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VG Würzburg, Urteil v. 05.05.2025 – W 7 K 24.32440
Titel:

Asyl Türkei, Strafverfolgung, Abschiebungsandrohung, Kindeswohl

Normenketten:
AsylG § 3
AsylG § 34 Abs. 1 Nr. 4
Schlagworte:
Asyl Türkei, Strafverfolgung, Abschiebungsandrohung, Kindeswohl
Fundstelle:
BeckRS 2025, 16029

Tenor

I.Ziffern 5 und 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. November 2024 werden aufgehoben.
II.Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III.Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens zu 4/5, die Beklagte zu 1/5. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV.Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.  

Tatbestand

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Der Kläger ist ein am 29. August 1987 in Şırnak geborener türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste erstmals im Oktober 2023 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein, nachdem er die Türkei mit dem Flugzeug verlassen hatte, und beantragte Asyl. In Deutschland hat er nach eigenen Angaben keine Verwandten. Seine Ehefrau und seine Tochter sowie weitere Familienangehörige leben in der Türkei. Nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung ist er am 1. April 2025 Vater eines in Deutschland geborenen Sohnes geworden, dessen Mutter eine am 12. Januar 1988 geborene ukrainische Staatsangehörige ist.
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1. Bei seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 19. März 2024 gab der Kläger im Wesentlichen an, bis zur Ausreise habe er mit seiner Frau und seiner Tochter in Cizre gelebt. Nach Deutschland sei er gekommen, weil es gegen ihn einen Haftbefehl für zwölf Monate gebe. Er habe aber keine Unterlagen dazu und auch keinen Zugriff auf E-Devlet. Die Polizei sei eines Tages in sein Geschäft gekommen. Man habe ihn gefragt, was er arbeiten würde, und einer der Polizisten habe ihn geschlagen und zum Revier gebracht. Deswegen habe er zwölf Monate Haft bekommen. Ihm sei vorgeworfen worden, er habe den Polizisten auch geschlagen. Er habe aber gar nichts gemacht. Er habe ihn nur kritisiert. Das sei drei oder vier Monate vor der Ausreise gewesen. Er habe Post bekommen. Dort habe gestanden, dass er zwölf Monate Haft bekomme. Den Rucksack mit den Unterlagen habe er verloren. Er habe auch nicht versucht, sich gegen die Entscheidung zu wehren, sondern die Türkei verlassen. Dies sei innerhalb einer Frist von einem Monat, binnen derer man zu Gericht gehen könne, noch möglich. Wenn er jetzt zu Gericht gehen würde, würden sie ihn verhaften. Zudem bestehe seit 2011 ein großer Druck auf die Kurden in Cizre und Diyarbakir. Sein Vater habe 2015 die YPG in Syrien als LKW-Fahrer unterstützt und Fotos auf Facebook geteilt. Die Polizei habe nach dem zwischenzeitlichen Tod des Vaters auch die Wohnung des Klägers durchsucht, da er das älteste Kind sei. Immer wieder habe die Polizei ihn als LKW-Fahrer kontrolliert, als er in Cizre ein Internetcafé eröffnet habe, sei dieses durchsucht worden. Er sei gezwungen gewesen, das Geschäft zu schließen und habe dann als Makler gearbeitet. 2015 seien viele Häuser bombardiert und auch seine Wohnung zerstört worden. Das habe sich sehr schlecht auf seine Psyche ausgewirkt. 2016 habe er auch für sechs Monate in Istanbul gearbeitet. In der Türkei sei aber das älteste Kind für die Familie verantwortlich, die er nicht habe zurücklassen können. Es gehe auch um die Familie des Bruders.
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2. Mit Bescheid vom 13. November 2024, dem Kläger am 20. November 2024 zugestellt, lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), auf Asylanerkennung (Ziffer 2) und auf subsidiären Schutz (Ziffer 3) ab. Ziffer 4 stellte fest, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen. Das Bundesamt forderte den Kläger unter Androhung der Abschiebung in die Türkei oder einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, zur Ausreise binnen 30 Tagen nach Unanfechtbarkeit des Bescheids auf (Ziffer 5). Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG wurde angeordnet und auf 30 Monate befristet (Ziffer 6).
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen angeführt, dem Vortrag des Klägers sei keine schutzrelevante Verfolgung zu entnehmen. Er sei nicht vorverfolgt aus der Türkei ausgereist. Die Hausdurchsuchungen und Verbringungen auf das Polizeirevier erreichten keine asylerhebliche Eingriffsintensität. Dass er einen Haftbefehl mit einer zwölfmonatigen Haftstrafe bekommen habe, sei nicht glaubhaft. Weder das Vorbringen noch die Art des Verlusts der Unterlagen seien glaubhaft. Später habe er außerdem als Hauptgrund seiner Ausreise die Zerstörung der Wohnung im Jahr 2015 angegeben und sei auf den Haftbefehl nicht mehr eingegangen. Eine landesweite Gruppenverfolgung der kurdischen Minderheit gebe es in der Türkei nicht. Auch Gründe für die Gewährung subsidiären Schutzes oder die Feststellung eines Abschiebungsverbots gebe es nicht. Insbesondere könne eine psychische Erkrankung auch in der Türkei behandelt werden. Die Abschiebungsandrohung stütze sich auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Es gebe keine Kindeswohlbelange oder gesundheitliche Gründe, die einer Abschiebung entgegenstünden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot sei auf 30 Monate befristet worden, nachdem es keine Anhaltspunkte gebe, die eine andere Fristlänge rechtfertigen würden.
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3. Dagegen ließ der Kläger am 28. November 2024 Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg erheben und sinngemäß beantragen,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 13. November 2024 zu verpflichten,
1.
dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen bzw. ihn als Asylberechtigten anzuerkennen,
2.
hilfsweise dem Kläger subsidiären Schutz zu gewähren,
3.
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote eingreifen, Zur Begründung wurde im Wesentlichen angegeben, der Kläger sei durch seine HDP-Mitgliedschaft und die Tätigkeit des Vaters für die YPG ins Visier der Sicherheitskräfte geraten. Kurz vor der Flucht sei die Polizei ins Geschäft des Klägers gekommen und habe ihn geschlagen. Dieser Sachverhalt sei umgedreht und dem Kläger vorgeworfen worden, die Polizisten geschlagen zu haben. Deshalb sei ihm Haft angedroht worden. Vermeintliche Widersprüche seien mit sprachlichen Problemen zu begründen. Zudem habe es 2015 in Cizre Kämpfe des türkischen Militärs gegen kurdische Zivilisten gegeben. Hierzu wurden Fotos übersendet.
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Prozesskostenhilfe wurde beantragt, die angekündigten Unterlagen über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse wurden allerdings nicht nachgereicht.
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4. Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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5. Mit Beschluss vom 24. April 2025 hat die Kammer den Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Einen Antrag im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (W 7 S 24.32441) hat der Kläger auf den Hinweis, die Klage entfalte bereits aufschiebende Wirkung, zurückgenommen, sodass das Verfahren mit Beschluss vom 3. Dezember 2024 eingestellt wurde. Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Bundesamtsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage, über die der Einzelrichter gemäß § 102 Abs. 2 VwGO auch in Abwesenheit der ordnungsgemäß geladenen Beklagten verhandeln und entscheiden konnte, hat in der Sache lediglich im tenorierten Umfang Erfolg (2.). Der Bescheid erweist sich im Übrigen als rechtmäßig und verletzt den Kläger in der Folge nicht in seinen Rechten, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO (1.).
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1. Die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz bzw. grundgesetzliches Asyl sowie auf subsidiären Schutz und die Feststellung von Abschiebungsverboten (Ziffern 1- 4 des streitgegenständlichen Bescheids) erweist sich als rechtmäßig. Das Gericht folgt insoweit den Feststellungen und der Begründung im angefochtenen Bescheid und macht sich diese zu eigen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird von einer nochmaligen vollständigen Darstellung abgesehen (§ 77 Abs. 3 AsylG).
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Als Fluchtgrund hat der Kläger im Verwaltungsverfahren und in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen angegeben, gegen ihn sei ein Haftbefehl ergangen. Er müsse wegen eines behaupteten Angriffs auf Polizisten für zwölf Monate in Haft, obwohl er diese Tat nicht begangen habe (a). Außerdem hat er Wohnungsdurchsuchungen und Polizeikontrollen wegen der früheren Tätigkeit seines Vaters für die YPG in Syrien (b), seine frühere HDP-Mitgliedschaft (c) und private Diskriminierungen bei seiner Arbeit in Adana, Izmir, Istanbul, Antalya und seiner Heimatstadt Cizre (d) sowie die Zerstörung seiner Wohnung im Jahr 2015 als Fluchtgründe angegeben (e).
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Gründe für die Zuerkennung internationalen Schutzes, eine Asylanerkennung oder ein Abschiebungsverbot (Ziffern 1 -4 des Bescheids) ergeben sich hieraus nicht. Dazu wird ergänzend das Folgende ausgeführt:
a) Unabhängig davon, ob der vom Kläger vorgebrachte Haftbefehl im Zusammenhang mit einem ihm fälschlich unterstellten Angriff auf Polizeibeamte – seine Echtheit angenommen – zur Asylberechtigung bzw. zur Zuerkennung internationalen Schutzes führen kann, oder ob der Kläger sich gegen die Vorwürfe auch in der Türkei hätte zur Wehr setzen können, ist zur Überzeugung des Einzelrichters nicht davon auszugehen, dass ein solcher Haftbefehl sowie die behauptete Verurteilung zu einer Haftstrafe von zwölf Monaten tatsächlich existieren. Die Angaben des Klägers, er habe gerichtliche Schreiben lediglich in Papierform erhalten, sie auf der Flucht verloren und nun keine Möglichkeit, die Entscheidung erneut zu erhalten, stehen im Widerspruch zu den gesicherten Herkunftslandinformationen. Der Vortrag kann daher insgesamt nicht geglaubt werden. Laut dem „Merkblatt E-Devlet“ ist die Registrierung zum E-Devlet-System auch aus dem Ausland über eine türkische Auslandsvertretung möglich. Hierüber kann auch Zugriff auf das UYAP-System genommen werden, um gerichtliche Entscheidungen abzurufen. Demnach ist es auch möglich, ein altes Passwort zu E-Devlet über das Internetbanking einer türkischen Bank zurückzusetzen. Ebenso möglich ist es demnach, Entscheidungen durch Bevollmächtigung eines türkischen Rechtsanwalts über das UYAP-Rechtsanwaltsportal abzurufen (siehe insgesamt AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage v. 20.5.2024, S. 26 ff.). Alle diese Möglichkeiten hätten dem Kläger, der sich seit Oktober 2023 in Deutschland befindet, offen gestanden, sodass auch die Setzung einer neuen Frist zur Informationsbeschaffung – nach Ablauf der mit der Ladung gesetzten Frist nach § 87b VwGO – nicht prozessfördernd gewesen wäre. Denn es drängt sich in einer Zusammenschau sämtlicher Umstände auf, dass der Vortrag des Klägers zum Haftbefehl nicht der Wahrheit entspricht.
b) Die Wohnungsdurchsuchungen und Polizeikontrollen, die der Kläger mit den früheren Aktivitäten seines Vaters in Syrien erklärt, führen ebenfalls nicht zu einer stattgebenden Entscheidung. Es handelt sich um Maßnahmen, die zur Überzeugung des Einzelrichters nicht das Maß flüchtlingsrelevanter Verfolgung bzw. eines ernsthaften Schadens erreichen. Der Kläger trägt vor, er sei immer auf die Wache mitgenommen worden, wenn man bei Kontrollen außerhalb Cizres seinen Geburtsort gesehen habe. Einmal habe man ihm gesagt: „Du kannst auch in Cizre arbeiten und die PKK kann für euch sorgen und euch Arbeit geben.“ Dass ein solcher Vorhalt beleidigend ist, ist unbestritten. Selbst wenn man mehrere solcher Vorfälle, die der Kläger als Grund für mehrere Berufswechsel angibt, aber nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG kumuliert betrachtet, kann in den beschriebenen Belästigungen aber keine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte gesehen werden, wie sie im Ergebnis nicht nur für den Flüchtlingsschutz, sondern auch für die Annahme eines ernsthaften Schadens nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erforderlich wäre.
c) Auch die frühere HDP-Mitgliedschaft des Klägers führt nicht zu einer stattgebenden Entscheidung. Zwar steht es mit den in das Verfahren einbezogenen Erkenntnismitteln im Einklang, dass auch aktuell Parlamentarier, Funktionäre und Mandatsträger der HDP in der Türkei verschiedenen Repressionen ausgesetzt sind. Gleichzeitig ist allein die Mitgliedschaft in der HDP kein Grund zur Ergreifung strafrechtlicher Maßnahmen in der Türkei (AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage v. 20.5.2024, S. 7). Als mittlerweile ausgetretenes einfaches Parteimitglied hat der Kläger daher auch auf Grundlage seiner früheren Mitgliedschaft keine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden zu befürchten.
d) Die vorgebrachten Diskriminierungen in Adana, Izmir, Istanbul und Antalya durch Privatpersonen, etwa seinen Arbeitgeber, der dem Kläger Lohn vorenthalten wollte, begründen keinen Schutzstatus. Vielmehr beschränkt sich der Vortrag des Klägers in diesem Zusammenhang auf Benachteiligungen wegen seiner kurdischen Identität, die gerade nicht auf ihn persönlich abzielen. Soweit der Kläger die Benachteiligung als Kurde geltend macht, ist festzuhalten, dass Diskriminierungen im Alltag, denen kurdische Volkszugehörige in der Türkei ausweislich der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel ausgesetzt sein können, nicht das Maß einer Gruppenverfolgung i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG erreichen (SächsOVG, U.v. 6.3.2024 – 5 A 3/20.A – juris Ls. 1 und Rn. 41 ff. m.w.N.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 20.5.2024, S. 10). Kurdische Volkszugehörige in der Türkei sind zwar mitunter diskriminierendem Verhalten im Alltag ausgesetzt. Daraus folgt derzeit und in überschaubarer Zukunft jedoch keine an ihre Volkszugehörigkeit anknüpfende gruppengerichtete Verfolgung. Es fehlt insoweit – auch wenn vereinzelt durchaus von schweren Gewalttaten i.S.v. § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG berichtet wird – unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnismittel jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. zur Gruppenverfolgung BVerfG, B.v. 23.1.1991 – 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 – BVerfGE 83, 216 m.w.N.; BVerwG, B.v. 24.2.2015 – 1 B 31/14 – juris). Selbst wenn man in der Türkei beobachtete diskriminierende Verhaltensweisen gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG kumuliert betrachtet, ergibt sich daraus nicht, dass jedem kurdischen Volkszugehörigen in der Türkei einzig aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Angaben des Klägers zu seinem individuellen Verfolgungsschicksal.
e) Die vorgebrachte Zerstörung der Wohnung des Klägers im Jahr 2015, die nahezu zehn Jahre vor der Ausreise erfolgte, war offensichtlich nicht fluchtauslösend, sodass sie nicht zu einem Schutzstatus führt. Zudem ist nicht ersichtlich, dass sich diese Ausnahmesituation in absehbarer Zeit wiederholen könnte, sodass selbst bei Wahrunterstellung und Annahme einer Vorverfolgung i.S.d. Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie stichhaltige Gründe gegen eine Wiederholung sprechen.
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2. Die Klage hat hingegen Erfolg, soweit der Kläger die Aufhebung der Ziffern 5 und 6 des Bescheides des Bundesamtes vom 13. November 2024 begehrt. Ziffer 5 des Bescheides enthält eine Ausreiseaufforderung in Verbindung mit einer Abschiebungsandrohung in die Türkei oder in einen anderen Staat, Ziffer 6 des Bescheids enthält ein auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG Ziffer 5 des angefochtenen Bescheides ist aufzuheben, weil die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung in die Türkei rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Denn die Beklagte hat bei dieser Entscheidung das Wohl des Klägers und seines nach Bescheiderlass in Deutschland geborenen Kindes mit ukrainischer Staatsangehörigkeit nicht angemessen berücksichtigen können. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung erweist sich Ziffer 5 daher als rechtswidrig.
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Durch das Gesetz zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz vom 21.2.2024 – BGBl. I Nr. 54) hat der Gesetzgeber § 34 AsylG geändert. Nach dessen Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 erlässt das Bundesamt eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen. Mit § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG werden die Anforderungen des Art. 5 Rückführungsrichtlinie in das nationale Recht übernommen, der verlangt, dass bei Erlass einer Rückkehrentscheidung die dort genannten Belange gebührend berücksichtigt werden (EuGH, U.v. 14.1.2021 – 4 C-441/19 – juris Rn. 60; EuGH, U.v. 8.5.2018 – C-82/16 – juris Rn. 102; EuGH, U.v. 11.12.2014 – C-249/13 – juris Rn. 48).
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Damit hat das Bundesamt als die für die Abschiebungsandrohung gemäß § 34 AsylG zuständige Behörde die in § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG genannten Belange und ihr Gewicht bei Erlass der Abschiebungsandrohung zu prüfen. Im Rahmen der Kontrolle haben die Verwaltungsgerichte im maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Entscheidung nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG das Vorliegen von (möglicherweise auch erst nach Erlass der Androhung entstandenen) Belangen zu prüfen und eine eigene Abwägung vorzunehmen. Insoweit müssen die Gerichte „durchentscheiden“. Es kommt hingegen nicht in Betracht, die Abschiebungsandrohung wegen Ermessensausfall allein deshalb aufzuheben, weil das Bundesamt in seinem Bescheid gar keine Prüfung der Belange vorgenommen hat (BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – juris Rn. 41).
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Dem Erlass der Abschiebungsandrohung steht das Wohl des nachgeborenen Kindes und dessen familiäre Bindung zum Kläger entgegen. Der Kläger lebt, wie er durch die als Anlage zu Protokoll genommenen Meldebestätigungen untermauert hat, mit seiner ukrainischen Partnerin und dem am 1. April 2025 geborenen gemeinsamen Kind in familiärer Lebensgemeinschaft. Der Klägerbevollmächtigte hat in der mündlichen Verhandlung anwaltlich versichert, dass die Familie am Verhandlungstag geschlossen in seinen Kanzleiräumen vorstellig geworden ist. Es wurden ein am selben Tag vom Klägerbevollmächtigten angefertigtes Foto sowie eine Bescheinigung über den geplanten Entbindungstermin per Kaiserschnitt am 1. April 2025 und eine mit einem Klinikstempel versehene und unterschriebene Geburtsanzeige an das Standesamt Haßfurt über die Geburt an diesem Tag übermittelt.
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Auf dieser Grundlage geht der Einzelrichter davon aus, dass am 1. April 2025 tatsächlich ein Kind des Klägers und seiner ukrainischen Partnerin geboren ist und dieses in schützenswerter familiärer Lebensgemeinschaft mit seinen Eltern lebt. Die Abschiebung des Klägers würde diese gelebte familiäre Gemeinschaft unzumutbar beeinträchtigen.
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Die Abschiebungsandrohung kann auch nicht mit der Erwägung aufrechterhalten werden, der Kläger könne den Nachzug zu seiner im Bundesgebiet lebenden Familie im Visumverfahren von der Türkei aus erwirken.
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Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (vgl. insgesamt BVerfG B. v. 2.11.2023 – 2 BvR 441/23, BeckRS 2023, 33162). Die Lebensgemeinschaft der Familie kann hier lediglich in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden. Allein der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Seine Partnerin und das Kind sind ukrainische Staatsangehörige und daher derzeit nach § 24 AufenthG in Deutschland aufenthaltsberechtigt. Im Fall einer Verweisung auf das Visumverfahren ist eine Prognose darüber anzustellen, welchen Trennungszeitraum der Betroffene realistischerweise zu erwarten hat, um in einem nächsten Schritt prüfen zu können, ob eine ggf. ermittelte vorübergehende Trennung aus Sicht des betroffenen Kindes zumutbar ist (BVerfG B. v. 2.11.2023 – 2 BvR 441/23, BeckRS 2023, 33162 Rn. 23). Diese Prognose ist hier nicht möglich. Denn der Familiennachzug bei vorübergehendem Schutz setzt nach § 29 Abs. 4 Satz 1 AufenthG voraus, dass die Lebensgemeinschaft der Familie bereits in der Ukraine bestanden hat, was nicht der Fall ist. Deshalb bleiben lediglich §§ 29 Abs. 4 Satz 2, 36 AufenthG als mögliche Anspruchsgrundlagen für eine im Visumverfahren zu erlangende Aufenthaltserlaubnis. Nach § 36 Abs. 1 AufenthG befindet sich allerdings die personensorgeberechtigte Mutter des Kindes in Deutschland. Eine außergewöhnliche Härte nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist zumindest nicht mit der für eine Verweisung auf das Visumverfahren erforderlichen Sicherheit auszumachen. Eine Prognose, wonach sich die Trennung der Familie bei einem Verweis auf das Visumverfahren als lediglich vorübergehend darstellen würde, ist vor diesem Hintergrund nicht möglich. Zur Wahrung der familiären Lebenseinheit ist die Abschiebungsandrohung daher aufzuheben.
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Ist aber die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung rechtswidrig, so ist auch die Entscheidung in Ziffer 6 des angefochtenen Bescheides, die Festsetzung eines auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots, aufzuheben. Denn es handelt sich bei der Entscheidung nach § 11 AufenthG um einen Verwaltungsakt, dessen Rechtmäßigkeit gemäß § 75 Nr. 12 Alt. 1 AufenthG von der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylG abhängt. Das gegen den Kläger erlassene Einreise- und Aufenthaltsverbot kann sich infolge der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch nicht auf eine gemäß Art. 11 Abs. 1a) der RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (Rückführungsrichtlinie, ABl. L 348, 98) erforderliche Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4 der Rückführungsrichtlinie stützen (vgl. BVerwG, U.v. 16.2.2022 – 1 C 6.21 – juris Rn. 53 ff.; EuGH, U.v. 3.6.2021 – BZ, C-546/19 – juris Rn. 53 ff.).
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Damit erweist sich der Bescheid vom 13. November 2024 in seinen Ziffern 5 und 6 als rechtswidrig; insoweit verletzt er den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und der Klage war insoweit stattzugeben. Soweit der Bescheid im Übrigen angegriffen worden ist, erweist er sich demgegenüber als rechtmäßig. Insoweit war die Klage abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach dem jeweiligen Grad des Obsiegens und Unterliegens. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.