Titel:
baurechtliche Nachbarklage, Aufstockung und Anbau an ein Wohnhaus, Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften, Eckgrundstück, Atypik, Rücksichtnahmegebot
Normenketten:
BayBO Art. 68 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1
BayBO Art. 63 Abs. 1 S. 1
BayBO Art. 6
BauGB § 34 Abs. 1
Schlagworte:
baurechtliche Nachbarklage, Aufstockung und Anbau an ein Wohnhaus, Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften, Eckgrundstück, Atypik, Rücksichtnahmegebot
Fundstelle:
BeckRS 2025, 16022
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Aufwendungen selbst.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
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Die Klägerin wendet sich als Eigentümerin des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks Fl.Nr. …9 der Gemarkung V. (T. … V* …*) gegen eine den Beigeladenen mit Bescheid vom 28. August 2024 erteilte Baugenehmigung für Baumaßnahmen auf dem Baugrundstück Fl.Nr. …7 der Gemarkung V. (W. S**. …, V* …*).
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1. Das Baugrundstück der Beigeladenen, ein Eckgrundstück, ist im östlichen Bereich mit einem von der W. S. aus erschlossenem Wohngebäude bebaut, welches unmittelbar an das nördlich angrenzende Grundstück Fl.Nr. … und des darauf befindlichen Wohngebäudes (W. S**. **) angrenzt. Im westlichen Bereich des Baugrundstücks befinden sich Nebenanlagen, die bis zur Grenze des Grundstücks Fl.Nr. …9 der Klägerin und deren grenzständig errichteten, von der T. erschlossenen Wohngebäude reichen. Die Grundstücke befinden sich im Altortbereich von V* …, nahe des – jenseits der W. S. liegenden – Hofgartens, in einem Gebiet ohne Bebauungsplan, in dem überwiegend eine Wohnbebauung vorherrscht.
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2. Mit Bauantrag vom … … 2023 (i.d.F. der Tektur vom … … 2023) beantragten die Beigeladenen die Erteilung einer Baugenehmigung für das Bauvorhaben „Abbruch von Nebengebäuden, Neubau einer Doppelgarage mit darüberliegendem Wohnraum, Abbruch des Erd- und Obergeschosses, Aufstockung durch ein Erd-, Ober- und Dachgeschoss, Errichtung einer Dachgaube und einer Photovoltaikanlage“ nebst Abweichungen von den Abstandsflächenvorgaben bzgl. der Nachbargrundstücke Fl.Nrn. …9 und …3 der Gemarkung V. sowie von der Ortsgestaltungssatzung betreffend die Photovoltaikanlage, die Dachliegefenster, das Flachdach über hofseitigem Anbau und die Gaubenbreite. Zu den näheren Einzelheiten des Bauvorhabens wird auf die Planzeichnungen und weiteren Bauantragsunterlagen verwiesen.
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Die Gemeinde V. erteilte mit Stellungnahme vom 22. November 2023 und ergänzender Stellungnahme vom 20. Dezember 2023 ihr Einvernehmen zu dem Bauvorhaben.
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Die Klägerseite machte mit E-Mail vom 29. Dezember 2023 und mit Schreiben vom 12. Januar 2024 Einwendungen gegen das Bauvorhaben geltend.
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3. Mit Bescheid vom 28. August 2024 erteilte das Landratsamt W. den Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung für das beantragte Vorhaben (Ziffer 1) unter Erteilung von Abweichungen von der Ortsgestaltungssatzung (Ziffer 2) und von Art. 6 BayBO (Freihaltung von Abstandsflächen vor den Außenwänden nach Norden zu Fl.Nr. …3 und Westen zu Fl.Nr. …9) (Ziffer 3). Zur Begründung der Baugenehmigung wurde im Anhang u.a. ausgeführt, dass die Einwendungen des Klägerbevollmächtigten überprüft und gewürdigt worden seien. Es erschließe sich nicht, inwieweit die Art der Nutzung sich in die von Wohnnutzung geprägte Umgebung nicht einfügen sollte. Hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung füge sich das Vorhaben in die nähere Umgebung ein. Entscheidend sei das nach außen erkennbare Erscheinungsbild des Gebäudes. Ausschlaggebend seien insoweit meist Wand- bzw. Firsthöhe, erkennbare Geschossigkeit, Gebäudelänge und -tiefe. Aus Sicht des Landratsamts sprenge das Vorhaben nicht den Rahmen der Umgebungsbebauung. Eine erdrückende Wirkung komme überwiegend bei übergroßen Gebäuden in Betracht und scheide daher aus. Das genehmigte Flachdach mit aufgeständerten Solarmodulen sei weder als Dachterrasse beantragt noch sei diese als solche genehmigt. Von den baurechtlichen Vorschriften des Art. 6 BayBO habe nach Art. 63 Abs. 1 BayBO eine Abweichung zugelassen werden können (Abstandsfläche nach Norden zu Fl.Nr. …3 und Abstandsfläche nach Westen zu Fl.Nr. …9), weil die durch das Abstandsflächenrecht geschützten nachbarlichen Belange wie Belichtung, Belüftung und Besonnung und sozialer Wohnfriede durch die Abweichung nicht in unzumutbarer Weise beeinträchtigt würden. Das nachbarliche Interesse sei aufgrund dieser Abweichung auch im Hinblick auf das Gebot der Rücksichtnahme nicht verletzt. Das Bauvorhaben sei als Grenzbebauung an die bestehenden Brandwände der Nachbargrundstücke Fl.Nrn. …9 und …3 geplant. Diese blieben jedoch in der Höhe gegenüber den Abschlusswänden der ebenfalls grenzständigen Nachbarbebauung zurück, weshalb sich keine unzumutbaren Beeinträchtigungen hinsichtlich Belichtung, Belüftung und Besonnung der betroffenen Nachbargrundstücke ergäben. Negative Auswirkungen auf den sozialen Wohnfrieden seien aufgrund der Art der Nutzung sowie der geplanten Bauweise nicht ersichtlich. Die Eigentümer Fl.Nr. …3 hätten dem Antrag ihre Zustimmung erteilt.
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Der Klägerin wurde eine Ausfertigung der Baugenehmigung am 30. August 2024 gegen Postzustellungsurkunde zugestellt.
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4. Gegen den Bescheid vom 28. August 2024 ließ die Klägerin über ihren Bevollmächtigten am 26. September 2024 Klage erheben, sinngemäß mit dem Antrag,
den Bescheid des Landratsamts W. vom 28. August 2024 aufzuheben.
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Zur Begründung der Klage wurde vorgetragen: Die Klägerin werde durch die Baugenehmigung in ihren Rechten gemäß § 15 BauNVO sowie Art. 63 Abs. 1 BayBO verletzt. So ergebe sich aus den im Baugenehmigungsverfahren eingereichten Genehmigungsplänen, aber auch dem vorgelegten Katasterauszug, dass im Rahmen der geplanten Bebauung das bestehende Vorderhaus um ein ganzes Stockwerk erhöht werden solle, wobei die zukünftige Firsthöhe die in der näheren Umgebung vorhandene Bebauung teilweise um ca. 3 m überschreite. Selbst in Bezug auf das unmittelbare in der W. S. vorhandene Nachbargebäude, überschreite die geplante Bebauung die Firsthöhe des vorhandenen Bestandsgebäudes um 10 cm. Weiter werde durch die eingereichte Genehmigungsplanung deutlich, dass im Rahmen der geplanten Baumaßnahmen nahezu die gesamte Grundstücksfläche überbaut und versiegelt werden solle. Damit würde das neue Gebäude sowohl der Höhe nach, wie auch in Bezug auf die Grundfläche ein Ausmaß annehmen, welches in der näheren Umgebung einzigartig sei. Insbesondere sei Letztere durch eine sehr aufgelockerte Bauweise mit freistehenden Einzelhäusern und großzügigen Freiflächen zur nächsten Bebauung gekennzeichnet. Demgegenüber entspreche das geplante Vorhaben bei einem unmittelbaren Anbau an das Bestandsgebäude der Klägerin eher einer Blockbebauung mit einer nahezu vollständigen Versiegelung der gesamten Grundstücksfläche. Dieser von der umliegenden Bebauung massiv abweichende Eindruck des geplanten Baukörpers werde darüber hinaus durch die zusätzlich vorgesehene Dachgaube, welche ebenfalls die in der Ortsgestaltungssatzung vorliegenden Grenzen erheblich überschreite und eine von der sonst in dem Gebiet übliche Gestaltung abweichende Dachform aufweise, massiv verstärkt. Durch diese massive geplante Bebauung würden zudem nicht nur die Lichtverhältnisse, sondern auch die Anforderungen an gesunde Wohnverhältnisse wie auch an eine ausreichende Belüftung erheblich negativ beeinflusst. Zudem würden durch die auf dem Flachdach geplante Photovoltaikanlage erhebliche Brandlasten neu eingebracht, welche die auf dem Grundstück der Klägerin vorhandene Brandwand überschritten, ohne dass hierfür offensichtlich irgendwelche baulichen Maßnahmen auf dem Baugrundstück der Bauantragsteller vorgesehen seien. Vor diesem Hintergrund möge die von den Bauantragstellern abgegebene Erläuterung, wonach die an die Nachbarwände angrenzenden Wände ebenfalls als Brandwände ohne Öffnung errichtet würden, für sich genommen zwar zutreffend sein, in der Sache selbst berücksichtige dies jedoch nicht zusätzlichen Brandlasten durch die Photovoltaikanlage. Gleiches gelte für die Ausführungen der Bauantragsteller im Hinblick auf eine vermeintliche Verschattung und Besonnung, welche von Seiten der Klägerin wie auch der Genehmigungsbehörde bislang lediglich im Hinblick auf das Grundstück mit der Fl.Nr. …3 berücksichtigt worden seien, nicht hingegen in Bezug auf das Grundstück der Klägerin. Allerdings seien diese negativen Einflüsse durch das geplante Bauvorhaben dort ebenfalls aufgrund der massiven Erhöhung der bestehenden Bebauung, wie auch der Ausrichtung des Grundstückes, zu erwarten. Entgegen den Darstellungen der Beigeladenen sei gerade der Bereich der geplanten Garagen und der darauf zu errichtenden Wohnräume von der W. S. aus einsehbar, da, wie sich aus dem beigefügten Lageplan ergebe, sich das streitgegenständliche Grundstück in unmittelbarer Nähe zu dem unter Denkmalschutz stehenden historischen Wasserturm befinde und unmittelbar davor die T. in die W. S. einmünde. Im Hinblick auf sämtliche Abweichungen von der Ortsgestaltungssatzung liege damit ein erheblicher Ermessenfehlgebrauch wie auch ein Abwägungsdefizit vor, so dass die erteilte Genehmigung aufzuheben sei. Dies sei offensichtlich auch von der Bayerischen Schlösserverwaltung der Staatlichen Schlösser, Gärten und Seen so gesehen worden, weshalb diese mit Schreiben vom 26. Februar 2024 der beantragten Abweichung im Hinblick auf die zulässige Gaubenbreite widersprochen habe.
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5. Das Landratsamt W. stellte für den beklagten Freistaat Bayern den Antrag,
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Zur Begründung wurde vorgetragen: Die Klage sei jedenfalls unbegründet, da die Baugenehmigung nicht rechtswidrig sei und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletze. Entgegen der klägerischen Behauptung verstoße die streitgegenständliche Baugenehmigung gegen keine der im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden Rechtsvorschriften, die zugleich dem Schutz der Klägerin dienten. Das Vorhaben sei bauplanungsrechtlich i.S.v. § 34 Abs. 1 BauGB zulässig. Insbesondere liege auch kein Verstoß gegen das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot vor. Die Verletzung des Rücksichtnahmegebots sei vielmehr erst dann zu bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgehe. Maßgeblich sei hierbei eine „erdrückende“ Wirkung des Bauvorhabens, welche für den Nachbarn schlicht unzumutbar sein müsse. Hierzu sei festzuhalten, dass nach höchstrichterlicher Rechtsprechung für ein „Erdrücken“ eine Art „Einmauerungseffekt“ vorausgesetzt werde, der vorliegend nicht gegeben sei. Die Klagebegründung erschöpfe sich in der Behauptung, dass im Rahmen der geplanten Bebauung das bestehende Vorderhaus um ein ganzes Stockwerk erhöht werden solle, wobei die zukünftige Firsthöhe des geplanten Gebäudes die in der näheren Umgebung vorhandene Bebauung teilweise um ca. 3 m überschreite. Dabei werde verkannt, dass dadurch gerade die straßenseitige Doppelhaussituation zur W1. Straße hin zum Grundstück mit der Fl.Nr. …3 hergestellt werde. Das streitgegenständliche Bauvorhaben entspreche hinsichtlich seiner Kubatur damit gerade der anderen Doppelhaushälfte auf dem Grundstück mit der Fl.Nr. …3. Inwieweit die Klägerin dadurch in eigenen nachbarschützenden Rechten verletzt sein soll, werde weder substantiiert dargelegt noch sei dies sonst ersichtlich. Ebenso unsubstantiiert werde behauptet, dass das geplante Gebäude in Bezug auf die Grundfläche ein Ausmaß annehme, welches in der näheren Umgebung einzigartig sei. Bereits der Lageplan der Umgebungsbebauung belege, dass sich das streitgegenständliche Vorhaben hinsichtlich der überbauten Grundfläche im Rahmen der Umgebungsbebauung bewege, was u.a. auch hinsichtlich des klägerischen Anwesens gelte. Auch hier sei weder dargelegt noch sonst ersichtlich, wie die Klägerin dadurch in eigenen nachbarschützenden Rechten im Sinne des Rücksichtnahmegebots verletzt sein sollte. Hinsichtlich der klägerseits angeführten Vorgaben der Ortsgestaltungssatzung sei weder dargelegt noch sonst ersichtlich, dass sie gerade die Klägerin in ihren nachbarschützenden Rechten schützen sollten. Das Baugrundstück befinde sich im Altort von V* …, welcher sich durch eine für Altorte typische Bausituation mit einem entsprechenden Anteil an Gebäuden, welche die notwendigen Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO zumindest nicht vollständig einhalten können, auszeichne. Insbesondere könnten auch die Abstandsflächen zum Baugrundstück hin nicht eingehalten werden. Im Hinblick auf das Interesse des Bauherrn an einer optimalen Ausnutzung des Baugrundstücks und der Erhaltung einer Bebauung im bestehenden Bebauungszusammenhang – welche grundsätzlich auch im öffentlichen Interesse der Nachverdichtung und Wohnraumschaffung liege – hätten in Abwägung der Schutzziele des Abstandsflächenrechts und der Interessen der betroffenen Nachbarn an der Einhaltung der gesetzlichen Grundvorgabe die beantragten Abweichungen ausgesprochen werden können. Auch die Voraussetzungen für eine Atypik lägen vor. Angesichts der konkreten Grundstückssituation mit der Grenzwand des klägerischen zweigeschossigen Wohngebäudes auf etwa einer Länge von 4/5 der gemeinsamen Grundstücksgrenze sei nicht ersichtlich, wie die Klägerin hinsichtlich der vom Abstandsflächenrecht geschützten Belange der Belichtung, Belüftung, Besonnung sowie des sozialen Wohnfriedens beeinträchtigt sein sollte. Unabhängig davon könnte sich die Klägerin nicht auf einen möglichen Abstandsflächenverstoß berufen, da das grenzständige Nebengebäude der Klägerin selbst die Abstandsflächen zum Grundstück der Beigeladenen nicht einhalte. Eine solche wechselseitige Unterschreitung der Abstandsflächen führe nach höchstrichterlicher Rechtsprechung dazu, dass sich die Klägerin selbst nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht auf den Drittschutz des Art. 6 BayBO berufen könne. Die Klägerin könne darüber hinaus keinen Anspruch aus denkmalschutzrechtlichen Belangen geltend machen, da diese vorliegend nicht zu ihren Gunsten als Nachbarin wirkten. Die Klägerin sei als Eigentümerin des Nachbargrundstücks nicht Eigentümerin eines denkmalgeschützten Gebäudes und könne sich hierauf im Rahmen einer Drittanfechtungsklage gegen eine Baugenehmigung daher nicht berufen.
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6. Die Beigeladenen äußerten sich im Rahmen des gerichtlichen Augenscheins am 5. Mai 2025; einen Klageantrag stellten sie nicht.
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7. Während des gerichtlichen Ortstermins am 5. Mai 2025 wurden die örtlichen und baulichen Verhältnisse im Bereich des Baugrundstücks in Augenschein genommen.
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Die Beteiligten erklärten übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung.
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8. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist unbegründet.
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Die angefochtene Baugenehmigung des Landratsamts W. vom 28. August 2024 verletzt die Klägerin nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO ist die Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Insoweit ist das Landratsamt W. hier zutreffender Weise vom vereinfachten Genehmigungsverfahren des Art. 59 BayBO ausgegangen.
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Die Baugenehmigung ist nur dann aufzuheben, wenn sie rechtswidrig und die Klägerin dadurch in ihren Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Nachbar eines Vorhabens kann eine Baugenehmigung nur dann mit Erfolg anfechten, wenn öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt sind, die auch seinem Schutz dienen, oder wenn es das Vorhaben an der gebotenen Rücksichtnahme auf seine Umgebung fehlen lässt und dieses Gebot im Einzelfall Nachbarschutz vermittelt. Nur daraufhin ist das genehmigte Vorhaben in einem nachbarrechtlichen Anfechtungsprozess zu prüfen (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2020 – 15 CS 20.1332; B.v. 26.5.2020 – 15 ZB 19.2231; BVerwG, B.v. 28.7.1994 – 4 B 94/94; U.v. 19.9.1986 – 4 C 8.84; U.v. 13.6.1980 – IV C 31.77; alle juris).
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2. Das Vorhaben der Beigeladenen verstößt in bauplanungsrechtlicher Hinsicht nicht gegen die Rechte der Klägerin (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a BayBO i.V.m. §§ 29 ff. BauGB).
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2.1. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens beurteilt sich nach § 34 BauGB, da für das Baugrundstück kein qualifizierter Bebauungsplan existiert und es auch nicht dem Außenbereich nach § 35 BauGB zuzuweisen ist.
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Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Wenn die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete, die in der Baunutzungsverordnung bezeichnet sind, entspricht, beurteilt sich nach § 34 Abs. 2 BauGB die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art allein danach, ob es nach der Baunutzungsverordnung in dem Baugebiet allgemein zulässig ist.
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2.2. Eine Verletzung drittschützender Rechte hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung ist nicht ersichtlich. Insoweit kann offenbleiben, ob sich die Zulässigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens hinsichtlich der Art der Nutzung nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 4 BauNVO (weil es sich hier bei der näheren Umgebung des Baugrundstücks um ein faktisches allgemeines Wohngebiet handeln würde) oder nach § 34 Abs. 1 BauGB (weil es sich um eine Gemengelage handeln würde) richtet, denn in allen Fallkonstellationen wäre das Wohnbauvorhaben zulässig. Ein Verstoß gegen den sog. Gebietsbewahrungs- oder -erhaltungsanspruch scheidet von vornherein aus.
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Ob sich das Vorhaben im Übrigen nach den weiteren in § 34 Abs. 1 BauGB genannten Kriterien in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt, bedarf vorliegend keiner Entscheidung, denn die Regelungen über das Maß der baulichen Nutzung, über die Bauweise und die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, sind nach ganz herrschender Meinung nicht nachbarschützend (vgl. BVerwG, B.v. 11.3.1994 – 4 B 53/94 – UPR 1994, 267; B.v. 19.10.1995 – 4 B 215/95 – NVwZ 1996, 888; BayVGH, B.v. 30.9.2014 – 2 ZB 13.2276).
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2.3. Ein Abwehranspruch der Klägerin resultiert auch nicht aus dem bauplanungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme.
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Das Gebot der Rücksichtnahme (grundlegend BVerwG, U.v. 25.2.1977 – 4 C 22/75 – BVerwGE 52, 122 – juris) soll einen angemessenen Interessenausgleich gewährleisten. Die an das Gebot der Rücksichtnahme zu stellenden Anforderungen hängen im Wesentlichen von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Die vorzunehmende Interessenabwägung hat sich daran zu orientieren, was dem Rücksichtnahmebegünstigten und dem Rücksichtnahmeverpflichteten jeweils nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Dies beurteilt sich nach der jeweiligen Situation der benachbarten Grundstücke. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des Rücksichtnahmeberechtigten ist, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die Interessen des Bauherrn sind, die er mit dem Vorhaben verfolgt, desto weniger muss er Rücksicht nehmen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – juris). Das Gebot der Rücksichtnahme ist demnach nur dann verletzt, wenn die dem Nachbarn aus der Verwirklichung des geplanten Vorhabens resultierenden Nachteile das Maß dessen übersteigen, was ihm billigerweise noch zumutbar ist (BayVGH, B.v. 5.11.2019 – 9 CS 19.1767 – juris m.w.N.). Die an das Gebot der Rücksichtnahme zu stellenden Anforderungen hängen von den Umständen des Einzelfalles ab. Das heißt, es ist anhand der konkreten Umstände des Einzelfalles zu prüfen, ob die mit einem Bauvorhaben verbundenen Nachteile das Maß dessen überschreiten, was einem Grundstücksnachbarn billigerweise noch zugemutet werden kann.
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In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots insbesondere dann in Betracht kommt, wenn durch die Verwirklichung des genehmigten Vorhabens ein in der unmittelbaren Nachbarschaft z.B. befindliches Wohngebäude „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78; B.v. 20.9.1984 – 4 B 181/84; U.v. 23.5.1986 – 4 C 34/85 – alle juris). Dass vorliegend das Bauvorhaben der Beigeladenen der Klägerin gegenüber insgesamt eine solche einmauernde oder erdrückende Wirkung entfaltet, ist jedoch nicht der Fall. Das anzunehmen kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht, wenn die genehmigte Anlage das Nachbargrundstück aufgrund einer außergewöhnlichen Dimension regelrecht abriegelt, d.h. dort ein Gefühl des „Eingemauertseins“ oder eine „Gefängnishofsituation“ hervorruft und das „erdrückte“ Gebäude oder Grundstück nur noch oder überwiegend wie eine von einem „herrschenden“ Gebäude dominierte Fläche ohne eigene baurechtliche Charakteristik wahrgenommen wird; dem Grundstück muss gleichsam die „Luft zum Atmen“ genommen werden (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 18.2.2009 – 1 ME 282/08 – NordÖR 2009, 179; B.v. 15.1.2007 – 1 ME 80/07 – BauR 2007, 758; OVG Münster, U.v. 9.2.2009 – 10 B 1713/08 – NVwZ-RR 2009, 374). Eine solche Wirkung hat die Rechtsprechung vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden angenommen (vgl. BayVGH, B.v. 8.8.2007 – 14 AS 07.1855 – juris), so bei einem zwölfgeschossigen Hochhaus in Entfernung von 15 m zum zweigeschossigen Nachbarwohnhaus (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – DVBl. 1981, 928). Derartig gravierende Auswirkungen sind vorliegend nicht ersichtlich. Für die Annahme einer erdrückenden Wirkung eines Nachbargebäudes besteht grundsätzlich schon dann kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes (vgl. BayVGH, B.v. 26.9.2018 – 9 CS 17.361 – BeckRS 2018, 25053 m.w.N.). Hier bleibt der grenzständige Gebäudeteil des Bauvorhabens (Doppelgarage mit darüber liegenden Wohnräumen) der Höhe nach hinter dem daran unmittelbar angrenzenden Gebäude der Klägerin – wie die Planunterlagen zeigen und im Rahmen des gerichtlichen Augenscheins von Beigeladenenseite erläutert wurde – zurück. Die Höhe des Gebäudes der Klägerin wird lediglich durch den weiteren, an der W1. Straße liegenden Gebäudeteil des Vorhabens – bestehend aus einem Keller-, Erd- und Dachgeschoss – überschritten, allerdings nicht ansatzweise in einem Maße, das eine erdrückende oder einmauernde Wirkung hervorrufen könnte.
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Auch unter sonstigen Aspekten ist keine Verletzung des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme anzunehmen. Soweit die Klägerseite vorbringt, dass durch die mit dem Vorhaben einhergehenden baulichen Veränderungen die Sonneneinstrahlung wie auch die Lichtzufuhr beeinträchtigt werde, vermag sie damit nicht durchzudringen. Die Kammer vermag insoweit keine unzumutbaren Verhältnisse zu erkennen. Beeinträchtigungen in der Sonneneinstrahlung und Lichtzufuhr sind vorliegend allenfalls durch Erhöhung des Vorderhauses zu erwarten angesichts der vorzufindenden Abstände und des zu erwartenden Schattenwurfs allerdings nicht in einem Ausmaß, das sozialadäquate Verhältnisse überschreiten kann, zumal es sich bei der östlichen Außenwand des Gebäudes der Klägerin um eine öffnungslos ausgestaltete Brandwand handelt. Auch vermittelt das öffentliche Baurecht keinen generellen Schutz vor unerwünschten Einblicken. Der Nachbar hat insbesondere keinen Rechtsanspruch darauf, dass Räume, Fenster und Balkone des Bauvorhabens so angeordnet werden, dass sein Grundstück nicht oder nur eingeschränkt eingesehen werden kann (vgl. Dirnberger in Busse/Kraus, BayBO, Stand 156. EL Dezember 2024, Art. 66 Rn. 440). Anhaltspunkte für einen Ausnahmefall, in dem Einblicksmöglichkeiten in das Nachbargrundstück, die durch ein neues Bauvorhaben geschaffen werden, unter besonders gravierenden Umständen als Verletzung des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme angesehen werden, sind hier nicht ersichtlich. Insbesondere ist nichts dafür vorgetragen und auch sonst nicht ersichtlich, dass aus kurzer Entfernung Einblick in (besonders schutzwürdige) Räume des Wohngebäudes der Klägerin genommen werden könnte; vielmehr wird der angrenzende Gebäudeteil des Bauvorhabens von der grenzständigen Gebäudewand des Wohngebäudes der Klägerin vollständig abgeschirmt.
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Die anhand des Rücksichtnahmegebots durchzuführende Interessenabwägung führt daher zu dem Ergebnis, dass die Klägerin dem Interesse der Beigeladenen an der Verwirklichung ihres Vorhabens keine überwiegenden eigenen Interessen entgegenzusetzen hat.
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3. Auch liegt infolge der unter Ziffer 3 des Bescheids vom 28. August 2024 rechtmäßig erteilten Abweichung nach Art. 63 BayBO keine Verletzung der nach Art. 59 i.V.m. Art. 6 BayBO zu prüfenden abstandsflächenrechtlichen Vorschriften zu Lasten der Klägerin vor.
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3.1. Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten. Diese Abstandsflächen müssen auf dem Grundstück selbst liegen, Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO. Die Tiefe der Abstandsfläche bemisst sich gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO nach der Wandhöhe und beträgt gemäß Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO grundsätzlich 0,4 H, mindestens 3 m. Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO bleibt Art. 63 BayBO unberührt.
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Insoweit lässt sich den genehmigten Planunterlagen unzweifelhaft entnehmen, dass bzgl. des streitgegenständlichen, grenzständigen Vorhabens die nach Art. 6 Abs. 4 und 5 BayBO erforderlichen Abstandsflächen von 0,4 H, mindestens 3 m in Richtung Westen nicht eingehalten werden können und sich auf das Grundstück der Klägerin erstrecken.
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3.2. Allerdings liegen die Voraussetzungen für die erteilte Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und 4 BayBO i.V.m. Art. 63 BayBO in der zum Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung geltenden Fassung vom 07.07.2023 (gültig von 1.8.2023 bis 31.12.2024) vor, weshalb das Vorhaben die Klägerin nicht in ihrem Recht aus Art. 6 BayBO verletzt.
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Nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO (in der vg. Fassung) soll die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von Anforderungen dieses Gesetzes und auf Grund dieses Gesetzes erlassener Vorschriften zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO, vereinbar sind.
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Die Frage, ob die Erteilung einer Abweichung von der Einhaltung der erforderlichen Abstandstiefe nach Art. 6 Abs. 5 BayBO nach Art. 63 BayBO (in der seit dem 1. September 2018 geltenden Fassung) und nach Einfügung des heutigen Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO noch eine atypische Situation voraussetzt, ist streitig (z.B. befürwortend: BayVGH, B.v. 18.3.2025 – 1 ZB 24.142; U.v. 19.9.2023 – 15 CS 23.1208; U.v. 23.5.2023 – 1 B 21.2139; alle juris; offengelassen: BayVGH, B.v. 10.2.2022 – 15 ZB 21.2428 – juris Rn. 36; B.v. 7.6.2021 – 9 CS 21.953 – juris Rn. 22; ablehnend: BayVGH, B.v. 2.5.2023 – 2 ZB 22.2484 – juris Rn. 10 in einem Zulassungsverfahren, in dem die Rechtmäßigkeit der Abweichungserteilung nicht entscheidungserheblich war). Nach Auffassung der Kammer erfordert die Zulassung einer Abweichung vom Abstandsflächenrecht entsprechend der bisherigen Rechtsprechung eine sogenannte Atypik, um dem Schutzzweck der Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO entsprechen zu können. Danach sind Gründe erforderlich, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die etwa bewirkten Einbußen an geschützten Nachbarrechtspositionen vertretbar erscheinen lassen. Es muss sich um eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung handeln (BayVGH, U.v. 23.5.2023 – 1 B 21.2139 – juris Rn. 26 m.w.N.).
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Vorliegend muss dem nicht weiter nachgegangen werden, weil die Kammer keinen durchgreifenden Zweifel daran hat, dass hier tatsächlich ein atypischer Fall vorliegt. Zwar hat das Landratsamt W. in der Begründung der Abweichungsentscheidung – anders als in der Klageerwiderung – keine Begründung für eine Atypik vorgebracht. Allerdings liegt hier zur Überzeugung der Kammer, die diese aus den in den Behördenakten enthaltenen Liegenschaftskatasterauszügen, Luftbildern und aufgrund des gerichtlichen Augenscheins vom 5. Mai 2025, dessen Erkenntnisse auch den ehrenamtlichen Richtern vermittelt wurden, gewinnen konnte, eine atypische Fallgestaltung vor. Eine atypische, von der gesetzlichen Regelung nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung kann sich insbesondere aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation ergeben (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2014 – 1 B 14.819 – NVwZ-RR 2015, 365; zusammenfassend: BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – NVwZ-RR 2008, 84). Diese besondere städtebauliche Situation kann begründet sein in der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern. Diese Rechtsprechung bezieht sich grundsätzlich auf Bereiche, die durch eine enge, grenzständige oder grenznahe Bebauung geprägt sind, und in denen die geltenden Abstandsflächen generell nicht eingehalten werden können (BayVGH, B.v. 5.4.2012 – 15 CS 11.2628 – BeckRS 2012, 52948; B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – NVwZ-RR 2008, 84; B.v. 22.9.2006 – 25 ZB 01.1004 – BeckRS 2007, 24316).
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Die Besonderheit des Falles, die im vorliegenden Einzelfall eine Abweichung von der Einhaltung der Regelabstandsflächen gegenüber dem Grundstück der Klägerin rechtfertigt, ergibt sich aus der Lage der betroffenen Grundstücke und der hierauf errichteten (Wohn-)Gebäude, insbesondere dem Zuschnitt des Baugrundstücks und dessen Umgriff im Altortbereich von V. Zu berücksichtigen ist hierbei insbesondere, dass es sich bei dem Baugrundstück um ein Eckgrundstück handelt, welches einer grenzständigen Bebauung von den im Norden und Westen angrenzenden Nachbargrundstücken ausgesetzt ist und auf dem nach Größe und Zuschnitt eine alleinige Fortsetzung der in der W2. Straße vorherrschenden Doppelhausbebauung bei Einhaltung der Abstandsfläche in Bezug auf die rückwärtige Grundstücksgrenze – zum Grundstück der Klägerin – nur stark eingeschränkt und nicht mehr in gleicher Gebäudetiefe möglich wäre. Damit einher geht das Interesse der Beigeladenen an einer optimalen Ausnutzung des Baugrundstücks und an einer Bebauung im bestehenden Bebauungszusammenhang (sowohl zur grenzständigen Bebauung auf dem Anwesen der W. S**. … als auch zum grenzständigen Anwesen der Klägerin); dies liegt außerdem im öffentlichen Interesse an Nachverdichtung und Wohnraumschaffung. Zwar begründen allein Wünsche des Bauherrn, sein Grundstück stärker auszunutzen, als dies nach den gesetzlichen Abstandsflächenvorschriften zulässig ist, noch keine Atypik. In einer besonderen städtebaulichen Lage, die hier zu bejahen ist, kann allerdings auch das Interesse des Grundstückseigentümers, vorhandene Bausubstanz zu erhalten und sinnvoll zu nutzen oder bestehenden Wohnraum zu modernisieren, eine Verkürzung der Abstandsflächen rechtfertigen; dies gilt insbesondere, wenn in diesen Bereichen – wie hier – eine zeitgemäße, den Wohnbedürfnissen entsprechende Sanierung, Instandsetzung, Aufwertung oder Erneuerung der zum Teil überalterten Bausubstanz ermöglicht werden soll (vgl. BayVGH, B.v. 26.3.2015 – 2 ZB 13.2395 – BeckRS 2015, 4426).
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Infolge der anzunehmenden Atypik kommt es nicht mehr darauf an, ob das in Art. 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BayBO normierte Regelbeispiel, wonach bei Vorhaben, die der Weiternutzung bestehender Gebäude dienen, eine Abweichung erteilt werden soll, einschlägig ist.
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Im Weiteren erweist sich die vom Landratsamt W. erteilte Abweichung unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange als mit den öffentlichen Belangen, insbesondere mit den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO vereinbar. Im Einzelnen:
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Mit der Verpflichtung zur Würdigung nachbarlicher Interessen verlangt das Gesetz – wie bei dem bauplanungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme – eine Abwägung zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründen und den Belangen des Nachbarn (Dhom/Simon, in Busse/Kraus, BayBO, Stand: 156. EL Dezember 2024, Art. 63 Rn. 31 ff.). Werden die nachbarlichen Interessen nicht mit dem ihnen zukommenden Gewicht berücksichtigt, dann wird der Nachbar auch dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Vorschrift, von der die Abweichung zugelassen wird, nicht dem Nachbarschutz dient. Ob eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden kann, beurteilt sich nicht allein danach, wie stark die Interessen des betroffenen Nachbarn beeinträchtigt werden. Es ist stets auch zu prüfen, ob die Schmälerung der nachbarlichen Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt ist (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris). Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist der Zweck der jeweiligen Anforderung‚ in diesem Fall des Abstandsflächenrechts‚ zu berücksichtigen. Insofern entspricht es gesicherter Auffassung‚ dass der Zweck des Abstandsflächenrechts darin besteht‚ eine ausreichende Belichtung und Belüftung der Gebäude zu gewährleisten und die für notwendige Nebenanlagen erforderlichen Freiflächen zu sichern (z.B. BayVGH‚ U.v. 14.10.1985 – 14 B 85 A.1224 – BayVBl. 1986‚ 143; U.v. 14.12.1994 – 26 B 93.4017 – VGHE n.F. 48‚ 24).
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Eine nennenswerte Beeinträchtigung der geschützten Nachbarbelange Belichtung, Belüftung und Besonnung durch die mit dem Bauvorhaben einhergehenden Veränderungen ist nach Überzeugung der Kammer auszuschließen, da das Vorhaben im maßgeblichen, die Abstandsflächen nicht einhaltenden Bereich hinter den Ausmaßen der grenzständigen, öffnungsfreien Außenwand des Wohnhauses der Klägerin zurückbleibt (vgl. hierzu bereits vorstehende Ausführungen). Auch auf eine Beeinträchtigung des Wohnfriedens durch die größere Nähe des Nachbargebäudes und eine Beeinträchtigung der Wohnqualität der Klägerin kann sich die Klägerseite nicht erfolgreich berufen. Die Kammer neigt zwar der Auffassung zu‚ dass über die vg. Zwecke hinaus auch der sog. Wohnfrieden bzw. Sozialabstand als Zweck des Abstandsflächenrechts anzuerkennen ist (vgl. zum Streitstand: BayVGH, U.v. 31.7.2020 – 15 B 19.832 – juris Rn. 22; B.v. 17.7.2018 – 9 ZB 15.2458 – juris Rn. 10). Allerdings lässt sich vorliegend auch insoweit eine spürbare Verschlechterung der Situation nicht feststellen; vielmehr stellen sich die vom Bauvorhaben zu erwartenden Auswirkungen auf den sozialen Wohnfrieden als nachbarverträglich dar. Einer Verletzung der Wohnqualität der Klägerin infolge des heranrückenden Baukörpers wird insbesondere dadurch begegnet, dass das Bauvorhaben von der ebenfalls geschlossenen grenzständigen Außenwand des Wohnanwesens der Klägerin ausreichend abschirmt wird. Eine besondere Situation, in der in gravierendem, unerträglichen Maß in die Rechte der Klägerin eingegriffen würde, liegt nicht vor.
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Bei Berücksichtigung der Gesamtsituation ist auch ein die Belange der Klägerin überwiegendes Bauherreninteresse gegeben. Hierzu zählt nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs auch die Schaffung von zeitgemäßem Wohnraum (BayVGH, B.v. 5.12.2011 – 2 CS 11.1902 – juris Rn. 5). Das Interesse der Beigeladenen an der Schaffung von Wohnraum, also an der sinnvollen wirtschaftlichen Verwertung des vorhandenen Grundstücks unter Einhaltung des bauplanungsrechtlich zulässigen Rahmens, überwiegt das Interesse der Klägerin, hiervon verschont zu bleiben.
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Die der gerichtlichen Kontrolle nach Maßgabe von § 114 Satz 1 VwGO unterliegende Ermessensentscheidung des Landratsamts W. ist nicht zu beanstanden. Ein Ermessensfehler ist nicht ersichtlich. Angesichts der hohen Anforderungen, die das Gesetz an die Zulassung der Abweichung stellt, insbesondere, dass die Abweichung mit öffentlichen und privaten Belangen vereinbar sein muss, hat die Behörde, falls die Voraussetzungen bejaht werden, sich regelmäßig für die Zulassung der Abweichung zu entscheiden, sog. intendiertes Ermessen (Dhom/Simon in Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 156. EL Dez. 2024, Art. 63 Rn. 39). Anhaltspunkte dafür, dass ausnahmsweise etwas anderes zu gelten hätte, sind nicht aufgezeigt oder anderweitig ersichtlich.
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3.3. Aufgrund der rechtmäßig erteilten Abweichung kommt es nicht mehr darauf an, ob es der Klägerin zudem nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB analog) aufgrund der Grenzbebauung des Wohngebäudes verwehrt gewesen wäre, sich auf einen Verstoß gegen das Abstandsflächenrecht zu berufen.
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4. Auch die weiteren Einwendungen der Klägerseite greifen nicht durch.
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Hinsichtlich der erteilten Abweichungen von § 2.1 (An- und Nebenbauten sind an das Hauptgebäude gestalterisch anzugleichen), § 4.1 (Haupt- und Nebengebäude sind mit einem regelmäßigen Satteldach mit 40-50“ Neigung auszuführen), § 5.2 (Dachaufbauten sind als stehende Einzelgauben oder als Doppelgaube mit Mittelsteg mit einer Breite von max. 2,50 m zulässig; ihre Deckung ist in der gleichen Art und Farbe wie das Hauptdach vorzunehmen; die Summe der Dachaufbauten darf auf einer Dachfläche ein Drittel der Firstlänge nicht überschreiten; Dachflächenfenster sind nicht zulässig), § 5.3 (Metalleindeckungen sind nicht zulässig) und § 5.5 (Solar- und Photovoltaikanlagen sind nur auf Dächern der straßenabgewandten Gebäudeseiten zulässig; eine Aufständerung ist unzulässig), ist eine Rechtsverletzung nicht zu ersehen. Es ist nicht ansatzweise aufgezeigt oder zu ersehen, dass den betroffenen Regelungen, von denen abgewichen wurde, über ihre städtebaulich-gestalterische Funktion hinaus eine nachbarschützende Funktion zukommen könnte.
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Auch der klägerische Einwand hinsichtlich befürchteter Brandlasten durch die Photovoltaikanlage greift nicht durch. Von Klägerseite wird schon nicht das Geringste vorgebracht, was die Annahme von Brandgefahren stützen könnte. Im Übrigen ist in dem vom Landratsamt W. zutreffend zur Anwendung gebrachten vereinfachten Genehmigungsverfahren der Umfang der bauaufsichtlichen Prüfung und damit auch der Regelungsgehalt der Baugenehmigung eingeschränkt. Der von der Bauaufsichtsbehörde insoweit vorzunehmende Umfang der Prüfung wird allein durch Art. 59 BayBO bestimmt (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.1997 – 4 B 244.96 – NVwZ 1998, 58; BayVGH, B.v. 12.7.2016 – 15 ZB 14.1108 – juris Rn. 18). Die Regelungen über den Brandschutz in der Bayer. Bauordnung zählen nicht dazu (vgl. Art. 59 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 BayBO). Die Baugenehmigung entfaltet daher insoweit keine Feststellungswirkung, so dass der Nachbar hierdurch nicht in seinen Rechten bzgl. der Brandschutzanforderungen verletzt sein kann (vgl. zum Nachbarschutz im Rahmen des Art. 59 BayBO allgemein Wolf in Busse/Kraus, BayBO, 156. EL Dezember 2024, Art. 59 Rn. 115; Robl in Spannowsky/Manssen, BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, 32. Ed. Stand: 1.2.2025, Art. 59 Rn. 12).
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Da sich die Beigeladenen nicht durch eine Antragstellung am Prozesskostenrisiko beteiligt haben, entsprach es nicht der Billigkeit, ihre außergerichtlichen Aufwendungen der Klägerin aufzuerlegen (§ 162 Abs. 3 i.V.m. § 154 Abs. 3 VwGO).
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.