Titel:
Türkei, Kurde, Stattgabe, Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet, Vorbringen mit Belang für internationalen Schutz, erlittene Folter im Jahr 2006 oder 2007 sowie 2016, zwar kein räumlich-zeitlicher Zusammenhang zu Flucht, aber nicht ohne jeglichen Belang im Zusammenhang mit weiteren Gründen, wirtschaftliche Gründe nach Erdbeben sowie Verfolgung durch Kredithaie nicht allein fluchtauslösend, Vermutung aus Vorverfolgung nicht offensichtlich durch stichhaltige Gründe widerlegt, kein Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen, keine sonstigen hinreichend gravierenden Widersprüche und Unstimmigkeiten für Offensichtlichkeitsverdikt
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 30 Abs. 1 Nr. 1
AsylG § 30 Abs. 1 Nr. 2
AsylG § 36 Abs. 4
RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4
Schlagworte:
Türkei, Kurde, Stattgabe, Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet, Vorbringen mit Belang für internationalen Schutz, erlittene Folter im Jahr 2006 oder 2007 sowie 2016, zwar kein räumlich-zeitlicher Zusammenhang zu Flucht, aber nicht ohne jeglichen Belang im Zusammenhang mit weiteren Gründen, wirtschaftliche Gründe nach Erdbeben sowie Verfolgung durch Kredithaie nicht allein fluchtauslösend, Vermutung aus Vorverfolgung nicht offensichtlich durch stichhaltige Gründe widerlegt, kein Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen, keine sonstigen hinreichend gravierenden Widersprüche und Unstimmigkeiten für Offensichtlichkeitsverdikt
Fundstelle:
BeckRS 2025, 16039
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Verfahrens W 8 K 25.32522 gegen die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. Mai 2025 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich gegen den Sofortvollzug der Androhung der Abschiebung in die Türkei infolge der Ablehnung seines Asylantrages durch die Antragsgegnerin als offensichtlich unbegründet.
2
Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und muslimischen Glaubens. Er reiste am 1. Juni 2023 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 14. August 2023 einen Asylantrag. Zur Begründung seines Asylantrages gab er im Wesentlichen an: Er sei seit seiner frühesten Kindheit bis ins Jahr 2022/2023 aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit diskriminiert worden und Opfer von Rassismus gewesen. Im Jahr 2006 oder 2007 sei er von der Polizei festgenommen und gefoltert worden. Er habe durch diese Folter bleibende Schäden an seinem rechten Auge und am rechten Ohr erlitten. Man habe ihn mit Schlagstöcken geschlagen und seinen Kopf unter Wasser gedrückt. Der Grund für die Festnahme und Folter sei gewesen, dass es im Vorfeld zu einem terroristischen Vorfall gekommen sei. Im Jahr 2016 sei er erneut festgenommen worden. Er sei erneut geschlagen worden und seine Lippe sei aufgeplatzt. 2023 sei er erneut festgenommen worden. Er habe auch wirtschaftliche Schwierigkeiten bekommen. Bei dem Erdbeben sei sein Haus zerstört worden. Er habe einen Kredit aufgenommen gehabt, den er nun nicht mehr habe zurückzahlen können. Sie hätten ihm gedroht, ihn zusammenzuschlagen und zu töten.
3
Mit Bescheid vom 30. Mai 2025 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) für die Antragsgegnerin den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf subsidiären Schutz (Nr. 3) als offensichtlich unbegründet ab. Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Die Abschiebung in die Türkei oder einen anderen Staat, in den der Antragsteller einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, wurde angedroht. Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist wurden bis zum Ablauf der Klagefrist und im Falle der fristgerechten Stellung eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage bis zur Bekanntgabe der Ablehnung des Eilantrags durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
4
Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Die Volksgruppe der Kurden sei in der Türkei keiner landesweiten staatlichen Gruppenverfolgung ausgesetzt. Soweit der Antragsteller vortrage, es sei im Rahmen seiner Festnahmen im Jahr 2006 oder 2007 und im Jahr 2016 zu polizeilichen Übergriffen gekommen, bestünden gravierende Zweifel an der Glaubhaftigkeit des Sachvortrags. Dieser sei schlagwortartig und ohne detaillierte Ausführungen wiedergegeben worden. Insgesamt bleibe der Vortrag oberflächlich und vage. Selbst bei der Wahrunterstellung der behaupteten Folter 2006/2007 sei diese nicht ausreiseleitend gewesen. Die letzte geschilderte „Folter“ solle sich im Jahr 2016 ereignet haben, also wiederum gut sieben Jahre vor der Ausreise. Hätte es aktuellere Vorfälle gegeben, so hätte der Antragsteller unschwer davon berichten können. Dies sei eindeutig ein Indiz dafür, dass die behauptete Folter nicht der wahre Grund für die Ausreise gewesen sei. Im Übrigen handele es sich um ein asylrechtlich irrelevantes Überschreiten der Machtbefugnis einzelner Polizeibeamter. Soweit der Antragsteller vorgetragen habe, von Kredithaien bedroht zu werden, habe er diese Furcht vor einem ernsthaften Schaden nicht substantiiert vorgetragen. Er müsse sich insofern auch auf schutzwillige und schutzfähige staatliche Institutionen verweisen lassen. Soweit der Antragsteller befürchte, bei einer Rückkehr gefoltert zu werden, sei zu ergänzen, dass dem Bundesamt keine Anhaltspunkte für systematische Folter in der Türkei vorlägen. Der Asylantrag sei gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG als offensichtlich unbegründet abzulehnen. Nicht von Belang sei ein Vortrag, wenn aus diesem auch bei Wahrunterstellung rechtlich klar kein Schutzstatus nach § 3 oder § 4 AsylG folgen könne. Nach den Angaben des Antragstellers stehe fest, dass dieser aus wirtschaftlichen Gründen im Bundesgebiet sei. Der Antragsteller habe seine prekäre wirtschaftliche Situation und das Erdbeben als Grund für die Ausreise vorgetragen. Des Weiteren bestehe der Verdacht, dass die vorgetragenen asylrelevanten Motive des Antragstellers vorgeschoben seien. Bezüglich der privaten Bedrohungen müsse er in seinem Heimatland Schutz suchen. Auch die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG seien erfüllt. Nach der gesicherten Herkunftslandinformation ist das Vorbringen des Antragstellers offensichtlich falsch, da keine Gruppenverfolgung von Kurden in der Türkei stattfinde.
5
Am 13. Juni 2025 ließ der Antragsteller im Verfahren W 8 K 25.32522 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben und im vorliegenden Sofortverfahren b e a n t r a g e n,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 30. Mai 2025 anzuordnen.
6
Zur Begründung ließ der Antragsteller im Wesentlichen ausführen: Die Ablehnung als offensichtlich unbegründet sei erfolgt, obwohl der Kläger angegeben habe, dass er seit seiner frühesten Jugend aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit ständig diskriminiert und Opfer von Rassismus geworden sei. Gravierender sei noch, dass er im Jahr 2006 oder 2007 festgenommen und gefoltert worden sei. Die Folter habe bleibende Schäden am rechten Ohr und am rechten Auge hinterlassen. Es habe sich dabei um eine schwerwiegende Folter gehandelt, die auch als politische Verfolgung qualifiziert werden müsse. Der Antragsteller müsse als vorverfolgt angesehen werden. Er sei auch 2016 erneut festgenommen und geschlagen worden. Der Antragsteller müsse als Opfer türkischer Sicherheitsbehörden gelten. Er befürchte, dass ihm Ähnliches bei einer Rückkehr in die Türkei drohen könnte. Der Antragsteller habe aber auch ehrlicherweise angegeben, dass es tatsächlich auch andere Gründe, wie dass er sich dem Zugriff von Kredithaien entziehen wolle, gegeben habe. Soweit das Vorbringen des Antragstellers als nicht glaubwürdig qualifiziert sei, hätte der Entscheider nachfragen müssen. Der Antragsteller sei gerade ehrlich, weil er wirtschaftliche Gründe nicht verschwiegen habe. Er hätte auch gegen die damalige Folter der Polizei keine staatlichen Hilfen annehmen können.
7
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der des Klageverfahrens W 8 K 25. 32522) sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
8
Der Antrag, der als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Bezug auf die Abschiebungsandrohung unter Nr. 5 des streitgegenständlichen Bescheids zu verstehen ist (§ 88 VwGO i.V.m. § 122 VwGO), ist zulässig, und begründet.
9
Der Antrag ist zulässig.
10
Der Antrag ist gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 1, § 36 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 VwGO statthaft, soweit er sich gegen die gemäß § 75 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO kraft Gesetzes sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung wendet. Des Weiteren wurden Sofortantrag und Klage innerhalb der Wochenfrist gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG bei Gericht gestellt.
11
Der Antrag ist auch unbegründet.
12
Im Rahmen des Aussetzungsverfahrens nach § 36 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO ordnet das Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der gemäß § 36 Abs. 3, § 75 Abs. 1 AsylG sofort vollziehbaren Abschiebungsandrohung an, wenn das persönliche Interesse des Asylsuchenden, von der sofortigen Aufenthaltsbeendigung vorerst verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an ihrer sofortigen Durchsetzung übersteigt. Dabei darf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG nur bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes erfolgen. „Ernstliche Zweifel“ im Sinne der genannten Vorschrift liegen nur dann vor, wenn erhebliche Gründe dafürsprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166, 189 ff. – juris Rn. 99).
13
Das Gericht darf sich dabei im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht auf eine summarische Prüfung beschränken, wenn dem Antragsteller im Falle der Versagung einstweiligen Rechtsschutzes bereits eine endgültige Verletzung seiner Rechte droht und insoweit auch Grundrechtspositionen von Gewicht in Rede stehen (BVerfG, B.v. 23.7.2020 – 2 BvR 939/20 – juris m.w.N.). Insoweit fordert der effektive Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG, dass sich das Verwaltungsgericht nicht mit einer bloßen Prognose zur voraussichtlichen Richtigkeit des Offensichtlichkeitsurteils begnügen darf, sondern die Frage der Offensichtlichkeit – wenn es sie bejahen will – erschöpfend, wenngleich mit Verbindlichkeit allein für das Eilverfahren klären und insoweit über eine summarische Prüfung hinausgehen muss (BVerfG, B.v. 23.7.2020 – 2 BvR 939/20 – juris; B.v. 25.2.2019 – 2 BvR 1193/18 – juris Rn. 21). Das Verwaltungsgericht muss dabei überprüfen, ob das Bundesamt aufgrund einer umfassenden Würdigung der ihm vorgetragenen oder sonst erkennbaren maßgeblichen Umstände unter Ausschöpfung aller ihm vorliegenden oder zugänglichen Erkenntnismittel entschieden und in der Entscheidung klar zu erkennen gegeben hat, weshalb der Antrag nicht als schlicht unbegründet, sondern als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist, ferner, ob die Ablehnung als offensichtlich unbegründet auch weiterhin Bestand haben kann (BVerfG, B.v. 25.2.2019 – 2 BvR 1193/18 – juris Rn. 21 m.w.N.). Des Weiteren darf die Verneinung relevanter inlandsbezogener Abschiebungshindernisse gemäß § 34 Abs. 1 S. 1 AsylG keinen ernstlichen Zweifel unterliegen.
14
Bei der Prüfung bleiben von den Beteiligten nicht angegebene und nicht gerichtsbekannte Tatsachen und Beweismittel gemäß § 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG unberücksichtigt (BVerfG, B.v. 23.7.2020 – 2 BvR 939/20 – juris). Vorbringen, das nach § 25 Abs. 3 AsylG im Verwaltungsverfahren unberücksichtigt geblieben ist, sowie dort nicht angegebene Tatsachen und Umstände im Sinne des § 25 Abs. 2 AsylG kann das Gericht gemäß § 36 Abs. 4 Satz 3 AsylG unberücksichtigt lassen, wenn anderenfalls die Entscheidung verzögert würde.
15
Gemessen an diesem Maßstab begegnet die Entscheidung des Bundesamtes, den Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen und dem Antragsteller die Abschiebung in die Türkei anzudrohen, ernstlichen Zweifeln.
16
Die Ablehnung als offensichtlich unbegründet lässt sich weder auf § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG noch auf § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG stützen.
17
Nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist ein Offensichtlichkeitsausspruch gerechtfertigt, wenn die Antragsteller im Asylverfahren nur asylfremde Umstände vorgebracht haben, die für die Prüfung des Asylantrages nicht von Belang sind. Nicht von Belang ist ein Vortrag dann, wenn aus diesem auch bei Wahrunterstellung rechtlich klar kein Schutzstatus nach § 3 oder § 4 AsylG folgen kann (Auslegung im Sinne von Art. 31 Abs. 8 lit. a Asylverfahrens-RL 2013/32/EU unter Berücksichtigung des dort explizit genannten Beschleunigungszwecks). Eine asylrechtliche Relevanz ergibt sich dabei auch nicht, wenn offenkundig Möglichkeiten des landesinternen Schutzes oder einer inländische Fluchtalternative (vgl. § 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. §§ 3d und 3e AsylG) bestehen und der Antragsteller sich darauf verweisen lassen muss (VG Köln, B.v. 11.4.2025 – 22 L 856/25.A – juris Rn. 11 ff.; VG Karlsruhe, B.v. 20.2.2025 – A 8 K 190/25 – juris Rn. 17; VG Düsseldorf, B.v. 11.12.2024 – 28 L 3525/24.A – juris Rn. 13 ff., 17; VG Köln, B.v. 12.8.2024 – 22 Lm1505/24.A – juris Rn. 14; VG Augsburg, U.v. 28.6.2024 – Au 6 K 24.30308 – juris Rn. 20 ff., 31 sowie VG Dresden, B.v. 16.4.2024 – 3 L 186/24.A – juris Rn. 20; kritisch VG Düsseldorf, B.v. 18.7.2024 – 7 L 1825/24.A – juris Rn. 28 f.).
18
Auch verfassungsrechtlich ist die Annahme einer offensichtlichen Unbegründetheit nicht zu beanstanden, wenn im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 77 Abs. 1 AsylG) an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Gerichts vernünftigerweise keine Zweifel bestehen können und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung in Rechtsprechung und Lehre die Ablehnung des Antrags geradezu aufdrängt (vgl. BVerfG, B.v. 25.4.2018 – 2 BvR 2435/17 – juris Rn 20).
19
Das Vorbringen des Antragstellers ist danach für die Gewährung internationalen Schutzes nicht offensichtlich ohne Relevanz im Sinne von § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG.
20
Der Antragsteller hat mit seinem individuellen Vortrag – diesen als wahr unterstellt – glaubhaft gemacht, dass ihm in der Türkei in der Vergangenheit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung bzw. ein ernsthafter Schaden gemäß §§ 3 ff., 4 AsylG widerfahren ist, sodass danach zunächst auch die Vermutung gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU dafürspricht, dass dem Antragsteller bei einer Rückkehr erneut Verfolgung droht, ohne dass nunmehr stichhaltige Gründe offenkundig dagegensprechen.
21
Zwar ist Hinblick auf eine etwaige Benachteiligung des Antragstellers wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit darauf hinzuweisen, dass mittlerweile einhellig in der – auch obergerichtlichen – Rechtsprechung anerkannt ist, dass in der Türkei keine Gruppenverfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden droht (vgl. etwa OVG Saarl, B.v. 3.9.2024 – 2 A 63/24 – juris Rn. 22 u. 27; B.v. 8.2.2024 – 2 A 210/22 – juris, Rn. 44; OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 18.4.2024 – OVG 2 B 12/22 VG – juris S. 10 ff.; BayVGH, B.v. 10.2.2020 – 24 ZB 20.30271 – juris Rn. 6, B.v. 26.10.2018 – 9 ZB 18.32578 – juris Rn. 9; SächsOVG, B.v. 28.5.2018 – 3 A 120/18.A – juris Rn. 8; OVG NRW, B.v. 29.7.2014 – 8 A 1678/13.A – juris Rn. 10; VGH BW, U.v. 27.8.2013 – A 12 S 2023/11 – juris Rn. 18 f.).
22
Umfang und Form von Diskriminierung im Einzelfall hängen jedoch wesentlich von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Türkei vom 18.10.2024, S. 220).
23
Ausgehend von diesen Maßstäben hat der Antragsteller individuelle asylrelevante Vorkommnisse in der Türkei geschildert, die sich wie ein roter Faden durch sein Leben ziehen, angefangen durch Benachteiligungen während seiner Kindheit und Schulzeit, die explizite Folter 2006 oder 2007, die bei ihm nachhaltige gesundheitliche Schäden hinterlassen hat, bis hin zu weiteren Schlägen im Jahr 2016 und weitere Repressalien bis kurz vor seiner Ausreise; zuletzt eine Festnahme und zweitägige Ingewahrsamnahme zwei Monate vor seiner Ausreise. Zwar ist durchaus einzuräumen, dass ein räumlich zeitlicher Zusammenhang der Folter im Jahr 2006/2007 bzw. 2016 fehlen mag, so dass die zurückliegende Folter nicht unmittelbar fluchtauslösend war (vgl. auch VG Köln, B.v. 31.1.2025 – 22 L 161/25.A – juris Rn. 21). Jedoch zeichnen die vom Antragsteller geschilderten weiteren individuellen Umstände über die ganzen Jahre hinweg insgesamt ein Bild, bei dem sich bei Wahrunterstellung eine Asylrelevanz nicht einfach von der Hand weisen lässt, so dass sein Vorbringen nicht als belanglos im Sinne von § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG angesehen werden kann. Vielmehr ist bei Wahrunterstellung durchaus möglicherweise ein Anspruch auf Asyl oder auf Zuerkennung internationalen Schutzes nicht ausgeschlossen. Es handelt sich gerade nicht um „asylfremde“ Umstände, so dass sich das Offensichtlichkeitsverdikt nicht aufrechterhalten lässt (VG Köln, U.v. 20.1.2025 – 22 K 2753/24.A – juris Rn. 64).
24
Hinzu kommt, dass bei Wahrunterstellung die Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zu prüfen sein werden, weil der Antragsteller vor seiner Ausreise in Form der Folter einen ernsthaften Schaden erlitten hat, so dass diese daraus resultierende tatsächliche Vermutung nur durch stichhaltige Gründe wiederlegt werden kann, die gegen eine Wiederholung der jeweiligen Gefährdung sprechen. Erforderlich ist ein sachlicher Zusammenhang der Vorschädigung mit der nunmehr behaupteten Bedrohung (vgl. Wittmann in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Decker/Bader/Kothe, 21. Ed., Stand 1.5.2025, § 4 AsylG Rn. 85 ff.). Dieser sachliche Zusammenhang besteht zwar nicht bei den auch fluchtauslösenden wirtschaftlichen Gründen sowie den Bedrohungen durch die Kredithaie, aber durch die befürchteten erneuten Übergriffe seitens der Polizei wegen der kurdischen Volkszugehörigkeit. Dies gilt insbesondere bei der Würdigung im vorliegenden gerichtlichen Eilverfahren, weil bei insoweit unverändert gebliebenen Verhältnissen eine Wiederholung indiziert sein kann, zumal wenn es zu dramatischen Folgen gekommen ist (vgl. Bergmann/Dollinger in Bergmann/Dienelt, AuslR, 15. Aufl. 2025, § 4 AsylG Rn. 22).
25
Ausgehend davon ist eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG nur dann zulässig, wenn – anders wie hier – keinerlei asylrechtlich relevanten Gründen vorgetragen werden, so dass für den gesamten Asylantrag die Annahme einer Belanglosigkeit gestellt werden kann (vgl. Heusch in BeckOK, AuslR, Kluth/Heusch, 44. Edt., Stand 1.4.2025, § 30 AsylG Rn. 15 ff.). Denn § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG greift nur, wenn nach den Umständen des Einzelfalls offensichtlich ist, dass sich der Ausländer „nur“ aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer allgemeinen Notsituation zu entgehen, im Bundesgebiet aufhält, also, wenn er entsprechend des Gesetzeswortlautes „nur“ Umstände vorgebracht hat, die für die Prüfung des Asylantrags nicht von Belang sind. Dies ist aber nicht der Fall, wenn der Antragsteller neben wirtschaftlichen Gründen auch weitere Umstände geltend macht, die die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutz möglicherweise begründen könnten (Blechinger in BeckOK, Migrations- und Integrationsrecht, Decker/Bader/Kothe, 21. Ed., Stand 1.5.2025, § 30 Rn. 22). Letzteres ist explizit der Fall.
26
Insofern ist zu betonen, dass der Antragsteller bei seiner Anhörung ausdrücklich angegeben hat, dass er „neben“ dem Rassismus auch aus wirtschaftlichen Gründen geflohen sei, weil er durch das Erdbeben alles verloren habe. Das sei ein Grund von mehreren gewesen. Der Hauptgrund sei aber der Rassismus gewesen, den er als Kurde erfahren habe. Dann seien das Erdbeben und die Folgen dazu gekommen und er habe seine Schulden bei dem Kredithai nicht mehr begleichen können. Zu seiner Ausreiseentscheidung habe auch die Gewalt, die er erfahren habe, geführt, die bei ihm bis heute bleibende Schäden hinterlassen habe. Damit hat der Antragsteller ausdrücklich auch weitere asylrelevante Gründe benannt. Er hat des Weiteren – wie schon ausgeführt – in seinen Schilderungen von Ausgrenzungen seit seiner frühesten Kindheit berichtet, die bis ins Jahr 2022/2023 gereicht hätten. Er sei schon von den Lehrern ausgegrenzt und geschlagen worden. Als seine Mutter gesundheitliche Probleme gehabt habe, sei der Krankenwagen nicht gekommen, so dass sie gestorben sei, nur, weil er Kurde gewesen sei. Die Polizei habe ihm im Jahr 2006/2007 wegen eines Angriffs, mit dem er nichts zu tun gehabt habe, festgenommen und gefoltert, mit bleibenden Schäden. Benachteiligungen und Übergriffe wegen der kurdischen Volkszugehörigkeit ziehen sich beim Vorbringen des Klägers wie ein roter Faden durch seine Schilderungen, bei denen die Folter nur ein Teil davon ist. Dann habe er nach dem Erdbeben mit dem Verlust der Wohnung in einem Zelt bleiben müssen, weil er Kurde gewesen sei. Alle Erlebnisse über die ganzen Jahre hätten dazu geführt, den Entschluss zu fassen, die Türkei zu verlassen. Der Vorfall 2006 oder 2007 sei nur ein gravierender von vielen gewesen. Er sei 2016 erneut geschlagen worden. Zuletzt sei er ca. zwei Monate vor der Ausreise bei einer Polizeikontrolle festgenommen worden. Sie hätten ihn für zwei Tage in Gewahrsam genommen. Einen Grund dafür habe es überhaupt nicht gegeben. Er befürchte, bei einer Rückkehr von Kredithaien angegriffen und getötet zu werden. Er befürchte aber auch, erneut dem geschilderten Rassismus ausgesetzt zu sein. Die Polizei werde ihn am Flughafen in Empfang nehmen, weil er aus dem Land geflüchtet sei.
27
Der Bevollmächtigte des Antragstellers hat dazu ergänzt, dass die erlittenen Folterungen als politische Verfolgung qualifiziert werden müssten.
28
Des Weiteren liegt auch kein Fall des § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor. Die Angaben des Antragstellers sind weder eindeutig unstimmig und widersprüchlich noch eindeutig falsch. Es handelt sich auch nicht um offensichtlich unwahrscheinliche Angaben, die im Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen stehen (vgl. auch VG Bremen, B.v. 1.4.2025 – 2 V 454/25 – juris Rn. 28). Denn das Bundesamt hat, wie auch der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers angegeben hat, als Gegenargument gegen die Glaubhaftigkeit des Sachvortrags des Antragstellers lediglich ausgeführt, die Ausführungen seien schlagwortartig und nicht detailliert wiedergegeben. Der Vortrag sei oberflächlich und vage. Diese kurze Argumentation reicht nicht aus, um den erforderlichen Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gerecht zu werden. Vielmehr müsste das Vorbringen „qualifiziert bemakelt“ sein. Denn das Erfordernis der Eindeutigkeit bzw. Offensichtlichkeit verlangt, dass an der Unstimmigkeit, der Widersprüchlichkeit, der Falschheit oder Unwahrscheinlichkeit der Angaben des Ausländers keinerlei vernünftige Zweifel bestehen. Dasselbe gilt auch für eindeutig falsche oder offensichtlich unwahrscheinliche Angaben. Es genügt nicht, wenn einzelne Sachangaben nicht besonders wahrscheinlich erscheinen. Auch eine bloß unzureichende Substantiierung trägt nicht das Offensichtlichkeitsverdikt. Die Unstimmigkeiten, Widersprüchlichkeiten bzw. die eindeutig falschen oder offensichtlich unwahrscheinlichen Angaben müssen so gravierend sein, dass diese jedem mit der Situation vertrauten Betrachter sofort ins Auge springen (vgl. Heusch in BeckOK, AuslR, Kluth/Heusch, 44. Edt., Stand 1.4.2025, § 30 AsylG Rn. 20 ff. m.w.N.). Nur wenn die Schilderungen des Geschehensablaufes an offenkundigen, gravierenden inneren Widersprüchen leiden und in sich überhaupt nicht schlüssig sind, tragen sie das Offensichtlichkeitsurteil. Allein ein Widerspruch führt noch nicht insgesamt zu einem widersprüchlichen Vortrag, der das Offensichtlichkeitsurteil trägt (Blechinger in BeckOK, Migrations- und Integrationsrecht, Decker/Bader/Kothe, 21. Ed., Stand 1.5.2025, § 30 Rn. 26 ff.). Ausgehend von diesen Vorgaben, fehlt es im streitgegenständlichen Bescheid an einer substanziierten nachvollziehbaren Begründung, die das Offensichtlichkeitsverdikt tragen könnte, und auch sonst ist nichts für einen betreffenden Offensichtlichkeitsgrund ersichtlich.
29
Soweit im streitgegenständlichen Bescheid weiter ausgeführt ist, dass es nach gesicherten Herkunftslandinformationen offensichtlich falsch ist, dass eine Gruppenverfolgung von Kurden in der Türkei stattfindet, geht diese Begründung ebenfalls an der Sache vorbei. Denn der Antragsteller hat sich nicht allein allgemein auf eine Gruppenverfolgung bezogen, sondern über nahezu sein ganzes Leben hinweg individuelle Umstände auf sich und seine Familie bezogen vorgebracht sowie individuell erfahrene Diskriminierungen und Repressalien geschildert. Der Umstand, dass nach herrschender Meinung keine Gruppenverfolgung von Kurden in der Türkei stattfinde, rechtfertigt für sich nicht den Offensichtlichkeitsausspruch. Soweit der Antragsteller neben seinen Diskriminierungen und erlittenen Erfahrungen, auch Foltererfahrungen, als Kurde, auch wirtschaftliche Gründe sowie die Bedrohung durch Kredithaie anführt, macht er seinen Vortrag nicht unstimmig oder widersprüchlich oder eindeutig falsch, sondern er hat nur – durchaus realitätsnah – weitere Gründe vorgebracht, die ihn zusätzlich zum Verlassen der Türkei bewogen haben. Indem der Antragsteller so ein Bündel von Motiven für seine Ausreise vorbringt, erweckte er damit gerade nicht den Eindruck, etwas weglassen zu wollen, sondern im Gegenteil den Eindruck, insoweit vollständig und damit auch aufrichtig vorzutragen, zumal die betreffenden Aussagen auch auf konkrete Nachfragen bei der Bundesamtsanhörung beruhen.
30
Zudem hat die Antragsgegnerin überhaupt nicht dargelegt, welche Angaben des Antragstellers konkret gegen welche konkreten Herkunftslandinformation verstoßen sollten. Eine schlichte dahingehende allgemeine Behauptung seitens der Antragsgegnerin genügt nicht für einen Offensichtlichkeitsausspruch.
31
Angesichts der vorliegenden ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheides, insbesondere hinsichtlich seines Offensichtlichkeitsausspruches, überwiegt das Interesse des Antragstellers, jedenfalls bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache von einer Abschiebung in die Türkei verschont zu bleiben.
32
Die Kostenentscheidung in dem nach § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahren folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.