Regimegegnerschaft gesehen wird und der Bestrafung damit ein politischer Sanktionscharakter zukommt. Explizite Erkenntnisse, dass die eritreische Regierung Personen, die sich dem Nationalen Dienst entziehen und illegal ausreisen oder desertieren, generell als Regimegegner einstuft und politisch verfolgt, ergeben sich für das Gericht auf Grund der dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen nicht (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 19 f.; EJPD, SEM, Sektion Analysen: Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22.6.2016).
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Nach Art. 37 Abs. 1 der Proklamation Nr. 82/1995 werden alle Verstöße gegen die Bestimmungen dieser Proklamation mit Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren und/oder Geldstrafe in Höhe von 3.000 Birr (etwa 180 Euro) geahndet, sofern sich aus dem eritreischen Strafgesetzbuch von 1991 keine härteren Strafen ergeben. Wer sich seiner Dienstpflicht in deren Kenntnis durch Flucht ins Ausland entzieht und nicht bis zum Alter von 40 Jahren zur Ableistung des Dienstes zurückkehrt, unterliegt nach Art. 37 Abs. 3 der Proklamation Nr. 82/1995 bis zum Alter von 50 Jahren einer Haftstrafe von bis zu fünf Jahren. Nach Art. 300 des Strafgesetzbuches von 1991 kann Dienstverweigerung und Desertion in Friedenszeiten mit bis zu fünf Jahren, in Kriegszeiten mit Haft von fünf Jahren bis lebenslänglich und in besonderen Fällen mit der Todesstrafe bestraft werden. Im Jahr 2015 wurde ein neues Strafgesetzbuch bekanntgegeben, das in Art. 119 für Desertion in Friedenszeiten Haftstrafen zwischen einem und drei Jahren, in Kriegszeiten zwischen sieben und zehn Jahren vorsieht. Die Todesstrafe in Fällen der Desertion ist hiernach abgeschafft, jedoch soll das neue Strafgesetz noch keine Anwendung finden (vgl. AA Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 17; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 43). Nach Art. 29 Abs. 2 der Proklamation Nr. 24/1992 ist die – auch nur versuchte – illegale Ausreise ebenfalls mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder mit einer Geldstrafe in Höhe von bis 10.000 Birr (etwa 600 Euro) bedroht (vgl. hierzu EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 56 f.). Allerdings ist nach den vorliegenden Erkenntnisquellen davon auszugehen, dass in der Praxis Strafen nicht den gesetzlichen Regelungen entsprechend, sondern außergerichtlich und willkürlich verhängt werden (EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 10, 40 f., 43 f., 57 f.).
43
Die Erkenntnislage zeigt derzeit eine große Bandbreite möglicher Folgen bei der Rückkehr von Personen, die illegal ausgereist sind, um sich dem Nationalen Dienst zu entziehen, nämlich von einer Belehrung und Ableistung des Nationalen Dienstes bis zu Haft (von Monaten bis zu Jahren). Diese Bandbreite spricht nach Ansicht des zuständigen Einzelrichters dafür, dass diese Personen nicht automatisch als Regimegegner eingestuft werden und damit nicht generell einer politischen Verfolgung unterliegen (vgl. auch BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris). Gegen eine generelle Einstufung als politischer Gegner spricht ferner bereits die hohe Zahl der aus Eritrea Flüchtenden. Es kann nicht unterstellt werden, dass der Staat hinter jedem dieser zahlreichen Flüchtenden eine missliebige politische Überzeugung sieht (vgl. ausführlich, VG Düsseldorf, U.v. 23.3.2017 – 6 K 7338/16.A. – juris). Dem eritreischen Staat ist vielmehr bekannt, dass die übergroße Anzahl der Flüchtenden wegen der prekären und unfreien Lebensbedingungen im Nationaldienst und nicht aufgrund einer regimefeindlichen Gesinnung flieht (vgl. auch VG Potsdam, U.v. 10.10.2017 – VG 3 K 2609/16.A, m.w.N. – juris). Vor allem aber spricht gegen eine generelle politische Verfolgung aller Personen, die sich dem Nationalen Dienst entziehen, der derzeitige Umgang der eritreischen Regierung mit freiwilligen – zumindest vorübergehenden – Rückkehrern. Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage des Gerichts werden die gesetzlichen Bestimmungen für Desertion, Dienstverweigerung und illegale Ausreise derzeit für diese Personen nicht angewandt. Sofern sie sich mindestens drei Jahre im Ausland aufgehalten haben, besteht für die Rückkehrer die Möglichkeit, einen sog. „Diaspora Status“ zu erhalten. Dieser setzt voraus, dass eine Diasporasteuer (2% Steuer) bezahlt wurde und, sofern die nationale Dienstpflicht noch nicht erfüllt wurde, ein sog. „Reueformular“ unterzeichnet wurde. Dieses umfasst auch ein Schuldeingeständnis mit der Erklärung, die dafür vorgesehene Bestrafung anzunehmen. Zumindest in der Mehrheit kommt es nach den Erkenntnisquellen des Gerichts zu keiner tatsächlichen Bestrafung (EJPD, SEM, Sektion Analysen: Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22.6.2016). Mit diesem „Diaspora Status“ ist es jedenfalls vorübergehend möglich in Eritrea zu bleiben, ohne den Nationalen Dienst ableisten zu müssen. Auch eine Ausreise ist mit diesem Status möglich, so dass es temporäre Reisen zu Urlaubs- und Besuchszwecken gibt (EJPD, SEM, Sektion Analysen: Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22.6.2016; S. 33). Diese Optionen, die gerade auch für Personen gelten, die sich dem Nationalen Dienst durch die illegale Ausreise entzogen haben, sprechen gegen eine generelle Einstufung als politischer Gegner (vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 29.9.2022 – 4 B 14/21 – beck-online; BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris; OVG Saarland, U.v. 21.3.2019 – 2 A 7/18 – juris). Für diese Würdigung ist unerheblich, ob diese Rückkehrmöglichkeit dem einzelnen eritreischen Staatsangehörigen im konkreten Fall einen hinreichend dauerhaften Schutz vor Bestrafung bietet und ihm zumutbar ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg U. v. 29.9.2022 – 4 B 14/21 – beck-online m.w.N.).
44
Eine andere Einschätzung ergibt sich auch nicht daraus, dass die erfolgten Verhaftungen oft willkürlich und ohne Angaben von Gründen erfolgen. Anhaltspunkte für eine politisch motivierte Bestrafung der Wehrdienstentziehung bestehen damit nicht (vgl. AA an VG Schwerin vom 10.10.2017). Selbstverständlich ist es vorstellbar, dass gerade aus der Willkür der Bestrafungen eine politisch motivierte Systematik bzw. Konnotation gefolgert werden könnte. Jedoch fehlt es auch insoweit an tatsächlichen Anhaltspunkten. Auch die Tatsache, dass es während der gesetzlich vorgesehenen Inhaftierungen zu Folter und Misshandlungen kommen kann, rechtfertigt keine abweichende Wertung (vgl. BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris m.w.N; VGH Hessen, U.v. 30.7.2019 – 10 A 797/18.A – juris). Auch wenn der Einsatz von Folter ein Indiz für den politischen Charakter einer Maßnahme darstellen kann, bleibt er ein Indiz und ermöglicht für sich noch keinen zwingenden Rückschluss auf eine tatsächlich dahingehende subjektive Verfolgungsmotivation, wenn wie hier in der zu treffenden Abwägung der Erkenntnismittel diejenigen überwiegen, die dagegensprechen. Es bedarf daher insoweit regelmäßig der Heranziehung weiterer objektiver Kriterien zur Beurteilung der tatsächlichen Verfolgungsmotivation. Derartige objektive Kriterien können vor allem die tatsächlichen und rechtsstaatlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Betroffenen, insbesondere die Eigenart des Staates, sein möglicherweise totalitärer Charakter, die Radikalität seiner Ziele und die zu seiner Verwirklichung eingesetzten Mittel, das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung des Einzelnen und die Behandlung von Minderheiten sein. Maßgeblich ist, ob der Staat seine Bürger in den genannten persönlichen Merkmalen zu disziplinieren, sie ihretwegen niederzuhalten oder im schlimmsten Fall zu vernichten sucht oder ob er lediglich seine Herrschaftsstruktur aufrechterhalten will und dabei die Überzeugung seiner Staatsbürger unbeachtet lässt. Auch die Lasten und Beschränkungen, die ein autoritäres System seiner Bevölkerung auferlegt, vermögen für sich allein eine politische motivierte Verfolgung nicht zu begründen. Ausgehend hiervon bestehen – ungeachtet der Umstände, dass der Nationaldienst in Eritrea auch als politisches Projekt u. a. zur Vermittlung einer nationalen Identität verstanden wird und Verstöße in diesem Zusammenhang gegebenenfalls auch mit harten Sanktionen belegt werden – keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür, dass die im Fall der Nationaldienstentziehung bzw. Desertion in Eritrea gegebenenfalls drohende Haftstrafe in Verbindung mit den prekären Haftbedingungen eine Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale aufweist (vgl. BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris).
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Für diese Einschätzung spricht, dass die faktisch unbegrenzte Verpflichtung zur Ableistung des staatlichen National- bzw. Militärdienstes – der im Nachgang zu der Grundausbildung oftmals auch einen Einsatz in der staatlichen Verwaltung umfasst – zuvörderst der Aufrechterhaltung und Sicherung der staatlichen Funktionsfähigkeit dient. Angehörige des Nationaldienstes leisten ihren Dienst nicht allein im eritreischen Militär, sondern auch beim Aufbau von Infrastruktur, etwa beim Straßen- und Dammbau, beim Bau von Wohnungen und öffentlichen Gebäuden sowie in der Landwirtschaft. Angehörige des zivilen Dienstes des Nationaldienstes arbeiten zudem in allen Bereichen der staatlichen Verwaltung und der Wirtschaft (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 13 f.; SFH, Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse vom 30.6.2017, S. 6 f.). Die gesamte Volkswirtschaft Eritreas und der eritreische Staatsapparat stützen sich auf die Nationaldienstverpflichtung, die in ihrer derzeitigen Ausgestaltung am ehesten als eine Form staatlichen Zwangsdienstes zur Aufrechterhaltung der staatlichen Strukturen zu charakterisieren ist. Von daher dient der Nationaldienst in Eritrea neben militärischen Verteidigungszwecken vor allem der Förderung der volkswirtschaftlichen Entwicklung und Förderung des Landes, der Steigerung der Gewinne staatsnaher bzw. staatlich unterstützter Unternehmen und der Aufrechterhaltung der Kontrolle über die eritreische Bevölkerung. Dies wiederum rechtfertigt die Annahme, dass die durchaus empfindliche Bestrafung der Wehr- bzw. Nationaldienstentziehung oder der Desertion allein dazu dient, die bestehende Herrschaftsstruktur zu sichern und insbesondere das auf der Langzeitverpflichtung der eritreischen Staatsbürger beruhende staatliche System am Leben zu erhalten. Insofern dient die Sanktionierung der Wehr- bzw. Nationaldienstentziehung durch den eritreischen Staat auch nicht der Sanktionierung einer tatsächlichen oder unterstellten missliebigen politischen Überzeugung seiner Bürger, sondern der Durchsetzung der Dienstverpflichtungen im Interesse der Systemsicherung (vgl. BayVGH U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris; OVG Saarland, U.v. 21.3.2019 – 2 A 10/18 – juris; VGH Hessen, U.v. 30.7.2019 – 10 A 797/18.A – juris). Auch die bereits oben genannte vornehmlich auf die Generierung von Staatseinnahmen abzielende Möglichkeit der Diaspora-Steuer spricht für dieses Verständnis (vgl. hierzu auch BayVGH U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris).
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Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt sich auch nicht aus § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG im Zusammenhang mit dem Einsatz eritreischer Truppen im Tigray-Konflikt in Äthiopien.
47
Nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG kann als Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG unter anderem die Strafverfolgung oder die Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt gelten, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfasst, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG zählen hierzu insbesondere Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen. Auch im Rahmen von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG bedarf es einer Verknüpfung zwischen dem geltend gemachten Verfolgungsgrund – hier: Verfolgung aufgrund der politischen Überzeugung – und der Verfolgungshandlung in Form der Strafverfolgung oder Bestrafung (vgl. EuGH, U. v. 19.11.2020 – C-238/19 – juris; OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online). Diese Verknüpfung ergibt sich nicht allein daraus, weil Strafverfolgung oder Bestrafung an diese Verweigerung anknüpfen. Allerdings spricht nach dem oben genannten Urteil des Europäischen Gerichtshofs eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG genannten Voraussetzungen mit einem Verfolgungsgrund in Zusammenhang steht. Es ist insoweit Sache der zuständigen nationalen Behörden und nicht des Schutzsuchenden, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen.
48
Der Kläger zu 1 kann sich vorliegend nicht auf die aus § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG folgende „starke Vermutung“ der Verknüpfung der Strafverfolgung wegen Wehrdienstentziehung mit einer (zugeschriebenen) politischen Überzeugung berufen. Der Kläger zu 1 reiste 2019 aus Eritrea aus. Zu diesem Zeitpunkt bestand der Tigray-Konflikt noch nicht und der Kläger zu 1 war noch nicht im dienstpflichtigen Alter. Aber selbst dann, wenn auf eine Dienstverweigerung des Klägers zu 1 bei einer Rückkehr nach Eritrea in heutiger Zeit abgestellt würde, scheidet eine Berufung auf die aus § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG folgende „starke Vermutung“ einer Verknüpfung der Strafverfolgung wegen Wehrdienstentziehung mit einem flüchtlingsrelevanten Merkmal aus. Zum einen ist bereits fraglich, ob derzeit noch ein Konflikt mit eritreischer Beteiligung besteht, da im November 2022 eine Waffenruhe vereinbart wurde. Jedenfalls geht der zur Entscheidung berufene Einzelrichter nicht davon aus, dass der Kläger zu 1 derzeit bei einer hypothetischen Heranziehung zum Nationaldienst „zwangsläufig oder zumindest sehr wahrscheinlich“ (vgl. zu diesem Maßstab EuGH, U.v. 19.11.2020 – C-238/19 – juris) überhaupt zu Kampfhandlungen nach Äthiopien geschickt würde. Auch müsste eine hohe Wahrscheinlichkeit bestehen, dass der Kläger zu 1 unmittelbar oder mittelbar an Kriegsverbrechen beteiligt würde, wofür es derzeit ebenfalls an ausreichenden Anhaltspunkten fehlt. Diese Prüfung obliegt den staatlichen Behörden und Gerichten im Einzelfall. Die Tatsachenwürdigung muss sich auf ein Bündel von Indizien stützen, das geeignet ist, in Anbetracht aller relevanten Umstände – insbesondere der mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, sowie der individuellen Lage und der persönlichen Umstände des Klägers – zu belegen, dass die Gesamtsituation die Begehung der behaupteten Kriegsverbrechen plausibel erscheinen lässt (vgl. EuGH, U.v. 19.11.2020 – C-238/19 – juris). Dies ist hier nicht der Fall. Die Situation in der Tigray-Region ist bereits von vornherein nicht mit dem Sachverhalt vergleichbar, der dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 – C-238/19 – zugrunde lag. Denn die dort angenommene sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem Einsatzgebiet dazu veranlasst werde, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von § 3 Abs. 2 AsylG teilzunehmen, betrifft den Kontext eines – hier nicht vorliegenden – allgemeinen (dort des syrischen) Bürgerkriegs im Herkunftsland des Betroffenen, der durch die wiederholte und systematische Begehung solcher Verbrechen oder Handlungen durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist (vgl. EuGH, U.v. 19.11.2020 – C-238/19). Der Tigray-Konflikt besteht indes nicht auf eritreischem, sondern auf äthiopischem Boden. Wie bereits angemerkt ist auch eine konkrete Verwendung des Klägers zu 1 im Tigray-Konflikt nicht hinreichend wahrscheinlich. Auch wenn noch eritreische Truppen in Äthiopien sein sollten, ist jedenfalls nicht erkennbar, dass ein überwiegender Teil des eritreischen Militärpersonals in der Tigray-Region zum Einsatz kommt.
49
Nach der zugrundeliegenden Auskunftslage kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass bereits die illegale Ausreise vom eritreischen Staat als Hochverrat angesehen wird und sich hieraus ein Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung ergibt. Die oben genannten Erkenntnisse betreffen gerade Personen, die illegal ausreisten, um sich dem Nationalen Dienst zu entziehen, also beide Tatbestände verwirklichen. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass illegal ausgereisten eritreischen Staatsbürgern allein wegen der Ausreise und einer gegebenenfalls erfolgten Asylantragstellung im Ausland von staatlichen Institutionen Eritreas eine regimekritische Haltung unterstellt wird und dass sie deshalb im Fall der Rückkehr nach Eritrea von relevanten Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG betroffen sein könnten (vgl. BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris m.w.N.).
50
Auch die bloße Asylantragsstellung in Deutschland begründet ebenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgungsgefahr für den Kläger zu 1 in Eritrea (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 19). Gleiches gilt im Hinblick auf eine damit einhergehende Weigerung der Zahlung der sog. Diasporasteuer. Zwar ist grundsätzlich jeder im Ausland lebende Eritreer verpflichtet, zwei Prozent seines Einkommens an den eritreischen Staat abzuführen. In Deutschland lebende eritreische Staatsangehörige müssen diese Steuer jedenfalls entrichten, wenn sie Dienstleistungen des eritreischen Staates in Anspruch nehmen wollen (vgl. auch AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 20 f.). Anhaltspunkte dafür, dass eine Verweigerung zu anderen Konsequenzen als die Nichterlangung dieser Leistungen führt, sind nicht ersichtlich.
51
Es bleibt daher festzuhalten, dass der Kläger zu 1 keinen Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung gem. § 3 AsylG hat.
52
Auch die Anerkennung als Asylberechtigter im Sinne des Art. 16a GG scheidet aus diesen Gründen aus, da der Schutz inhaltlich im Wesentlichen identisch ist.
53
b) Der Kläger zu 1 hat jedoch einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus.
54
(1) Zwar leitet sich ein solcher Anspruch nicht bereits aus dem dem Vater zuerkannten Schutzstatus gem. § 26 Abs. 2, 5 Satz 1, 2 AsylG ab (s.o.).
55
(2) Allerdings steht dem Kläger zu 1 ein Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus aus § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG.
56
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG gilt als ernsthafter Schaden die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
57
Gemäß § 4 Abs. 3 AsylG gelten die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens treten; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.
58
Insoweit gilt der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Bei der gebotenen Prognose, ob die Furcht des Ausländers vor einem ernsthaften Schaden im Rechtssinne begründet ist, ihm also mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, ist es Aufgabe des Gerichts, die zu berücksichtigenden Prognosetatsachen zu ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau zu bewerten und sich auf dieser Grundlage gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eine Überzeugung zu bilden. Die Überzeugungsgewissheit gilt nicht nur in Bezug auf das Vorbringen des Schutzsuchenden zu den seiner persönlichen Sphäre zuzurechnenden Vorgängen, sondern auch hinsichtlich der in die Gefahrenprognose einzustellenden allgemeinen Erkenntnisse. Diese ergeben sich vor allem aus den zum Herkunftsland vorliegenden Erkenntnisquellen. Auch für diese Anknüpfungstatsachen gilt das Regelbeweismaß des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das Regelbeweismaß der vollen richterlichen Überzeugung gilt auch bei unsicherer Tatsachengrundlage. In diesen Fällen bedarf es in besonderem Maße einer umfassenden Auswertung aller Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage im Herkunftsland; hierauf aufbauend muss das Gericht bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet aus einer Vielzahl von Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung vornehmen (OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online m.w.N.). Die beachtliche Wahrscheinlichkeit ist tatbestandliche Voraussetzung für eine Entscheidung zugunsten des Ausländers.
59
Für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist (wie bei § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK) aufgrund weitgehend identischer sachlicher Regelungsbereiche auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen (OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online m.w.N.). Nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR kann eine Abschiebung durch einen Konventionsstaat Fragen nach Art. 3 EMRK aufwerfen, wenn es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden (EGMR, U.v. 17.1.2012 – Nr. 8139/09 – NVwZ 2013, 487, 488; OVG Bautzen U.v. 19.7.2023 – 6 A 923/20.A – beck-online).
60
Folter ist die absichtliche unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, die sehr ernstes und grausames Leiden hervorruft (EGMR, U.v. 13.12.2012 – Nr. 39630/09 – NVwZ 2013, 631). Für die Entscheidung, ob eine bestimmte Form der Misshandlung als Folter einzustufen ist, muss die Unterscheidung berücksichtigt werden, die Art. 3 EMRK zwischen Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung macht, um Fälle vorsätzlicher Misshandlung, die sehr starke und grausame Leiden verursacht, als besonders schändlich, nämlich als Folter, zu brandmarken (EGMR, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06 – NVwZ 2008, 1330).
61
Eine unmenschliche Behandlung liegt vor, wenn sie vorsätzlich und ohne Unterbrechung über Stunden zugefügt wurde und entweder körperliche Verletzungen oder intensives physisches oder psychisches Leid verursacht hat. Erniedrigend ist eine Behandlung, wenn sie eine Person – nicht zwingend vorsätzlich – demütigt oder erniedrigt, es an Achtung für ihre Menschenwürde fehlen lässt oder sie herabsetzt oder in ihr Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit erweckt und geeignet ist, den moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen (EGMR, U.v. 21.1. 2011 -Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413). Eine unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung setzt voraus, dass die zugefügten Leiden oder Erniedrigungen jedenfalls über das Maß hinausgehen, welches unvermeidbar mit einer bestimmten Form berechtigter Behandlung oder Strafe verbunden ist (EGMR, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06 – NVwZ 2008, 133). Das Mindestmaß ist relativ und hängt von den gesamten Umständen des Falles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Wirkungen (EGMR, U.v. 28.2.2008 a. a. O.).
62
a) Zwar geht der zuständige Einzelrichter nicht davon aus, dass sich der Kläger zu 1 nach diesen Maßstäben auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU berufen kann, da eine Vorverfolgung seiner Person nicht vorgetragen wurde oder ersichtlich ist. Es bestehen aber stichhaltige Gründe für die Annahme, dass dem Kläger zu 1 bei einer Rückkehr nach Eritrea im Zusammenhang mit einer Heranziehung zum militärischen Bereich des eritreischen Nationaldiensts ein ernsthafter Schaden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
63
Der nun 18-jährige Kläger zu 1 ist im dienstpflichtigen Alter. Der zuständige Einzelrichter geht nach realitätsnaher Betrachtung davon aus, dass der Kläger zu 1 nicht freiwillig nach Eritrea ausreist, sondern im Rahmen einer zwangsweisen Rückführung überstellt werden müsste. Die Annahme scheitert auch nicht daran, dass Eritrea grundsätzlich keine unfreiwilligen Rückkehrer akzeptiert, da es solche in der Vergangenheit dennoch gab (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 21). Sie werden auf individuelle Verhandlungen hin akzeptiert (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 67). Der zur Entscheidung berufene Einzelrichter sieht es zudem nach den vorliegenden Erkenntnismitteln als beachtlich wahrscheinlich an, dass der Kläger zu 1 in den militärischen Teil des Nationaldienstes einberufen wird. Auch wenn in der Regel die Rekrutierung über das Schulsystem erfolgt (s.o.) kann nach lebensnaher Betrachtung vorliegend nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger deshalb nicht einberufen wird, weil er nicht mehr schulpflichtig ist. Es ist vielmehr naheliegend, dass der Kläger zu 1 bei seiner Rückkehr auch nach seinem Nationaldienststatus befragt wird und er mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit jedenfalls zeitnah seinen Nationaldienst im militärischen Bereich ableisten muss. So berichtet EASO unter Hinweis auf überwiegend aus dem Sudan über die Landesgrenze stattgefundenen Rückführungen, dass die meisten Betroffenen unmittelbar nach ihrer Ankunft in Eritrea inhaftiert, insbesondere einem unterirdischen Gefängnis bei Tesseney zugeführt und dort auf den Nationaldienststatus überprüft würden. Die weitere Behandlung hänge von dem Profil des Betroffenen ab: Personen, die noch nie in den Nationaldienst aufgeboten wurden, müssten eine militärische Ausbildung absolvieren und sodann ihren Dienst bei einer Militäreinheit aufnehmen (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 69). Auch nach Auffassung von SEM deuten alle vorliegenden Informationen darauf hin, dass im Falle zwangsweiser Rückführung ähnlich wie bei einer „giffa“ der Nationaldienststatus überprüft und anschließend wie bei Aufgriffen im Inland verfahren werde (SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016), d.h. die Personen üblicherweise erst einige Tage oder Wochen in einem Gefängnis verblieben und dann zur militärischen Ausbildung in Ausbildungslager geschickt würden (vgl. auch OVG Lüneburg U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online).
64
b) Das Aufgebot in den Nationaldienst kann der Kläger zu 1 nicht durch Erlangung des sog. Diaspora-Status abwenden, da zum einen nicht ausreichend gesichert ist, dass er diesen überhaupt erlangen kann und zum anderen ihm der Diaspora-Status keinen ausreichenden Schutz vor der Einberufung in den militärischen Bereich des Nationaldienstes bieten würde, unabhängig davon, ob ihm ein Nachsuchen überhaupt zumutbar ist oder er diesen Diasporastatus bereits haben sollte.
65
(1) Die Erlangung des Diaspora-Status kommt im Falle der zwangsweisen Rückführung nach Eritrea wohl von vornherein nicht in Betracht.
66
Der Diaspora-Satus wird von der eritreischen Regierung den im Ausland lebenden Eritreern angeboten und gewährt freiwilligen Rückkehrern das Privileg, ohne Visaverfahren nach Eritrea ein- und auszureisen. Er entbindet insbesondere auch von der Verpflichtung, den Nationaldienst zu leisten (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 8; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 ff.; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33). Die Möglichkeit der Erlangung des Diaspora-Statusrichtet sich jedoch nur an freiwillige Rückkehrer (vgl. auch AI, Stellungnahme zum Umgang mit Rückkehrern und Kriegsdienstverweigerern in Eritrea, 28.7.2017, S. 1 f.). Anders als freiwillige Rückkehrer haben zwangsrückgeführte Personen nicht die Möglichkeit, ihren Status gegenüber den Behörden entsprechend zu regeln und sich damit eine mildere Behandlung zu sichern (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 68; SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 44).
67
(2) Der Kläger zu 1 kann auch nicht darauf verwiesen werden, die Gefahr der Einberufung in den Nationaldienst durch freiwillige Ausreise und Rückkehr unter dem Diaspora-Status nach Eritrea abwenden zu können.
68
Nach übereinstimmender Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht, die in gleicher Weise für das Asylanerkennungsverfahren wie für das Abschiebungsschutzverfahren gilt, bedarf des Schutzes vor politischer Verfolgung im Ausland nicht, wer den gebotenen Schutz vor ihr auch im eigenen Land finden (sog. inländische Fluchtalternative, vgl. BVerfG, B.v. 2.7.1980 – 1 BvR 147/80 u.a. – juris; BVerwG, U.v. 6.10.1987 – 9 C 13.87 – juris) oder – in entsprechender Anwendung dieses Grundgedankens – durch eigenes zumutbares Verhalten die Gefahr politischer Verfolgung abwenden kann, wozu insbesondere die freiwillige Ausreise und Rückkehr in den Heimatstaat gehören (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris u. U.v. 3.11.1992 – 9 C 21.92 – juris). Eine solche freiwillige Rückkehrmöglichkeit ist bei der Gefahrenprognose im Asyl- und Flüchtlingsrecht folglich mit in den Blick zu nehmen, insbesondere, wenn sich durch eine freiwillige Rückkehr Verfolgungsgefahren vermeiden lassen, die im Falle der zwangsweisen Rückkehr als Abgeschobener infolge der damit verbundenen Vorabinformation und Kontakte zwischen Abschiebestaat und Zielstaat entstehen können.
69
Allerdings ist nach der Überzeugung des zuständigen Einzelrichters zum einen bereits nicht gesichert, dass der Kläger zu 1 den Diaspora-Status überhaupt erlangen kann.
70
Um den Diaspora-Status zu erlangen, muss der Auslandseritreer sein Identitätsdokument, den Zahlungsnachweis für die sog. Diaspora-Steuer, d.h. einen Betrag i.H.v. 2% des Einkommens (Gehalt oder Sozialleistungen), das „Reueformular“ und ein Schreiben der zuständigen eritreischen Auslandsvertretung vorlegen, in dem diese ihm einen mehr als dreijährigen Auslandsaufenthalt bestätigt (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 29). Das „Reueformular“ enthält die Erklärung, dass der Unterzeichnende bedauere, durch die Nichterfüllung des Nationaldienstes ein Vergehen begangen zu haben und dass er bereit sei, zu gegebener Zeit eine angemessene Bestrafung zu akzeptieren. Faktisch gilt außerdem die weitere Bedingung, dass bei dem Antragsteller keine regierungskritischen Aktivitäten festgestellt werden (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 64).
71
Zum einen ist anzumerken, dass man den Diaspora-Status nach manchen Quellen überhaupt nur erlangen kann, wenn ein gesicherter Aufenthalt im Ausland vorliegt (vgl. Pro Asyl, Neues Eritrea-Gutachten bestätigt: Verweigerung von Schutz verkennt Realität, 12.10.2022). Im Hinblick auf den auf Auslandseritreer zugeschnittenen Zweck des Diaspora-Status erscheint es durchaus nachvollziehbar, dass für die Erlangung eine gültige Aufenthaltserlaubnis im Ausland oder ein ausländischer Pass erforderlich sei, um die Möglichkeit, ins Ausland zurückzukehren, nachzuweisen (so auch OVG Bautzen, U.v. 19.7.2023 – 6 A 923/20.A – beck-online). Jedenfalls aber ist der Diaspora-Status in erster Linie für Auslandseritreer gedacht, die besuchsweise in ihre Heimat reisen und sich dort kurzzeitig aufhalten möchten. Dies ergibt sich bereits aus der Aussage, dass von Diaspora-Eritreern erwartet wird, dass diese mindestens einmal jährlich ausreisen. Andernfalls könne ihnen der Status entzogen werden, so dass sie wieder als normale Einwohner gelten würden (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 19). Auch das Schweizerische Staatssekretariat für Migration führt aus, dass die Erkenntnisse zum Diaspora-Status sich überwiegend auf temporäre Rückkehrer beziehen; über das Ergehen definitiver Rückkehrer gebe es nur wenige Erkenntnisse (EJPD, SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016, S. 32; zu diesen Vorbehalten auch ausführlich SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, 15.8.2016). Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt außerdem aus, dass nach 2002 ausgereiste Personen den Diaspora-Status kaum erhielten, insbesondere gebe es keine Rechtssicherheit (SFH, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 30.9.2018, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, S. 10). Auch das EASO kann für die Gruppe der „dauerhaft Einreisenden“ nur wenige, mit Vorsicht zu behandelnde Quellen nennen (EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, September 2019, S. 65). Vor dem Hintergrund, dass der eritreische Staat den Diaspora-Status vor allem deshalb „anbietet“, um sich eine überlebenswichtige Finanzierungsquelle zu erhalten, kann angenommen werden, dass dieser Status für permanente Rückkehrer nicht oder nur unter eingeschränkten Bedingungen eröffnet wird, da diese Personen zukünftig nicht mehr als ausländische Finanzierungsquelle zur Verfügung stehen. Zu beachten ist schließlich, dass aufgrund der dargestellten Willkür des eritreischen Regimes schon keine Sicherheit besteht, selbst bei Erfüllen der genannten Voraussetzungen den Diaspora-Status zu erhalten. Auch die Behörden ändern ihre Praxis immer wieder willkürlich (vgl. VG Bremen, B.v. 13.12.2021 – 7 K 2745/20 – beck-online m.w.N; a.A OVG Hamburg, U.v. 27.10.2021 – 4 Bf 106/20 – beck-online).
72
Vor diesem Hintergrund kann der Kläger zu 1 den Diaspora-Status bereits nicht mit ausreichender Sicherheit erlangen. Der Kläger zu 1 hat keinen Flüchtlings- oder subsidiären Schutzstatus in Deutschland. Es kann derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger zu 1 den Nachweis einer Rückkehrmöglichkeit ins Ausland erbringen könnte und seine Rückkehr ist nicht nur vorübergehend.
73
(3) Aber selbst wenn man annimmt, dass der Kläger zu 1 bei einer freiwilligen Rückkehr den Diaspora-Status jedenfalls zunächst erlangen könnte, wofür spricht, dass auf diesem Weg auch Knowhow nach Eritrea geholt werden kann, ist fraglich, ob ihm ein Nachsuchen des Diaspora-Status zumutbar ist.
74
Problematisch ist die Unterzeichnung der „Reueerklärung“, in der bedauert wird, seine Dienstpflicht nicht erfüllt zu haben und erklärt, eine dafür verhängte Strafe zu akzeptieren. Nach den vorliegenden Erkenntnisquellen ist davon auszugehen, dass die „Reueerklärung“ von allen Eritreern unterzeichnet werden muss, die das Land illegal verlassen haben und den Nationaldienst nicht geleistet oder abgeschlossen haben. EASO stellt im Hinblick auf den Vorwurf der Dienstpflichtverletzung unmissverständlich klar, dass von dem Erfordernis der Unterzeichnung des „Reueformulars“ nur Personen befreit seien, die vom Nationaldienst ausgenommen sind oder die den Dienst bereits abgeschlossen haben (EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 60 f.).
75
Nach Art. 10 Abs. 1 der Proklamation Nr. 24/1992 issued to regulate the issuing of travel documents, entry and exit visa from Eritrea, and to control residence permits of foreigners in Eritrea (im Folgenden: Proklamation Nr. 24/1992, abrufbar in englischer Sprache unter https://www.refworld.org/sites/default/files/attachments/54c0d9d44.pdf) kann keine Person Eritrea über andere Stellen verlassen als über die vom Sekretär für innere Angelegenheiten genehmigten. Nach Art. 11 der Proklamation Nr. 24/1992 kann niemand Eritrea verlassen, wenn er nicht im Besitz eines gültigen Reisedokuments, eines gültigen Ausreisevisums und eines gültigen internationalen Gesundheitszeugnisses ist. Die vorgenannten Voraussetzungen für eine legale Ausreise muss jede Person, unabhängig von dem Alter, erfüllen.
76
Zwar war der Kläger zu 1 im Zeitpunkt seiner Ausreise noch nicht im dienstpflichtigen Alter. Allerdings ist er mit nunmehr 18 Jahren dienstpflichtig, sodass nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Unterzeichnung des „Reueformulars“ verlangt wird.
77
Geht man davon aus, dass eine „Reueerklärung“ gefordert wird, wäre ein Verweis auf die freiwillige Ausreise unter Diasporastatus bereits unter diesem Aspekt wohl unzumutbar.
78
Das Bundesverwaltungsgericht hat im Kontext der Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer nach § 5 Abs. 1 AufenthV entschieden, dass die Abgabe der „Reueerklärung“ unter Berücksichtigung der widerstreitenden Belange für einen eritreischen Staatsangehörigen, der plausibel bekundet, die Erklärung nicht abgeben zu wollen, im Hinblick auf die darin enthaltene Selbstbezichtigung weder eine zumutbare Mitwirkungshandlung noch eine zumutbare staatsbürgerliche Pflicht sei (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Vom Herkunftsstaat geforderte Mitwirkungshandlungen seien dem Betroffenen gegen seinen Willen nur zuzumuten, wenn sie mit grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen vereinbar seien. Dies sei bei der „Reueerklärung“ nicht der Fall. Die Verknüpfung einer Selbstbezichtigung mit der Ausstellung eines Reisepasses entferne sich so weit von einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung, dass der Betroffene sich darauf gegen seinen Willen nicht verweisen lassen müsse. Es sei weder ein legitimes Auskunftsinteresse des eritreischen Staats erkennbar noch sei ersichtlich, dass die von den eritreischen Auslandsvertretungen praktizierte Voraussetzung im eritreischen Recht irgendeine formelle Grundlage hätte (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Mit der Erklärung sei eine rechtsstaatliche Grenzen nicht einfordernde Unterwerfung unter die eritreische Strafgewalt verbunden und werde ein Loyalitätsbekenntnis zu dem eritreischen Staat abgefordert, das dem Betroffenen gegen seinen ausdrücklichen Willen nicht zumutbar sei (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Das Bundesverwaltungsgericht führte weiter aus, dies gelte umso mehr, als es in Eritrea nach den erstinstanzlichen Feststellungen kein rechtsstaatliches Verfahren gebe (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Angesichts der dem eritreischen Staat attestierten gravierenden Menschenrechtsverletzungen und der willkürlichen Strafverfolgung könne ein Eritreer gegen seinen Willen auf die Unterzeichnung einer Selbstbezichtigung mit bedingungsloser Akzeptanz einer wie auch immer gearteten Strafmaßnahme auch dann nicht verwiesen werden, wenn die Abgabe der Erklärung die Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung und einer Bestrafung wegen der illegalen Ausreise nicht erhöht, sondern unter Umständen sogar verringert. Vielmehr müsse der Betroffene unter den beschriebenen Umständen (willkürliche und menschenrechtswidrige Strafverfolgungspraxis) kein auch noch so geringes Restrisiko eingehen und sei allein der – nachvollziehbar bekundete – Unwille, die Erklärung zu unterzeichnen, schutzwürdig (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Dies gelte jedenfalls dann, wenn der Betroffene plausibel darlegt, dass er zu der Selbstbezichtigung freiwillig nicht bereit sei (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris).
79
Der in Anwendung ausländerrechtlicher Vorschriften über die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt für die hier unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität des Asylrechts anzustellenden Zumutbarkeitsprüfung im Hinblick auf die Abgabe der „Reueerklärung“ als ein dem Asylantragsteller zumutbares Verhalten zur Gefahrenabwehr (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris u. U.v. 3.11.1992 – 9 C 21.92 – juris) nach Ansicht des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters eine gewisse Aussagekraft zu. Denn sie betrifft im Kern die Frage, ob die Abgabe der „Reueerklärung“ wegen der darin enthaltenen Selbstbezichtigung mit grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen vereinbar ist (vgl. BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23; a.A. OVG Greifswald, U.v. 17.8.2023 – 4 LB 145/20 OVG). Daran muss sich die Zumutbarkeit der Abgabe der „Reueerklärung“ auch im hier vorliegenden asylrechtlichen Kontext messen lassen.
80
Ausgehend hiervon spricht viel dafür, dass die Abgabe dieser „Reueerklärung“ unzumutbar ist. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Ausführungen des Auswärtigen Amtes im aktuellen Lagebericht, wonach der Text als Ermahnung zu verstehen sei und keine Rechtsnachteile für den Unterzeichner mit sich bringe (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 22 f.). Zwar scheint für eine Zumutbarkeit zu sprechen, dass viele Eritreer diese Erklärung unterschreiben und unter Ausnutzung des Status vorübergehend nach Eritrea reisen und dies in der Regel auch unbehelligt tun können. Allerdings lassen sich hieraus keine zwingenden Rückschlüsse auf eine permanente Rückkehrsituation treffen. Hier fehlen solche Erfahrungswerte gerade. Auch ist die Zumutbarkeit vor dem Hintergrund des willkürlichen Verhaltens und der fehlenden Rechtsstaatlichkeit Eritreas zu sehen. Der zuständige Einzelrichter geht davon aus, dass viel dafür spricht, dass eine Unzumutbarkeit im Regelfall angenommen werden kann, ohne dass der Kläger seine Weigerung plausibel darstellen muss. Im Hinblick auf dieses Erfordernis ist anzumerken, dass das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 11.10.2022 (Az.: 1 C 9.21) zwar äußerte, dass jedenfalls gegen den geäußerten Willen eine Unterzeichnung der „Reueerklärung“ vom Ausländer nicht verlangt werden könne. Diese Entscheidung betraf jedoch eine Person mit zuerkanntem Schutzstatus im Zusammenhang mit der Zumutbarkeit der Passbeschaffung, nicht die Frage der Zumutbarkeit der Unterzeichnung im Zusammenhang mit einer straffreien Rückkehr. Wird selbst in diesem Fall eine Unzumutbarkeit jedenfalls gegen den Willen angenommen, spricht einiges dafür, dass eine Unterzeichnung der „Reueerklärung“, um eine möglicherweise straffreie Rückkehr nach Eritrea zu erreichen vor dem Hintergrund der Willkürlichkeit des Vorgehens des eritreischen Staats nicht verlangt werden kann, unabhängig davon, ob dies von Klägerseite ausdrücklich abgelehnt wurde (abstellend auf eine ausdrückliche Ablehnung wohl OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online; für eine Zumutbarkeit OVG Greifswald, U.v. 17.8.2023 – 4 LB 145/20 OVG – beck-online). Im Übrigen wurde im angesprochenem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sogar ausdrücklich offen gelassen, ob es einem subsidiär Schutzberechtigten generell schon dann unzumutbar ist, sich bei der Auslandsvertretung seines Herkunftsstaates um die Erteilung eines nationalen Passes zu bemühen, wenn ihm der subsidiäre Schutzstatus aufgrund einer gezielten Bedrohung durch staatliche Behörden (im Unterschied zu drohender willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts oder einer Bedrohung durch private Akteure, gegen die der Staat keinen wirksamen Schutz gewährt) zuerkannt worden ist. Auch dies spricht dafür, dass es, wenn es um die Frage einer möglichen Bestrafung durch den Staat oder die Einberufung in den Nationaldienst geht, jedenfalls im Falle eines oft willkürlich agierenden Staates wie Eritrea generell unzumutbar ist, gerade diese Straftat schriftlich anzuerkennen.
81
(4) Aber selbst wenn man unterstellt, dass die Möglichkeit des Diasporastatus zur Verfügung steht und die Unterzeichnung der „Reueerklärung“ vom Kläger nicht verlangt wird oder dem Kläger zumutbar wäre, bietet der Diaspora-Status keinen ausreichenden Schutz vor der Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes.
82
Es ist nach der derzeitigen Erkenntnislage davon auszugehen, dass permanente Rückkehrer – je nach „Arrangement“ zwischen dem Rückkehrer und der eritreischen Regierung vor der Rückkehr – jedenfalls nach einer „Probezeit“ von sechs bis zwölf Monaten zum Nationaldienst eingezogen werden können (EASO, Eritrea, September 2019, S. 65, SFH, Eritrea: Rückkehr, 19. September 2019, S. 4 f., DIS, Country Report, Januar 2020, S. 30). Sie können (wieder) in den Nationaldienst einberufen werden und werden unter Umständen für Desertion, Dienstverweigerung oder illegale Ausreise bestraft. Nach anderen Quellen liegt die Schutzwirkung bei einem bis drei Jahren (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 9; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33) bzw. bis zu sieben Jahren (DIS, Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 36). Gegen diese zeitliche Begrenztheit einer Schutzwirkung sprechen auch nicht die Aussagen, dass die große Mehrheit der Personen, die ihr Verhältnis zu dem eritreischen Staat durch den Diaspora-Status „bereinigt“ haben, tatsächlich (zunächst) nicht strafrechtlich verfolgt bzw. in den Nationaldienst aufgeboten werden (vgl. SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 22, 34; AA, Auskunft an das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht vom 14.4.2020), da diese Aussage sich ausreichend gesichert nur auf temporäre Rückkehrer bezieht. Denn nur für diese Gruppe gibt es bislang aussagekräftige Erfahrungswerte (s.o.).
83
(5) Der zuständige Einzelrichter geht auch nicht davon aus, dass die Erlangung des genannten Status und der damit einhergehende zeitweise Schutz, nicht in den Nationaldienst einberufen zu werden, dazu führt, dass eine Einberufung nicht mehr im erforderlichen, ausreichenden zeitlichen Zusammenhang mit der Rückkehr zu sehen ist (so auch VG Magdeburg, U.v. 25.5.2023 – 6 A 219/21 MD – beck-online, VG Köln, U.v. 20.4.2023 – 8 K 14995/17.A – beck-online in Bezug auf Einberufungsgefahr; a.A. OVG Hamburg, U.v. 27.10.2021 – 4 Bf 106/20 – beck-online). Zwar ist bei der erforderlichen Prognose ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Rückkehr und der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts erforderlich. Allerdings handelt es sich hier jedenfalls bei sechs und zwölf Monaten nicht um einen unüberschaubaren Zeitraum, der zu einer Unsicherheit bezüglich der Gefahr führt. Im Hinblick auf die lange bestehende Situation in Eritrea erscheint vielmehr eine Änderung der Situation im Nationaldienst und seiner Einberufungspraxis auch in diesem absehbaren Zeitraum derzeit als nicht beachtlich wahrscheinlich. Auch, dass andere Quellen von einem längeren Schutz sprechen (s.o.) führt vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Willkür, die in Eritrea herrscht, nicht zu einer anderen Einschätzung, sondern spricht vielmehr gegen eine Verlässlichkeit des Schutzes. Es kann davon ausgegangen werden, dass bei einer freiwilligen Rückkehr mit einem „Diaspora-Status“ jedenfalls ab dem Zeitpunkt, in dem erkannt wird, dass keine Rückkehr ins Ausland erfolgt, der Kläger damit rechnen muss, wie ein normaler Inländer behandelt zu werden, und damit auch einberufen zu werden. Im Hinblick darauf, dass grundsätzlich eine jährliche Ausreise gefordert wird, erscheint damit eine Einberufung jedenfalls nach einem Jahr als beachtlich wahrscheinlich, auch wenn längere „Probezeiten“ möglich sind.
84
Zudem bezieht sich der allgemeine – nicht auf Abschiebungsverbote beschränkte Maßstab – der Verschlechterung in absehbarer Zeit vorliegend – anders als bei Fällen, in denen die Prüfung von § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG im Fokus steht – nicht lediglich auf das enge zeitlichen Umfeld nach einer hypothetischen Abschiebung nach Eritrea. Vielmehr sind bei der Ausfüllung des Maßstabs auch sonstige Rückkehrmodalitäten, die bereits zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung feststehen und voraussehbar sind, mithin nicht erst zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt zu befürchten sind, in den Blick zu nehmen (vgl. VG Magdeburg Urt. v. 25.5.2023 – 6 A 219/21 MD – beck-online). Hierfür spricht auch, dass nach der Rechtsprechung des EuGH (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – beck-online) auch im Zusammenhang mit einer Überstellung nach der Dublin-III-VO auch die Zustände für Anerkannte im Überstellungsstaat in den Blick zu nehmen sind. Die Situation scheint bei einem überschaubaren Zeitraum und grundsätzlich einschätzbarer Entwicklung auch für eine Überstellung in den Herkunftsstaat vergleichbar, so dass ein zeitlicher Aufschub des Nationaldienstes für nur sechs bis zwölf Monate, der möglicherweise durch einen Diaspora-Status erreicht werden kann, nicht geeignet ist, die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts auszuschließen. Es ist damit auch hier bereits die Situation in den Blick zu nehmen, in der Rückkehrer wieder wie ein normaler Inländer betrachtet würde.
85
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass der Kläger zu 1 nicht auf eine freiwillige Ausreise unter dem Diaspora-Status verwiesen werden kann, da er diesen weder gesichert erlangen kann und er ihn jedenfalls nicht vor der beachtlichen Gefahr einer alsbaldigen Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes ausreichend schützen würde.
86
c) Bei einer Einberufung in den militärischen Bereich des Nationaldienstes droht dem Kläger zu 1 ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG.
87
Der Kläger zu 1 hätte bei einer Einberufung mindestens eine sechsmonatige militärische Ausbildung zu durchlaufen. Auch eine weitere Verwendung im Militär ist bei dem Kläger zu 1 beachtlich wahrscheinlich, da der Kläger zu 1 die Schule in Eritrea abgebrochen hat und ins Ausland geflohen war. Dies gilt auch für den Fall einer freiwilligen Rückkehr.
88
Rekruten im militärischen Bereich des Nationaldienstes werden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Opfer von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im oben genannten Sinne. Nach der Erkenntnislage sind die Arbeitsbedingungen jedenfalls im militärischen Bereich des Nationaldienstes extrem hart. Militärische Kommandanten haben fast unbeschränkt Macht über ihre Untergebenen. Es sind keine Regeln oder Richtlinien bekannt, welche die Befugnisse der Kommandanten, die Behandlung der Untergebenen oder Maßnahmen gegen Machtmissbrauch regeln würden. Bestrafungen für fehlende Disziplin, wozu auch gehört, wenn jemand Übungen nicht richtig lernt, sind häufig drakonisch und willkürlich. Berichten zufolge werden die Dienstpflichtigen geschlagen oder für Stunden oder Tage gefesselt (vgl. UN Human Rights Council, Situation of human rights in Eritrea 5/2024, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, S. 8). Militäreinheiten haben eigene Gefängnisse, in welchen die Bedingungen prekär sind. Einige Gefängnisse sind unterirdisch oder in Schiffscontainern. Sie sind häufig überfüllt, Hygiene, Medizin und Ernährung sind problematisch (vgl. EASO: Eritrea Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, September 2019, S. 40 f.). Auch wenn es keine Hinweise darauf gibt, in welchen Ausmaß und wie systematisch solche Härten vorkommen, geht das Gericht auch unter Berücksichtigung des grundsätzlich willkürlichen Verhaltens des eritreischen Staates davon aus, dass es sich nicht nur um unbeachtliche Einzelfälle handelt, sondern eine beachtliche Wahrscheinlichkeit (real risk) anzunehmen ist. Nach dem Bericht der SFH „Eritrea: Nationaldienst“ vom 30.6.2017 werden dienstleistende Personen geschlagen, in Helikopter-Position aufgehängt, der glühenden Sonne oder klirrender Kälte ausgesetzt. Das Gericht geht nach alledem von einer beachtlichen Gefahr für eine erniedrigende Behandlung bei einer zu erwartenden Einberufung des Klägers zu 1 in den militärischen Bereich des Nationaldienstes aus (vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 18.8.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online; OVG Bautzen, U.v. 19.7.2023 – 6 A 923/20.A – beck-online; VG Magdeburg, U.v. 25.5.2023 – 6 A 219/21 MDE – beck-online; VG Bremen, B.v. 13.12.2021 – 7 K 2745/20 – beck-online), VG Münster, U.v. 12.4.2021 – 9 K 3018/17.A – beck-online; VG Bremen, U.v. 23.2.2021 – 7 K 436/19 – beck-online; VG Bremen, U.v. 23.2.2021 – 7 K 445/19 m.w.N. – beck-online; VG Wiesbaden, GB v. 11.3.2021 – 5 K 1405/17.WI.A – n.v.; VG Düsseldorf, U.v. 7.11.2019 – 6 K 1503/19.A – juris; a.A. VG Schleswig, U.v. 22.10.2018 – 3 A 365/17 – juris; BVerwG Schweiz, U.v. 10.7.2018 – E-5022/2017).
89
Nach alledem hat der Kläger zu 1 einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes aus § 4 Abs. 1 AsylG auf Grund der Einberufungsgefahr in den militärischen Bereich des Nationaldienstes.
90
2. Die Klage ist weiterhin insoweit begründet als die Klägerin zu 2 die Anerkennung als Asylberechtigte und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt.
91
a) Der Klägerin steht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu.
92
(1) Ein solcher Anspruch leitet sich zwar wie bereits oben hinsichtlich des Klägers zu 1 ausgeführt nicht aus dem dem Vater zuerkannten Schutzstatus gem. § 26 Abs. 2 AsylG ab.
93
(2) Jedoch ergibt sich ein Anspruch der Klägerin zu 2 auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 3 AsylG.
94
Die obigen Ausführungen zu den Voraussetzungen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugrunde gelegt hat die Klägerin zu 2 einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG. Der Klägerin zu 2 droht nach Überzeugung des zuständigen Einzelrichters bei einer Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine geschlechtsspezifische Verfolgung durch die Einziehung in den militärischen Teil des Nationaldienstes, die sie auch nicht durch Erlangung des Diasporastatus vermeiden kann.
95
(aa) Die Klägerin zu 2 ist nach ihren Angaben nicht verheiratet, nicht schwanger und kinderlos. Danach ist beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin zu 2 bei einer Rückkehr nach Eritrea in den militärischen Teil des Nationaldienstes eingezogen wird bzw. jedenfalls eine sechsmonatige militärische Ausbildung abzuleisten hat. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die wichtigste Methode der Rekrutierung zum Nationaldienst das Schulsystem darstellt, in das die Klägerin zu 2 nicht zurückkehren würde. Gleiches gilt für die Annahme der Beklagten, dass auch eine Rekrutierung außerhalb des Schulsystems für die Klägerin zu 2 nicht beachtlich wahrscheinlich sei, da die eritreischen Behörden nicht mehr die Kapazitäten zu haben schienen, alle Dienstverweigerer systematisch zu Hause aufzusuchen, um sie zu verhaften oder zu rekrutieren und es auch trotz „giffas“ zahlreichen Dienstverweigerern gelinge, sich längerfristig auch diesen Kontrollen zu entziehen. Bei dieser Betrachtungsweise der Beklagten lässt diese völlig außer Betracht, dass die Klägerin zu 2 bei einer Rückkehr nach Eritrea einreisen muss und damit eine Einreisekontrolle durchlaufen muss. Es ist nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln bei der Situation eines Rückkehrers davon auszugehen, dass dieser nach seinem Nationaldienststatus befragt wird und damit unmittelbar im Visier der Behörden ist. So berichtet EASO unter Hinweis auf überwiegend aus dem Sudan über die Landesgrenze stattgefundene Rückführungen, dass die meisten Betroffenen unmittelbar nach ihrer Ankunft in Eritrea inhaftiert, insbesondere einem unterirdischen Gefängnis bei Tesseney zugeführt und dort auf den Nationaldienststatus überprüft würden. Die weitere Behandlung hänge von dem Profil des Betroffenen ab: Personen, die noch nie in den Nationaldienst aufgeboten wurden, müssten eine militärische Ausbildung absolvieren und sodann ihren Dienst bei einer Militäreinheit aufnehmen (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 69). Auch nach Auffassung des SEM deuten alle vorliegenden Informationen darauf hin, dass im Falle zwangsweiser Rückführung ähnlich wie bei einer „giffa“ der Nationaldienststatus überprüft und anschließend wie bei Aufgriffen im Inland verfahren werde (SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016), d.h. die Personen üblicherweise erst einige Tage oder Wochen in einem Gefängnis verblieben und dann zur militärischen Ausbildung in Ausbildungslager geschickt würden (vgl. auch OVG Lüneburg U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online).
96
(bb) Dem steht auch nicht entgegen, dass die Klägerin zu 2 zum Zeitpunkt der Entscheidung 16 Jahre alt ist und damit noch nicht das offizielle Mindestalter für die Dienstpflicht im Nationaldienst erreicht hat.
97
Wie ausgeführt erfasst die Proklamation Nr. 82/1995 über den Nationaldienst (Proclamation on National Service No. 82/1995) vom 23. Oktober 1995 nur Personen vom achtzehnten bis zum vierzigsten Lebensjahr. Allerdings gibt es zahlreiche Berichte, die belegen, dass die eritreische Regierung bzw. lokale für die Rekrutierung verantwortliche Verwaltungsbehörden, Soldaten und Offiziere auch Minderjährige zum Nationaldienst und auch dessen militärischen Teil einziehen (vgl. UN, Situation of human rights in Eritrea, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, Mohamed Abdelsalam Babiker, 7.5.2024, S. 10, 18; Human Rights Watch (HRW), Eritrea, Events of 2023; SFH, Eritrea: Situation von Schulabbrecher*innen Auskunft der SFH-Länderanalyse, 16.2.2023, S. 5; SFH, Eritera: Rekrutierung von Minderjährigen, Auskunft der SFH-Länderanalyse, 6.12.2021, S. 4; US Department of Labor, 2023 Findings on the Worst Forms of Child Labor, S. 1).
98
So nennen einige Quellen ausdrücklich die Verpflichtung von 16-Jährigen zu militärischem Training, einschließlich Drills zu Disziplin, Waffentraining, Überlebensübungen und einer zwei- bis vierwöchigen Kriegssimulation (US Department of Labor, 2023 Findings on the Worst Forms of Child Labor, S. 1; SFH, Eritrea: Intensivierung der Zwangsrekrutierung in den Nationaldienst Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 15.6.2023, S. 7; HRW, „They Are Making Us into Slaves, Not Educating Us“, How Indefinite Conscription Restricts Young People’s Rights, Access to Education in Eritrea, 2019, S. 35). Dies betrifft zunächst Schülerinnen und Schüler der 12. Klasse ungeachtet ihres Alters, die in das Militärcamp Sawa versetzt wurden (United States Department of State, 2024 Trafficking in Persons Report: Eritrea, S. 3; SFH, Eritrea: Situation von Schulabbrecher*innen Auskunft der SFH-Länderanalyse, 16.2.2023, S. 5; UN, HRC, Situation of human rights in Eritrea Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, 6.5.2022, S. 6; EASO, Eritrea, National service, exit and return, Country of Origin Information Report, September 2019, S. 32 f.; HRW, „They Are Making Us into Slaves, Not Educating Us“, How Indefinite Conscription Restricts Young People’s Rights, Access to Education in Eritrea, 2019, S. 34). Darüber hinaus gibt es aber zahlreiche Berichte, wonach Kinder, die die Schule vorzeitig abgebrochen haben, zwangsweise zum militärischen Teil des Nationaldienstes herangezogen wurden, und dies teilweise schon ab einem Alter von nur 14 Jahren (vgl. United States Department of State, 2024 Trafficking in Persons Report: Eritrea, S. 4; United States Department of Labor, 2023 Findings on the Worst Forms of Child Labor, S. 1; HRW, Eritrea, Events of 2023; SFH, Eritrea: Intensivierung der Zwangsrekrutierung in den Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 15.6.2023, S. 7; HRW, Eritrea, Events of 2023; SFH, Eritrea: Situation von Schulabbrecher*innen Auskunft der SFH-Länderanalyse, 16.2.2023, S. 7 f., 11). Ähnliches hat sich Berichten zufolge im Rahmen von „giffas“ ereignet, bei denen Personen, darunter auch minderjährige Kinder, wahllos und ohne Überprüfung ihrer Dienstpflichtigkeit aufgegriffen und zwangsweise rekrutiert worden sind (UN, Situation of human rights in Eritrea, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, Mohamed Abdelsalam Babiker, 7.5.2024, S. 10; US Department of Labor, 2023 Findings on the Worst Forms of Child Labor, S. 1; HRW, Eritrea, Events of 2023; SFH, Eritrea: Intensivierung der Zwangsrekrutierung in den Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 15.6.2023, S. 10 f.; SFH, Eritrea: Situation von Schulabbrecher*innen Auskunft der SFH-Länderanalyse, 16.2.2023, S. 7 f., 10; UN, HRC, Situation of human rights in Eritrea Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, 6.5.2022, S. 6; EASO, Eritrea, National service, exit and return, Country of Origin Information Report, September 2019, S. 33), Eritrea, National service, exit and return, Country of Origin Information Report, September 2019, S. 33; HRW, „They Are Making Us into Slaves, Not Educating Us“, How Indefinite Conscription Restricts Young People’s Rights, Access to Education in Eritrea, 2019, S. 34).
99
Die Gefahr der Einziehung in den militärischen Teil des Nationaldienstes im Rahmen der Einreisekontrolle oder einer „giffa“ ist bei der Klägerin zu 2 zudem dadurch erhöht, dass sie sich der „regulären“ Rekrutierungsmethode im Schulsystem entzogen hat, indem sie die Schule noch vor der Versetzung in das Militärlager S. abgebrochen hat. Es liegt also nahe, dass sie bei einer Rückkehr, wenn nicht bereits als Form der Bestrafung für ihre sozusagen vorverlagerte Desertion, dann aber jedenfalls zum Nachholen der Rekrutierung, der sie sich entzogen hat, doch noch zum militärischen Teil des Nationaldienstes eingezogen werden würde (vgl. SFH, Eritrea: Situation von Schulabbrecher*innen Auskunft der SFH-Länderanalyse, 16.2.2023, S. 11; HRW, „They Are Making Us into Slaves, Not Educating Us“, How Indefinite Conscription Restricts Young People’s Rights, Access to Education in Eritrea, 2019, S. 46, 48). Da die Klägerin wegen ihres vorzeitigen Schulabbruchs keine Papiere vorweisen kann, die einen Schulabschluss, eine Musterung oder eine Befreiung hiervon nachweisen würden, ist die Gefahr, im Rahmen der Einreisekontrolle oder einer „giffa“ eingezogen zu werden, besonders hoch.
100
(cc) Das Aufgebot in den Nationaldienst kann die Klägerin zu 2 nicht durch Erlangung des sog. Diaspora-Status abwenden. Insoweit ist vollumfänglich auf die Ausführungen zum Kläger zu 1 zu verweisen.
101
(dd) Bei einer Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes droht der Klägerin zu 2 aufgrund drohender sexueller Übergriffe nach Überzeugung des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG.
102
Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 Buchst. a AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe im Sinn dieser Vorschrift, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 1 Buchst. b AsylG). Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 4 AsylG). Bei der Bestimmung dieses Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sind die Vorgaben des Unionsrechts und insbesondere das Urteil des EuGH vom 16.1.2024 (Az. C-621/21) betreffend die Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der RL 2011/95/EU zu berücksichtigen. Danach können je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen sowohl die Frauen dieses Landes insgesamt als auch enger eingegrenzte Gruppen von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen, als „einer bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden, was im Sinne eines „Verfolgungsgrundes“ zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der RL 2011/95/EU ist dabei nach der der Rechtsprechung des EuGH unter Berücksichtigung der Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt auszulegen. Nach Art. 60 Abs. 1 der Istanbul-Konvention muss Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als eine Form der Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden, wobei nach Art. 60 Abs. 2 die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention geschlechtersensibel ausgelegt werden müssen (vgl. EuGH, U.v. 16.1.2024 – C-621/21 – juris Rn. 47 f.). Gewalt gegen Frauen sind nach Art. 3 Buchst. a der Istanbul-Konvention alle Handlungen geschlechtsspezifischer Gewalt, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen oder führen können, einschließlich der Androhung solcher Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsentziehung, sei es im öffentlichen oder privaten Leben. In Art. 3 Buchst. d der Istanbul-Konvention wird geschlechtsspezifische Gewalt als Gewalt definiert, die gegen eine Frau gerichtet ist, weil sie eine Frau ist, oder die Frauen unverhältnismäßig stark betrifft.
103
Die Voraussetzung des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AsylG wird von weiblichen Rekrutinnen bereits aufgrund der angeborenen Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht begründet. Aber auch die Voraussetzung des § 3 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AsylG liegen für Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes vor. Zwar schließt das selbständige Erfordernis der „deutlich abgrenzbaren Identität“ eine Auslegung aus, nach der eine „soziale Gruppe“ im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG allein dadurch begründet wird, dass eine Mehr- oder Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von etwa als Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 oder Abs. 2 AsylG zu qualifizierenden Maßnahmen betroffen wird (EuGH, U.v. 25.1.2018 – C-473/16 – juris; BVerwG, B.v. 23.9.2019 – 1 B 54.19 – juris; OVG Münster, B.v. 21.9.2020 – 19 A 1857/19.A – juris). Hiervon geht auch die Entscheidung des EuGH vom 16.1.2024 – C 621/21 – beck-online aus, in der der Gerichtshof ausführt, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe unabhängig von den Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Richtlinie festgestellt werden muss, denen die Mitglieder dieser Gruppe im Herkunftsland ausgesetzt sein können. Gleichwohl könne eine Diskriminierung oder eine Verfolgung von Personen, die ein gemeinsames Merkmal teilen, einen relevanten Faktor darstellen, wenn für die Prüfung, ob die zweite in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der RL 2011/95 vorgesehene Voraussetzung für die Identifizierung einer sozialen Gruppe erfüllt sei, zu beurteilen sei, ob es sich bei der in Rede stehenden Gruppe im Hinblick auf die sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen des betreffenden Herkunftslands offensichtlich um eine gesonderte Gruppe handele. Diese Auslegung werde durch Rn. 14 der Richtlinien des UNHCR zum internationalen Schutz Nr. 2 betreffend die „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Zusammenhang mit Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bestätigt. Folglich könnten Frauen insgesamt als einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der RL 2011/95 zugehörig angesehen werden, wenn feststehe, dass sie in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt, ausgesetzt seien. Der zuständige Einzelrichter geht zwar nicht davon aus, dass alleine die verbreitete sexuelle Gewalt in Eritrea Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes zu einer gesonderten und abgrenzbaren sozialen Gruppe gegenüber z.B. Frauen außerhalb des militärischen Nationaldienstes macht. Allerdings führt die Zugehörigkeit zum Geschlecht der Frauen und die in Eritrea Frauen gegenüber bestehende Einstellung und die Rahmenbedingungen im militärischen Bereich des Nationaldienstes dazu, dass Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes, zu dessen Ableistung sie grundsätzlich verpflichtet sind, gegenüber den männlichen Rekruten anders angesehen und behandelt werden und damit eine „soziale Gruppe“ i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG vorliegt (anders OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 29.9.2022 – 4 B 14/21; VG Berlin, U.v. 6.2.2023 – VG 28 K 505.17.A; OVG Münster, B.v. 21.9.2020 – 4 B 21.9.2020 – 19.A.; OVG Lüneburg, B.v. 9.2.2022 – 4 LA 74/20 – jeweils beck-online). Zwar geht der zuständige Einzelrichter nicht davon aus, dass Frauen gerade zu dem Zweck rekrutiert werden, um für sexuelle Dienste von Vorgesetzten zur Verfügung zu stehen. Ihre Einberufung erfolgt vielmehr im Zuge der allgemeinen Dienstpflicht, unter die auch konsequent Frauen fallen. Auch, dass diese Frauen, die in den militärischen Bereich einberufen werden, häufig Funktionen wie Köchinnen, Putzkraft, Wäscherin, persönliche Assistentin des Kommandanten oder Büromittarbeiterin zugeteilt werden (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S.26), führt alleine nicht automatisch zu einer geschlechtsspezifischen Verfolgung. Diese Tätigkeiten sind nicht automatisch mit einem sexuellen Bezug belegt, sondern im militärischen Bereich notwendig. Allerdings ist nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln davon auszugehen, dass es gerade im militärischen Bereich und gerade in diesen Funktionen gehäuft zu sexuellen Übergriffen kommt und hiergegen nicht eingeschritten wird (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 14; HRC, Situation of human rights in Eritrea 5/2024, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea S. 8; United States Department of State, 2024 Trafficking in Persons Report: Eritrea, S. 4; UN General Assembly, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, 6 May 2022, A/HRC/50/20, S. 7; Danish Refugee Council, Country Report Eritrea, January 2020, S. 22; SFH Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 13. Februar 2018 zu Eritrea, Sexualisierte Gewalt gegen Frauen, S. 3). Dabei deuten die Erkenntnismittel auf eine kontinuierliche Verschlechterung der Dienstbedingungen hin (vgl. VG Bremen, U.v. 24.11.2023 – 7 K 297/22 – BeckRS 2023, 45673, Rn. 42), womit auch eine tendenzielle Verschlechterung der Lage von Frauen im Militärdienst naheliegt. Nach dem letzten Bericht der früheren VN Sonderberichterstatterin Sheila B. Keetaruth stelle die anhaltende Leugnung der Existenz sexueller Ausbeutung und Gewalt in der Armee durch die Regierung eine Verweigerung der Rechte der Frauen dar, die dringend abgestellt werden müsse (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 14). Nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln geht der zuständige Einzelrichter davon aus, dass die nach den Erkenntnismitteln weit verbreitete Annahme, dass weibliche Rekrutinnen ihren Vorgesetzten auch in sexueller Hinsicht zur Verfügung stehen, auch in der Rolle der Frau im sozialen Kontext und ihrem mangelnden gesellschaftlichen Schutz zu sehen ist (vgl. allgemein auch Gaim Kibreab, Sexual Violence in the Eritrean National Service). Soweit bislang davon ausgegangen wurde, dass Misshandlungen, Willkür und Machtmissbrauch gegenüber Untergebenen allgemein im militärischen Bereich des Nationaldienstes verbreitet sind und die sexuellen Übergriffe gegenüber Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes eine besondere Form der Misshandlung im Rahmen des Nationaldienstes neben anderen Formen von Misshandlungen gegenüber allen Dienstverpflichteten unabhängig vom Geschlecht sei, erscheint dies im Lichte der Entscheidung des EuGH vom 16.1.2024 (s.o.) nicht mehr sachgerecht. Zwar sind sowohl die Misshandlungen als auch die sexuellen Übergriffe darin bedingt, dass den Vorgesetzten fast unbegrenzte Macht gegenüber den Rekruten zukommt. Dennoch ist auch zu berücksichtigen, dass die Machtdemonstration bei Frauen geschlechtsspezifische Formen hat und auch im Zusammenhang mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft zu sehen ist. Anders als ihre männlichen Kollegen sind sie auf Grund ihres Geschlechts auch sexueller Gewalt ausgesetzt bzw. werden unter Strafandrohung unter Druck gesetzt, zu sexuellen Diensten zu sein. Daneben tragen auch sie das Risiko bei Fehlverhalten im Dienst bestraft und dabei menschenunwürdig behandelt zu werden. Das zusätzliche Risiko, bestraft zu werden, weil sie nicht zu sexuellen Diensten sein wollen, tragen nur weibliche Rekrutinnen. Auch dies spricht dafür, dass weibliche Rekrutinnen aufgrund ihres Geschlechts im militärischen Bereich des Nationaldienstes anders angesehen und behandelt werden als männliche Rekruten. Auch tragen nur Frauen in Eritrea das Risiko einer Stigmatisierung, wenn sie unehelich schwanger werden, selbst bei einer Vergewaltigung (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 15). Sexuelle Übergriffe auf weibliche Rekrutinnen im Militärdienst erfolgen gerade aus dem Grund, weil sie Frauen sind bzw. betreffen solche Übergriffe unverhältnismäßig oft Frauen, womit eine geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen im Sinne des Art. 3 Buchst. d der Istanbul-Konvention vorliegt. Da nach Art. 60 Abs. 2 der Istanbul-Konvention und gemäß der EuGH-Rechtsprechung auch bei der Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der RL 2011/95/EU eine geschlechtersensible Auslegung von Verfolgungsgründen erforderlich ist, kann diese Form geschlechtsspezifischer Gewalt nach Ansicht des Einzelrichters nicht als bloßer Ausdruck eines unabhängig vom Geschlecht der Betroffenen bestehenden gewalttätigen Umfelds gesehen werden. Vielmehr ist dem gerade gegen Frauen als solche gerichteten Gewaltakt eine eigenständige Qualität beizumessen. Im Lichte einer geschlechtersensiblen Auslegung geht daher der zuständige Einzelrichter davon aus, dass Frauen, die beachtlich wahrscheinlich in den militärischen Bereich einberufen werden, eine geschlechtsspezifische Verfolgung droht. Dem Erfordernis einer geschlechtssensiblen Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der RL 2011/95/EU und damit auch des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG wird daher nur genügt, wenn Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes, die im Gegensatz zu Männern im regulären Dienst Verfolgungshandlungen ausgesetzt sind, entsprechend dem oben Ausgeführten als soziale Gruppe mit abgegrenzter Identität angesehen werden.
104
Der Klägerin zu 2 droht damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im militärischen Teil des Nationaldienstes eine Verfolgung in Form sexueller Gewalt wegen Zugehörigkeit zur abgegrenzten sozialen Gruppe weiblicher Rekrutinnen. Da die Verfolgung im Nationaldienst von staatlichen Akteuren nach § 3c Nr. 1 AsylG ausgeht und innerhalb Eritreas keine Möglichkeit besteht, einer Einziehung in den Militärdienst zu entgehen (§ 3e Abs. 1 AsylG) hat die Klägerin zu 2 somit gemäß § 3 Abs. 1 AsylG einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
105
b) Weiterhin ergibt sich ein Anspruch der Klägerin zu 2 auf Anerkennung als Asylberechtigte aus Art. 16a Abs. 1 GG.
106
Gemäß Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht.
107
Voraussetzung für die Anerkennung als Asylberechtigte ist nach der Rechtsprechung die politische Verfolgung durch staatliche Akteure aufgrund eines asylrelevanten Verfolgungsgrundes.
108
a) Die Anwendbarkeit des Asylgrundrechts aus Art. 16a Abs. 1 GG ist zunächst nicht nach Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylG ausgeschlossen. Demnach kann sich nicht auf Art. 16a Abs. 1 GG berufen, wer über einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einen „sicheren Drittstaat“ in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist. Die Klägerin ist mit einem Direktflug aus Addis Abeba, der Hauptstadt der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien, nach Deutschland geflogen. Die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien ist weder ein Mitgliedstaat der EU noch ein sicherer Drittstaat i.S.d. Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG, § 26a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AsylG i.V.m. Anlage I zu § 26a AsylG.
109
b) Ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte scheidet auch nicht deshalb aus, weil die Klägerin zu 2 ihre Flucht aus Eritrea bereits in Äthiopien beendet hätte und dort vor einer politischen Verfolgung sicher gewesen wäre, § 27 Abs. 1, 3 Satz 1 AsylG.
110
Gem. § 27 Abs. 1 AsylG – der nur auf Ansprüche auf Asylberechtigung nach Art. 16a Abs. 1 GG, nicht aber auf Ansprüche auf internationalen Schutz anwendbar ist (vgl. BVerwG, U.v. 4.9.2012 – 10 C 13/11 –, Rn. 14 juris; VG Regensburg, U.v. 25.3.2025 – RN 2 K 24.30994 –, Rn. 70 juris) – wird ein Ausländer, der bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung sicher war, nicht als Asylberechtigter anerkannt. Gem. § 27 Abs. 3 Satz 1 AsylG wiederum wird vermutet, dass ein Ausländer, der sich in einem sonstigen Drittstaat, in dem ihm keine politische Verfolgung droht, vor der Einreise in das Bundesgebiet länger als drei Monate aufgehalten hat, dort vor politischer Verfolgung sicher war. Dabei genügt es nicht, wenn der Ausländer den Drittstaat lediglich zur Durchreise genutzt hat. Vielmehr muss dort seine Flucht geendet sein.
111
Voraussetzungen für einen Ausschluss nach § 27 Abs. 1 AsylG sind, dass der Ausländer in einem sonstigen Drittstaat seine Flucht beendet hat und dort vor politischer Verfolgung sicher war.
112
(1) Nicht erforderlich ist dabei zunächst, dass Äthiopien als Drittstaat auch bereit wäre, die Klägerin zu 2 wieder aufzunehmen. Dieses Erfordernis sieht § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG dann vor, wenn ein Asylantrag bereits als unzulässig abgelehnt werden soll. Dagegen geht es bei § 27 Abs. 1, 3 AsylG um eine Einschränkung des Schutzbereichs des Asylgrundrechts aus Art. 16a Abs. 1 GG (vgl. BeckOK MigR/Diesterhöft, 20. Ed. 1.1.2025, AsylG § 27 Rn. 1, 6, beck-online). Im Umkehrschluss von § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG, der die Rücknahmebereitschaft ausdrücklich voraussetzt, auf § 27 Abs. 1, 3 AsylG, der sich hierzu nicht verhält, kann geschlossen werden, dass diese Voraussetzung für eine Beschränkung des Schutzbereichs nicht einschlägig ist. Hierfür spricht auch, dass § 29 AsylG für alle „Asylanträge“ und damit gem. § 13 Abs. 1 AsylG insbesondere auch für Anträge auf internationalen Schutz nach §§ 3 und 4 AsylG gilt. Mithin betrifft § 29 AsylG auch Anträge, die vollständig von Europarecht – insbesondere der Asylverfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU) und der Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU) – überformt sind. Damit ist hinsichtlich der von § 29 AsylG (auch) erfassten Anträge auf internationalen Schutz gerade auch Art. 33 Abs. 2 Buchst. b i.V.m. Art. 35 Asylverfahrensrichtlinie anwendbar, wonach ein Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig wegen Verweises auf einen ersten Asylstaat abgelehnt werden kann, wenn dieser dazu bereit ist, den Ausländer wieder aufzunehmen, Art. 35 Satz 1 aE Asylverfahrensrichtlinie. Es liegt also nahe, dass das Erfordernis der Rücknahmebereitschaft in § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG auf diese europarechtliche Voraussetzung zurückgeht (vgl. BeckOK MigR/Diesterhöft, 20. Ed. 1.1.2025, AsylG § 27 Rn. 4, beck-online). § 27 AsylG hingegen betrifft einzig den Antrag auf Anerkennung der Asylberechtigung aus Art. 16a Abs. 1 GG und mithin lediglich nationalen Schutz, nicht aber Anträge auf internationalen Schutz, auf die die besagten Richtlinien anwendbar sind (vgl. BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087 (1090); BeckOK MigR/Diesterhöft, 20. Ed. 1.1.2025, AsylG § 27 Rn. 3, beck-online). Art. 16a GG ist als eigenständiges, nationales Schutzrecht zu sehen, dessen Anwendungsbereich sich auch primär nach nationalem Recht richtet – und nicht (unmittelbar) nach europäischem Recht (vgl. Art. 3 Abs. 1, 3 Asylverfahrensrichtlinie). Zwar ist es wiederum denkbar, dass der deutsche Gesetzgeber hinsichtlich der Ausgestaltung des Asylgrundrechts auf europäisches oder sonstiges internationales Recht (insbesondere die Genfer Flüchtlingskonvention, vgl. Dürig/Herzog/Scholz/Gärditz, 105. EL August 2024, GG Art. 16a Rn. 159, 161, beck-online; dazu sogleich) verweist (vgl. Art. 3 Abs. 3 Asylverfahrensrichtlinie) oder zurückgreift und insoweit eine Auslegung des Anwendungsbereichs auch anhand internationaler Rechtssätze möglich ist. Dies ist jedoch nur im Rahmen des auslegungsfähigen Wortlauts des Gesetzes möglich (vgl. Dürig/Herzog/Scholz/Gärditz, 105. EL August 2024, GG Art. 16a Rn. 167, beck-online). Demnach ist kein Raum für eine Übertragung der Rücknahmebereitschaft als Voraussetzung für die Einschränkung des Schutzbereichs des Art. 16a GG.
113
(2) Es ist jedoch bereits fraglich, ob die Klägerin zu 2 während ihres Aufenthalts in Äthiopien tatsächlich sicher vor politischer Verfolgung war. Dies setzt wiederum voraus, dass der Ausländer in dem sonstigen Drittstaat vor weiterer oder erneuter Verfolgung und vor (Ketten-)Abschiebung in einen möglichen Verfolgerstaat sicher gewesen sein muss und sich dort auch nicht nur vorübergehend aufhalten durfte (BeckOK MigR/Diesterhöft, 21. Ed. 1.5.2025, AsylG § 27 Rn. 27 f., beck-online; vgl. BVerwG, Urt.v. 5.6.1987 – 9 C 88/83 –, NVwZ 1984, 732, 733). Es genügt gerade nicht, dass sich der Ausländer rein faktisch eine gewisse Zeit in dem Drittstaat aufhalten kann. Vielmehr bewahrt nur ein rechtlich abgesicherter Aufenthalt den Flüchtling vor der Gefahr, ins Herkunftsland abgeschoben zu werden (VGH Baden-Württemberg, U.v. 17.1.1983 – A 13 S 292/82 –, NVwZ 1983, 432, 433, beck-online). Zwar ist nichts dafür ersichtlich, dass der Klägerin zu 2 in Äthiopien ein unmittelbarer Zugriff durch den eritreischen Staat drohte oder eine nunmehr neue Verfolgung durch den äthiopischen Staat oder sonstige Akteure. Allerdings ist bereits nicht auszuschließen, dass der Klägerin zu 2 eine Abschiebung gegen ihren Willen aus Äthiopien nach Eritrea drohte. Es liegen zahlreiche Berichte darüber vor, dass eritreische Flüchtlinge vom äthiopischen Staat nach Eritrea abgeschoben werden (vgl. Human Rights Council, Situation of human rights in Eritrea 5/2024, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, S. 15; United States Department of State, Eritrea 2023 human rights report, S. 10 f.; HRW, World Report 2025: Eritrea – Events of 2024, S. 4; https://www.ohchr.org/en/press-releases/2023/07/un-experts-urge-ethiopia-halt-mass-deportation-eritreans). Es ist unklar, inwiefern die von der Klägerseite in der mündlichen Verhandlung überreichte „ARRA / UNHCR / PROOF OF REGISTRATION“ den Klägern einen Schutz vor Abschiebung von Äthiopien nach Eritrea geboten hat. Zwar trägt dieses in seinem Titel die Bezeichnung „ARRA“, was für „Agency for Refugee and Returnee Affairs“ steht und die äthiopische Flüchtlingsbehörde bezeichnet. Doch findet sich lediglich ein Siegel des UNHCR Büros Addis Abeba sowie eine elektronisch eingefügte Unterschrift auf dem Dokument. Es ist mithin unklar, ob es sich auch um ein staatliches oder staatlich anerkanntes Dokument handelt und ob dieses der Klägerin zu 2 tatsächlich einen Schutz vor möglichen Abschiebungen gewährleisten konnte.
114
(3) Unabhängig von der Frage, ob die Klägerin zu 2 in Äthiopien tatsächlich vor politischer Verfolgung sicher war, scheidet ein Ausschluss nach § 27 Abs. 1 AsylG jedenfalls deshalb aus, weil sie ihre Flucht nicht in Äthiopien, sondern erst in Deutschland beendet hat. Verfolgungssicherheit i.S.d. § 27 Abs. 1 AsylG kann nur bestehen, wenn die Flucht im Drittstaat ihr Ende gefunden hatte, so dass bei wertender Betrachtung kein Zusammenhang mehr zwischen dem Verlassen des Heimatstaates und der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland besteht (BVerwG, U.v. 16.3.1990 – 9 C 97.89 –, BeckRS 1990, 31266008, beck-online; BeckOK MigR/Diesterhöft, 21. Ed. 1.5.2025, AsylG § 27 Rn. 16, beck-online). Zwar ist die Frage, ob der Ausländer seine Flucht in dem sonstigen Drittstaat beenden wollte, an sich eine subjektive. Sie ist jedoch anhand eines objektiven Maßstabs zu beurteilen, also insbesondere ob nach dem äußeren Erscheinungsbild nach noch von einer Flucht gesprochen werden kann (BVerwG, U.v. 21.6.1988 – 9 C 12/88 – NVwZ 1988, 1136, 1137, beck-online).
115
Zur Beurteilung hiervon sind unterschiedliche Kriterien abzuwägen, die für oder gegen eine Fluchtbeendigung sprechen. Üblicherweise dafür sprechen Existenzgründungsversuche, also insbesondere die Aufnahme einer dauerhaften Arbeitstätigkeit, die Beschaffung einer Wohnung auf Dauer, die Bemühungen um Aufnahme in ein Flüchtlingslager, Bemühungen um die Legalisierung des Status im Drittstaat sowie ein längerer Aufenthalt ohne erkennbare Hindernisse für eine Weiterreise (BeckOK MigR/Diesterhöft, 21. Ed. 1.5.2025, AsylG § 27 Rn. 21, beck-online; BeckOK AuslR/Nuckelt, 44. Ed. 1.4.2025, AsylG § 27 Rn. 19, beck-online).
116
Die Klägerin zu 2 hat zwar in Äthiopien eine Schule besucht, damit ist sie aber lediglich der allgemeinen Schulpflicht nachgekommen. Ihre Mutter und ihr ältester Bruder nahmen hingegen keine Arbeit auf und organisierten auch keine dauerhafte Wohnung für die Familie, sondern lebten behelfsmäßig zunächst in einem Flüchtlingslager und dann kurze Zeit in Addis Abeba. Als sie nach Addis Abeba reisten, taten sie dies nur, um von dort aus mit dem Flugzeug nach Deutschland reisen zu können. Dies taten sie dann auch nach Genehmigung der Familienzusammenführung bei erster Gelegenheit. Ihren Lebensunterhalt bestritt die Familie ausschließlich aus Zahlungen des Vaters aus Deutschland.
117
Eine Fluchtbeendigung ist gerade nicht anzunehmen bei Zwischenaufenthalten, die allein auf das vorübergehende Unvermögen des Betroffenen zurückzuführen sind, seine Flucht fortzusetzen, etwa Krankheiten oder Mittellosigkeit. Wenn der Betroffene in dieser Lage den Schutz des Drittstaats erkennbar vorübergehend in Anspruch nimmt, um einer Abschiebung zu entgehen, liegt kein Ende der Flucht vor (vgl. VGH Baden-Württemberg, U.v. 17.1.1983 – A 13 S 292/82 –, NVwZ 1983, 432, 433 f., beck-online; BeckOK MigR/Diesterhöft, 21. Ed. 1.5.2025, AsylG § 27 Rn. 22, beck-online).
118
Maßgeblich ist also, dass sich die Klägerfamilie – wie glaubhaft in der mündlichen Verhandlung geschildert wurde – lediglich über diesen langen Zeitraum in Äthiopien aufhielt, weil eine Einreise nach Deutschland im Rahmen der Familienzusammenführung noch nicht genehmigt worden ist. Dass die Bearbeitung ihres Antrags – auch aufgrund der außerordentlichen Umstände in der Pandemiezeit – lange gedauert hat, kann nicht zulasten der Kläger gehen. Sie haben alles in ihrer Macht stehende getan, um eine legale und sichere Einreise von Äthiopien nach Deutschland zu organisieren.
119
Auch kann es nicht zulasten der Kläger gehen, dass sie Schutz durch die UNHCR während ihres Aufenthalts in Äthiopien gesucht haben. Da sich bereits abzeichnete, dass die Weiterreise nach Deutschland länger auf sich warten lassen könnte, war es nur naheliegend, dass sich die Klägerfamilie in dem fremden Land vorübergehende Hilfe ersuchte. Hätten die Mutter der Kläger sowie ihr ältester Sohn sich eigenständig um die Versorgung der Familie kümmern wollen, so hätten sie sich um eine Arbeitsstelle in Äthiopien bemühen müssen. Dies wiederum wäre ein klassisches Indiz für eine Beendigung der Flucht. Die lediglich vorübergehende Inanspruchnahme von Hilfsleistungen hingegen zeigt noch keinen Willen zur Beendigung der Flucht in dem sonstigen Drittstaat.
120
Abschließend ist festzustellen, dass aus dem Vorbringen der Klägerseite deutlich wird, dass der Aufenthalt in Äthiopien lediglich ein Zwischenaufenthalt war, um die Weiterreise nach Deutschland im Rahmen der Familienzusammenführung mit dem Vater überhaupt erst möglich zu machen. Denn direkt von Eritrea hätten sie unmöglich nach Deutschland einreisen können. Dementsprechend nutzten sie die erste Gelegenheit, die sie bekamen, um von Äthiopien weiter nach Deutschland zu reisen.
121
Somit steht fest, dass die Klägerin zu 2 ihre Flucht nicht in Äthiopien beendet hat, sondern sich dort lediglich zum Zwischenaufenthalt auf ihrem Weg nach Deutschland vorübergehend aufgehalten hat. Damit ist ihr Anspruch aus Art. 16a Abs. 1 GG nicht aufgrund § 27 Abs. 1 AsylG ausgeschlossen.
122
(4) Etwas anderes folgt auch nicht aus § 27 Abs. 3 AsylG. Gemäß § 27 Abs. 3 Satz 1 AsylG wird vermutet, dass Verfolgungssicherheit in einem sonstigen Drittstaat vorlag, wenn sich der Ausländer dort länger als drei Monate aufgehalten hat. Diese Vermutung erstreckt sich dabei nicht nur auf die Frage, ob der Ausländer in dem sonstigen Drittstaat sicher vor Verfolgung war, sondern auch auf die Frage der Fluchtbeendigung in diesem Staat (BVerwG, U.v. 21.11.1989 – 9 C 55/89 –, Rn. 17; BeckOK AuslR/Nuckelt, 44. Ed. 1.4.2025, AsylG § 27 Rn. 34, beck-online; BeckOK MigR/Diesterhöft, 20. Ed. 1.1.2025, AsylG § 27 Rn. 39 beck-online; Bergmann/Dienelt/Bergmann/Dollinger, 15. Aufl. 2025, AsylG § 27 Rn. 55, beck-online). Da sich die Klägerin deutlich länger als drei Monate in Äthiopien aufgehalten hat, würde mithin grundsätzlich gemäß § 27 Abs. 3 Satz 1 AsylG vermutet, dass sie in Äthiopien vor Verfolgung sicher war und dort ihre Flucht beendet hat. Allerdings gilt diese Vermutung gemäß § 27 Abs. 3 Satz 2 AsylG dann nicht, wenn der Ausländer glaubhaft macht, dass eine Abschiebung in einen anderen Staat, in dem ihm politische Verfolgung droht, nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen war. Diese Möglichkeit der Vermutungswiderlegung nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AsylG erstreckt sich korrespondierend zur erweiterten Auslegung der Vermutung nach Satz 1 auch auf die Vermutung der Fluchtbeendigung (BVerwG, U.v. 21.11.1989 – 9 C 55/89 –, Rn. 17 juris; BeckOK AuslR/Nuckelt, 44. Ed. 1.4.2025, AsylG § 27 Rn. 37, beck-online; Bergmann/Dienelt/Bergmann/Dollinger, 15. Aufl. 2025, AsylG § 27 Rn. 56, beck-online). Macht der Ausländer also glaubhaft, dass seine Flucht trotz einem mehr als dreimonatigen Aufenthalts in dem Drittstaat nicht beendet gewesen ist, so kann er die Vermutung des Satzes 1 widerlegen und damit die Ausschlusswirkung des § 27 Abs. 1 AsylG abwenden.
123
Wie dargelegt konnte die Klägerin zu 2 glaubhaft machen, dass sie ihre Flucht nicht in Äthiopien beendet hat. Damit ist die Vermutung des § 27 Abs. 3 Satz 1 AsylG jedenfalls insoweit widerlegt. Ob auch die Vermutung der Verfolgungssicherheit widerlegt werden kann, kann mithin offenbleiben. Denn mangels Fluchtbeendigung (bzw. mangels deren Vermutung) liegen die Voraussetzungen für einen Ausschluss der Asylberechtigung aufgrund § 27 Abs. 1 AsylG nicht vor.
124
Abschließend bleibt also festzuhalten, dass der Anspruch der Klägerin zu 2 auf Asylanerkennung aus Art. 16a Abs. 1 GG nicht aufgrund § 27 Abs. 1, 3 AsylG ausgeschlossen ist.
125
c) Der Klägerin zu 2 steht ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte aus Art. 16a Abs. 1 GG zu, da ihr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die politische Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer geschützten sozialen Gruppe durch staatliche Akteure droht.
126
(1) Der Klägerin zu 2 droht im militärischen Bereich des Nationaldienstes eine politische Verfolgung in Form von sexuellen Übergriffen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes. Insoweit liegt es nahe, eine Parallele zwischen den obigen Ausführungen hinsichtlich der Flüchtlingseigenschaft zu einer möglichen Asylanerkennung zu ziehen.
127
(aa) Eine politische Verfolgung liegt vor, wenn dem Einzelnen in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Nicht jede gezielte Verletzung von Rechten, die etwa nach der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland unzulässig ist, begründet schon eine asylerhebliche politische Verfolgung. Vielmehr muss die Maßnahme von einer Intensität sein, die sich nicht nur als Beeinträchtigung, sondern als – ausgrenzende – Verfolgung darstellt. Das Maß dieser Intensität ist nicht abstrakt vorgegeben. Es muss der humanitären Intention entnommen werden, die das Asylrecht trägt, demjenigen Aufnahme und Schutz zu gewähren, der sich in einer für ihn ausweglosen Lage befindet (BVerfG, B.v. 10.6.1989 – 2 BvR 502/86 – Rn. 42- 45 juris). Die Maßnahme muss als solche nach Intensität und Wirkung Betroffene zum Objekt degradieren (Dürig/Herzog/Scholz/Gärditz, 106. EL Oktober 2024, GG Art. 16a Rn. 199, beck-online).
128
Der Klägerin zu 2 drohen in Eritrea Eingriffe in ihre physische Integrität durch sexualisierte Gewalt. Hierzu kann vollumfänglich auf die obigen Ausführungen zu sexuellen Übergriffen an weiblichen Rekrutinnen im militärischen Teil des Nationaldiensts verwiesen werden.
129
Die zu befürchtende sexuelle Gewalt, die der Klägerin zu 2 im militärischen Bereich des Nationaldiensts droht, ist eine im genannten Sinne ausreichend intensive und gezielte Menschenrechtsverletzung, die die Klägerin zu einem bloßen Objekt degradieren würde und sie damit in ihrer Menschenwürde beträfe (vgl. auch Dürig/Herzog/Scholz/Gärditz, 106. EL Oktober 2024, GG Art. 16a Rn. 211, beck-online).
130
(bb) Die drohende Verfolgung der Klägerin in Form von sexualisierter Gewalt im militärischen Teil des Nationaldienstes ist auch eine politische Verfolgung i.S.d. Art. 16a Abs. 1 GG, da sie gerade an die Zugehörigkeit der Klägerin zur sozialen Gruppe der Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes anknüpft.
131
Den von der Verfassung nicht weiter abgegrenzten Begriff des politisch Verfolgten in Art. 16a Abs. 1 GG hat die Rechtsprechung in Anlehnung an den Flüchtlingsbegriff der GFK inhaltlich wiederholt bestimmt. Asylrechtlichen Schutz genießt jeder, der wegen seiner „Rasse“, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahr für Leib und Leben oder Beschränkungen seiner persönlichen Freiheit ausgesetzt ist oder solche Verfolgungsmaßnahmen begründet befürchtet. Diese Bestimmung umfasst alle denkbaren Fälle politischer Verfolgung. Den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Verfolgungsgründen kommt exemplarischer Charakter für die Beurteilung einer Verfolgung als einer politischen zu (BVerwG, U.v. 17.5.1983 – 9 C 36/83 – Rn. 17 juris; vgl. auch BVerwG, U.v. 15.3.1988 – 9 C 278/86 – Rn. 16 juris; BVerfG, B.v. 1.7.1987 – 2 BvR 478/86 – Rn. 30 juris). Mithin ist zur Auslegung des Begriffs der sozialen Gruppe auf die GFK abzustellen. Der verfassungsändernde Gesetzgeber ist auch bei seiner Totalrevision des Art. 16a GG im Jahr 1993 von der etablierten Auslegung des Asylgrundrechts im Lichte der GFK ausgegangen. Diese ist daher qua impliziter Verweisung Bestandteil des verfassungsrechtlichen Normgehaltes geworden (Dürig/Herzog/Scholz/Gärditz, 106. EL Oktober 2024, GG Art. 16a Rn. 168, beck-online).
132
Zwar ist das Geschlecht in Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 GFK nicht explizit als ein Verfolgungsgrund aufgeführt. Gleichwohl ist die soziale Gruppe ein inhärent entwicklungsoffener Begriff, der geteilte Wertentscheidungen aufnehmen und im Rahmen einer evolutiven Fortentwicklung der Verfolgungsszenarien verarbeiten kann (Dürig/Herzog/Scholz/Gärditz, 106. EL Oktober 2024, GG Art. 16a Rn. 270, beck-online).
133
Für die Auslegung der – wie gezeigt – maßgeblichen GFK wiederum kann auf die Rechtsprechung des EuGH abgestellt werden (vgl. Dürig/Herzog/Scholz/Gärditz, 105. EL August 2024, GG Art. 16a Rn. 132, beck-online). Denn die GFK wird über Art. 78 Abs. 1 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und Art. 18 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) innerhalb der Unionsrechtsordnung letztverbindlich durch den EuGH ausgelegt, wobei die mit Anwendungsvorrang ausgestatteten Interpretationsversuche durch die QRL – sofern nicht vom EuGH verworfen – zugrunde zu legen sind. Die jeweils im Lichte der Rechtsprechung des EuGH auszulegende GFK und QRL sind daher auch für die Auslegung und Interpretation des Art. 16a Abs. 1 GG heranzuziehen (vgl. Dürig/Herzog/Scholz/Gärditz, 106. EL Oktober 2024, GG Art. 16a Rn. 169, beck-online).
134
Maßgeblich für die Frage, ob Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes in Eritrea eine soziale Gruppe i.S.d. Art. 16a Abs. 1 GG bilden, ist mithin zunächst die GFK und weiterhin die Auslegung derer im Lichte des europäischen Rechts und der Rechtsprechung des EuGH. Die oben zu § 3 Abs. 1 AsylG angewandte Auslegung im Kontext der Entscheidung des EuGH vom 16.1.2024 und unter Heranziehung der Istanbul-Konvention ist also jedenfalls im vorliegenden Fall auf die Auslegung des Begriffs der politischen Verfolgung in Art. 16a Abs. 1 GG übertragbar (im Ergebnis eine geschlechtsspezifische Verfolgung als politische Verfolgung i.S.d. Art. 16a Abs. 1 GG anerkennend auch: Dürig/Herzog/Scholz/Gärditz, 106. EL Oktober 2024, GG Art. 16a Rn. 262, 271, beck-online; Dreier GG/Eichenhofer, 4. Aufl. 2023, GG Art. 16a Rn. 67, beck-online).
135
Damit steht unter Verweis auf die obigen Ausführungen zu § 3 Abs. 1 AsylG fest, dass der Klägerin auch eine politische Verfolgung i.S.d. Art. 16a Abs. 1 GG als Mitglied der sozialen Gruppe der Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes in Eritrea droht.
136
b) Die Verfolgung der Klägerin zu 2 droht auch durch staatliche Akteure. Selbst wenn man die zahlreichen und wohl schon fast routinemäßigen Misshandlungen, von denen aus dem militärischen Teil des Nationaldiensts berichtet werden, nicht als systematisch und damit in der Hierarchie und Disziplinarpraxis des militärischen Teil des Nationaldiensts verankert ansieht, so kann jedenfalls das Handeln einzelner Offiziere dem eritreischen Staat als Ganzes zugerechnet werden. Ein Fall des sogenannten Amtswalterexzesses liegt gerade nicht vor. Hierunter versteht man das Handeln einzelner Täter, die zwar im Rahmen ihrer Tätigkeit als staatliche Funktionsträger handeln (zum Beispiel einzelne Polizeibeamte), deren Handeln aber nicht dem Staat zugerechnet werden kann, da er diesen Exzess nicht duldet, sondern den Opfern hiervon Schutz bietet (vgl. Dürig/Herzog/Scholz/Gärditz, 105. EL August 2024, GG Art. 16a Rn. 283, beck-online). Während hiergegen schon die Häufigkeit und Regelmäßigkeit der berichteten Übergriffe sprechen, scheitert eine Annahme eines Amtswalterexzesses – und damit eine bloße Zurechnung zum jeweils übergriffig handelnden Offizier – jedenfalls daran, dass der eritreische Staat keinerlei ernsthaften Versuch unternimmt, Maßnahmen gegen diese Übergriffe zu ergreifen. Insbesondere gibt es keine Aufklärung der Vorwürfe, geschweige denn Strafverfahren gegen die mutmaßlichen Täter (vgl. HRC, Situation of human rights in Eritrea 5/2024, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, S. 8). Die an weiblichen Rekrutinnen vorgenommenen sexuellen Übergriffe durch Vorgesetzte im militärischen Teil des Nationaldienstes können also dem eritreischen Staat zugerechnet werden.
137
c) Auch stehen der Klägerin zu 2 wie bereits ausgeführt keine inländischen oder ausländischen Fluchtalternativen zur Verfügung und sind auch sonst keine Gründe dafür ersichtlich, den Anspruch aus Art. 16a Abs. 1 GG zu verneinen.
138
Somit steht im Ergebnis fest, dass die Klägerin zu 2 einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte aus Art. 16a Abs. 1 GG hat.
139
3. Die Klage ist schließlich insoweit begründet, als die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG für den Kläger zu 3 hinsichtlich Eritrea begehrt wird.
140
a) Der Kläger zu 3 hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter oder auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Auch hat er keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus. Insoweit ist die Klage unbegründet.
141
(1) Der Kläger zu 3 hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter oder auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
142
(aa) Ein solcher Anspruch leitet sich wie ausgeführt bereits nicht aus dem dem Vater zuerkannten Schutzstatus gem. § 26 Abs. 2, 5 Satz 1, 2 AsylG ab.
143
(bb) Ein Anspruch des Klägers zu 3 auf Anerkennung als Asylberechtigter oder auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt sich auch nicht aus Art. 16a Abs. 1 GG bzw. § 3 AsylG.
144
Weder der Behördenakte noch dem Vortrag des Vaters des Klägers zu 3 in der mündlichen Verhandlung kann entnommen werden, dass dem Kläger zu 3 in Eritrea eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht.
145
Unabhängig davon, dass die Einberufung zum Nationaldienst durch den eritreischen Staat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Regensburg und ganz überwiegender Teile der Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. hierzu u.a. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29/17 – juris; BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris; OVG Bremen, B.v. 29.7.2022 – 1 LA 284/21OVG – beck-online Rn. 9; Greifswald, U.v. 25.5.2022 – 4 LB 289/18 – juris; VGH Mannheim, U.v. 18.1.2022 – A 13 S 2403/21 – juris; U.v. 13.7.2021 – A 13 S 1563/20 – beck-online; OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 29.9.2022 – OVG 4 B 14/21 – juris; VG Regensburg, U.v. 26.10.2023 – RN 2 K 23.30938 – juris) für männliche Rekruten keinen im Rahmen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG beachtlichen Verfolgungsgrund darstellt, droht dem Kläger zu 3 zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) bei einer unterstellten Rückkehr nach Eritrea nicht in absehbarer Zeit die Einziehung in den eritreischen Nationaldienst.
146
Der Kläger zu 3 ist zum entscheidungserheblichem Zeitpunkt nur neun Jahre alt und damit nicht im nationaldienstpflichtigen Alter; eine Einziehung der Klägers zu 3 in absehbarer Zeit ist nicht ersichtlich.
147
Auch die bloße Asylantragsstellung in Deutschland begründet ebenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgungsgefahr für den Kläger zu 3 in Eritrea (AA, Lagebericht vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 19).
148
Der Kläger zu 3 hat damit insgesamt keinen Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung gemäß § 3 AsylG.
149
Auch die Anerkennung als Asylberechtigter im Sinne des Art. 16a GG scheidet aus diesen Gründen aus, da der Schutz inhaltlich im Wesentlichen identisch ist.
150
(2) Der Kläger zu 3 hat keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus.
151
(aa) Ein solcher Anspruch leitet sich wie ausgeführt bereits nicht aus dem dem Vater zuerkannten Schutzstatus gem. § 26 Abs. 2, 5 Satz 1, 2 AsylG ab (s.o.).
152
(bb) Ein Anspruch des Klägers zu 3 auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ergibt sich auch nicht aus § 4 AsylG.
153
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
154
Dass dem Kläger zu 3 bei einer Rückkehr nach Eritrea die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe droht, hat der gesetzliche Vertreter des Kläger zu 3 selbst nicht vorgetragen. Ihm droht bei einer Rückkehr nach Eritrea auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 2 AsylG.
155
Nachdem der Kläger Eritrea im Alter von nur drei Jahren verlassen hat, scheidet eine etwaige Strafbarkeit wegen illegaler Ausreise oder Entziehung vom Nationaldienst von vornherein aus. Eine Einberufung in den Nationaldienst ist wie ausgeführt bei dem inzwischen neunjährigen Kläger zu 3 nicht in absehbarer Zeit zu erwarten. Sonstige Gründe dafür, dass dem Kläger zu 3 bei einer Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden drohen könnte, wurden weder vorgetragen noch sind diese sonst ersichtlich.
156
(3) Der Kläger zu 3 hat jedoch einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG für seine Person hinsichtlich Eritrea.
157
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 14.11.1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung nicht zulässig ist. In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Frage (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris Rn. 15 ff.), wonach niemand unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verweist, ist eine unmenschliche Behandlung und damit eine Verletzung des Art. 3 EMRK allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen möglich (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C.15.12 – juris; U.v. 13.6.2013 – 10 C 13.12 – juris; EGMR, U.v. 21.1.2011 – M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413; U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681; U.v. 13.10.2011 – Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 – NJOZ 2012, 952). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681, Rn. 278, 282 f.) verletzen humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK nur in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn die humanitären Gründe gegen die Rückführung in den Herkunftsstaat „zwingend“ sind. Solche humanitären Gründe können auch in einer völlig unzureichenden Versorgungslage begründet sein (so auch BayVGH, U.v. 19.7.2018 – 20 B 18.30800 – juris Rn. 54). Da eine Verletzung des Art. 3 EMRK nur in außergewöhnlichen Fällen angenommen werden kann, ist ein sehr hoher Gefährdungsgrad zu fordern (BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris Rn. 19), allerdings keine Extremgefahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (BayVGH, U.v. 21.11.2018 – 13a B 18.30632 – juris Rn. 27; BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 13). Im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich aber auch ausreichend ist daher die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung (BayVGH, U.v. 21.11.2018 – 13a B 18.30632 – juris Rn. 28).
158
Eritrea ist eines der ärmsten Länder der Welt, in dem die Versorgungslage für weite Teile der Bevölkerung schwierig ist. Die Nahrungsmittelpreise vor allem auch für Grundnahrungsmittel sind seit 2008 massiv angestiegen. Nach der Öffnung der eritreisch-äthiopischen Grenze im September 2018 kam es zu umfangreichen Einfuhren und deutlichen Preissenkungen bei Nahrungsmitteln, nach der Schließung der Grenze im April 2019 stiegen die Preise wieder an. Auch die im November 2021 eingeführten US-Sanktionen gegen Eritrea führten zu Preissteigerungen (AA, Lagebericht vom 3.1.2022 (Stand: November 2021), S. 20 f.). Die Regierung bemüht sich, die Versorgung mit Nahrungsmitteln durch Rationierung und Bezugsscheine sicherzustellen. Allerdings haben Rückkehrende in der Regel zumindest anfangs keinen Zugang zu Lebensmittel-Bezugsscheinen (AA, Lagebericht vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 18). Internationale Organisationen wie FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der VN) haben nicht immer Zugang zu ländlichen Gebieten, da sie nicht jederzeit eine Reisegenehmigung erhalten. Die Informationslage ist daher schwierig. Der Welthungerindex hat Eritrea auch im Jahr 2024 aufgrund mangelnder Informationen nicht in den Index aufnahmen können (https://www.globalhungerindex.org/de/2024/eritrea.html). Es gibt jedoch Hinweise auf Nahrungsmittelengpässe und einen Anstieg der Mangelernährung bei Kindern (UNICEF, Appeal Eritrea 2023, https://www.unicef.org/media/131891/file/2023-HAC-Eritrea.pdf, S. 2). Problematisch ist die Behinderung des Zugangs zu unabhängiger humanitärer Hilfe und Hilfsorganisationen durch die eritreische Regierung (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 42; AA, Lagebericht vom 3.1.2022 (Stand: November 2021), S. 20 f.). In einer IOM-Umfrage gaben 77% der im Sudan befragten Eritreer ihr geringes Einkommen und die daraus resultierenden Schwierigkeiten, die Familie zu versorgen, als ein Grund für das illegale Verlassen des Landes an (AA, Lagebericht vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 18). Laut der bisher letzten offiziellen Veröffentlichung aus dem Jahr 2004 waren 66% der Bevölkerung arm, von denen 37% unterhalb der Armutsgrenze lebten (Gebremichael Kibreab Habtom, International Journal of Scientific and Management Research Vol. 5 Issue 1 Januar 2022, S. 110 -144 (123)). Im Human Development Index (HDI) 2023 des UNDP nimmt Eritrea den 178. Rang von insgesamt 193 Ländern ein, gleichbedeutend mit einer niedrigen Klassifizierung menschlicher Entwicklung. In städtischen Gebieten haben grundsätzlich alle sozialen Gruppen gleichen Zugang zu den begrenzten staatlichen Dienstleistungen, einschließlich der Grundversorgung, Bildung und Lebensmittelcoupons (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, Gesamtaktualisierung am 26.2.2019, S.26). Der Staat verfügt über kein soziales Netz, das Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter oder Behinderungen abdeckt. Eine Ausnahme bleibt der Märtyrer-Treuhandfonds, der Geld von der eritreischen Diaspora zugunsten von Angehörigen von Kämpfern und getöteten Soldaten sammelt. Die Bereitstellung sozialer Sicherheit bleibt traditionellen Solidaritätsnetzen überlassen, die auf Clan- und Großfamilienstrukturen basieren (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 43). Insgesamt zeigt sich, dass die Situation für große Teile der Bevölkerung schwierig ist.
159
Andererseits gab es zuletzt Hinweise, dass aufgrund ausreichender Niederschläge die Ernte 2024 in Eritrea sehr gut ausgefallen sei und sich die Versorgungslage weiter verbessern werde (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea (Stand: August 2024), S. 6). Die FAO berichtet, dass die Regensaison, die sich in Eritrea üblicherweise von Ende Juni bis September zieht, im Jahr 2024 schon im Juni früh begann und es auch in Juli und August überdurchschnittlich viel Regen gab (FAO, Country Briefs, Eritrea, 16.9.2024, https://www.fao.org/giews/countrybrief/country.jsp?code=ERI). Der übermäßige Regen habe einen positiven Effekt auf die Entwicklung der Ernte im Jahr 2024.
160
Allerdings lassen sich hieraus keine stichhaltigen Schlüsse hinsichtlich der Versorgungssituation im Jahr 2025 ziehen. Ob die Ernte tatsächlich so gut ausgefallen ist, wie im September 2024 vorhergesehen und ob sich die potentiell bessere Ernte auch spürbar auf die Versorgungslage der Bevölkerung ausgewirkt hat, bleibt ungewiss. Dies gilt umso mehr als zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt etwa ein halbes Jahr seit der Ernte vergangen ist. Neuere Informationen liegen aufgrund der beschriebenen undurchsichtigen Lage in Eritrea nicht vor. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, dass die Lebensmittelversorgung in Eritrea stark von Wetterereignissen abhängig ist und bei den aktuellen Bedingungen bereits jetzt schon aufgrund von Dürren, Schwund von Anbauflächen, Überweidung, Bodenerosion, Desertifikation und dem Mangel an Bauern und Arbeitskräften, die an die Rekrutierung in den Nationaldienst verloren gehen, nicht den Bedürfnissen der Bevölkerung genügt (USA, CIA, the world factbook, Eritrea, 20.6.2024, S. 3). Der Mangel an Nahrungsmitteln wird verstärkt durch unzureichende Nahrungsmittelimporte und der Fokus staatlicher Gelder in den Verteidigungssektor. Ein entscheidender Faktor in diesem Zusammenhang ist also die klimatische Lage und damit auch der globale Klimawandel. Die allgemeine Erwärmung des Erdklimas sowie die deswegen gehäuft auftretenden außerordentlichen Wettereignisse, wie Dürren oder Starkregen, tragen zur Unberechenbarkeit und Anfälligkeit der Lebensmittelversorgung bei (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Eritrea, Gesamtaktualisierung am 2.1.2024, S. 42; Worldbank Macro Poverty Outlook, April 2025, https://thedocs.worldbank.org/en/doc/bae48ff2fefc5a8…35-0500062021/related/mpo-eri.pdf; UNICEF, Appeal Eritrea 2023, https://www.unicef.org/media/131891/file/2023-HAC-Eritrea.pdf, S. 1).
161
In diesem Zusammenhang ist auch zu betonen, wie stark sich die Praxis der Zwangsrekrutierung weiter Bevölkerungsteile in den Nationaldienst auf die Wirtschafts- und Versorgungslage in Eritrea sowie die individuelle finanzielle Situation von eritreischen Familien auswirkt (vgl. Bertelsmann Institute (BTI) 2024 Country Report Eritrea, S. 4, 6, 13, 14, 16, 20, 22). Denn zum einen verliert der Arbeitsmarkt an Arbeitskräften und fehlt es insbesondere an Bauern und Landwirten, die wichtig für die Lebensmittelversorgung sind (vgl. BTI 2024 Country Report Eritrea, S. 4, 14, 16; USA, CIA, the world factbook, Eritrea, 20.6.2024, S. 3). Zum anderen führt die Einberufung und die jahrelange Verpflichtung zahlreicher junger Menschen im Rahmen des Nationaldienstes dazu, dass die Betroffenen und ihre von ihnen finanziell abhängigen Familienmitglieder mit der äußerst geringen Besoldung der Nationaldienstleistenden auskommen müssen (vgl. BTI 2024 Country Report Eritrea, S. 6, 13, 14, 20, 22). Diese genügt in vielen Fällen nicht ansatzweise für die Versorgung einer Familie. Und aufgrund der Dienstpflicht, steht es den Eingezogenen auch nicht frei, sich eine lukrativere Beschäftigung zu suchen oder einem (legalen) Nebenerwerb nachzugehen. Weiterhin zu beachten ist hierbei, dass sich aktuell ein erheblicher Anstieg der Mobilisierung und Rekrutierungen in Eritrea abzeichnet. Nach aktuellen Informationen hat die eritreische Regierung im Februar 2025 alle regionalen Verwaltungseinheiten angewiesen, Bürgerinnen und Bürger unter 60 Jahren zu registrieren und zu mobilisieren. Auslöser für die landesweite Mobilisierung sei das zunehmend angespannte Verhältnis zu Äthiopien (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Briefung Notes, 3.3.2025, S. 2). Bereits in der Vergangenheit haben Konflikte zwischen Eritrea und Äthiopien sowie namentlich der Tigray-Konflikt zu einer Verschärfung der Zwangsrekrutierungen und damit zu einer Destabilisierung von Wirtschaft und Versorgungslage geführt (vgl. BTI 2024 Country Report Eritrea, S. 4, 16). Es ist also mit einer erneuten Verschlechterung zu rechnen.
162
Nach alledem ist zwar (zumindest im Jahr 2024) auf leichte Verbesserungen in der kurzfristigen Entwicklung der Lebensmittelversorgung zu hoffen, diese müssen sich aber nicht zwingend positiv auch auf die Versorgungslage der Bevölkerung umgesetzt haben und selbst wenn, könnte sich der positive Effekt inzwischen bereits wieder verringert oder erledigt haben. Vielmehr ist aktuell und insbesondere auf mittel- und langfristige Sicht mit einer weiteren Verschlechterung der Versorgungssituation in Eritrea zu rechnen, da die zentralen Bereiche der Wirtschaft – insbesondere die Landwirtschaft – erheblich unter den verschärften Bedingungen des fortschreitenden Klimawandels leiden sowie über die verstärkte Einziehung notwendiger Arbeitskräfte.
163
Bei der Beurteilung der Situation von Rückkehrern kommt es jedoch auf die Umstände des Einzelfalles an.
164
Bei der Prognose der Rückkehrsituation ist eine realitätsnahe Rückkehrsituation zu Grunde zu legen. Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist hiernach für die Bildung der Verfolgungsprognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen. Art. 6 GG gewährt zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt, enthält aber als wertentscheidende Grundsatznorm, dass der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, und gebietet die Berücksichtigung bestehender familiärer Bindungen bei staatlichen Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung. Bereits für die Bestimmung der voraussichtlichen Rückkehrsituation ist daher im Grundsatz davon auszugehen, dass ein nach Art. 6 GG/Art. 8 EMRK besonders schutzwürdiger Familienverband aus Eltern mit ihren minderjährigen Kindern nicht aufgelöst oder gar durch staatliche Maßnahmen zwangsweise getrennt wird. Die Mitglieder eines solchen Familienverbandes werden im Regelfall auch tatsächlich bestrebt sein, ihr – grundrechtlich geschütztes – familiäres Zusammenleben in einem Schutz- und Beistandsverband entweder im Bundesgebiet oder im Herkunftsland fortzusetzen (vgl. BVerwG, U. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris). Diese Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose setzt eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden. Von einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband ist für die Rückkehrprognose im Regelfall auch dann auszugehen, wenn einzelnen Familienmitgliedern bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist (vgl. BVerwG, U. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris).
165
Vorliegend ist damit davon auszugehen, dass der Kläger zu 3 im Familienverbund mit seinen Eltern und seiner minderjährigen Schwester (der Klägerin zu 2) zurückkehren würde. Dabei würde dem Vater des Klägers zu 3 die Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung drohen. Gerade wegen dieser Gefahr hat ihm die Beklagte auch einen Schutzstatus gewährt. Die Haftbedingungen in eritreischen Gefängnissen sind zumindest zum Teil unmenschlich hart und lebensbedrohlich (vgl. VG Regensburg, U.v. 22.12.2022 – RN 2 K 22.30590 – S. 19 juris). Zudem gibt es keine rechtsstaatlichen Verfahren und sind eine mehrere Jahre andauernde Inhaftierung oder sogar ein „Verschwindenlassen“ durchaus möglich (vgl. HRC, Situation of human rights in Eritrea 5/2024, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, S. 9; AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea (Stand: August 2024), S. 5, 20 f.). Es wäre also damit zu rechnen, dass der Vater für die Versorgung der Familie dauerhaft nicht zur Verfügung stünde.
166
Eine hinreichende Versorgung der Familie allein durch die Mutter des Klägers zu 3 erscheint unwahrscheinlich, da diese nach ihren eigenen Angaben bei ihrer Anhörung am 12.4.2023 niemals die Schule besucht hat und auch nie einer Arbeitstätigkeit nachgegangen ist. Ihren Angaben zufolge war sie während ihrer Zeit in Eritrea und in Äthiopien stets von der Unterstützung ihres Ehemanns aus dem Ausland abhängig. Die Landwirtschaft der Familie in Eritrea sei nach der Desertion des Vaters vom Staat enteignet worden. Diese Darstellung ist glaubhaft, da es zahlreiche Berichte über vergleichbare Vergeltungsaktionen des eritreischen Staates an den Familien von Deserteuren und Wehrdienstentziehenden gibt (vgl. HRC, Situation of human rights in Eritrea 5/2024, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, S. 8). Nachdem die Familie ihrer Lebensgrundlage entzogen wurde, erscheint eine hinreichende Versorgung nicht mehr gewährleistet.
167
Auch ist nicht damit zu rechnen, dass die ältere Schwester des Klägers zu 3, also die Klägerin zu 2 zur Versorgung der Familie beitragen kann, da ihr – wie bereits ausgeführt – die Einziehung in den militärischen Teil des Nationaldienstes droht. Da den Dienstleistenden im Nationaldienst wie bereits ausgeführt nur eine sehr geringe Vergütung zukommt (das BFA spricht von einem „Hungerlohn“, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 18 und S. 43) und die Familien der Dienstleistenden auch nicht kompensiert werden, wäre eine Unterstützung des Klägers zu 3 sowie seiner Familie von Seiten der Klägerin zu 2 nahezu ausgeschlossen. Mithin wäre es allein an der Mutter des Klägers, für die Familie und insbesondere den minderjährigen Sohn das Existenzminimum zu sichern.
168
Zwar ist davon auszugehen, dass der Kläger zu 3 bzw. seine Mutter nach dem Vortrag in ihrer Anhörung beim Beklagten noch Familie in Eritrea hat. So gab die Mutter des Klägers zu 3 an, dass aktuell noch ihre Eltern und ihre Großfamilie in Eritrea lebten. Gleichwohl geht der zur Entscheidung berufene Einzelrichter vorliegend nicht davon aus, dass die Großeltern der Kläger das Existenzminimum für sich und ihre Kinder und Enkelkinder sichern können, insbesondere in Anbetracht der obigen Ausführungen zur prekären wirtschaftlichen Situation und Versorgungslage in Eritrea. Eine Sicherung der Existenz ergibt sich auch nicht aus etwaigen Rückkehrhilfen. Bei einer Ausreise nach Eritrea wird eine Unterstützung nur im Einzelfall, nicht aber generell gewährt (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/reag-garp/). Es ist daher schon fraglich, ob der Kläger zu 3 bzw. seine Mutter eine Unterstützungsleistung überhaupt erhalten würde. Selbst wenn man unterstellt, dass der Kläger zu 3 bzw. seine Mutter als eritreische Staatsangehörige eine Rückkehrhilfe erhalten können, wäre damit nur ein überschaubarer Zeitraum nach der Rückkehr finanziell abgesichert. Unmittelbar nach Verbrauch der Hilfe ist aus den genannten Gründen davon auszugehen, dass die beachtliche Gefahr einer Verelendung des Klägers zu 3 bzw. der Familie bestünde.
169
Dies zugrunde gelegt ist im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles eine Rückkehr des Klägers zu 3 derzeit nicht zumutbar ist. Mithin liegt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG für den Kläger zu 3 hinsichtlich Eritrea vor.
170
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.
171
Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).