Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 13.05.2025 – W 3 S 25.31680
Titel:

Kein Folgeantrag ohne vorherige sachliche Prüfung des Schutzbegehrens

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71 Abs. 1
AsylverfahrensRL Art. 2 lit. q, Art. 40 Abs. 7
Leitsatz:
Ein Folgeantrag liegt nicht vor, wenn bislang nur rechtskräftige Zuständigkeitsentscheidungen im Dublin-System getroffen worden sind, ohne dass eine sachliche Prüfung des Schutzbegehrens erfolgt ist. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erneuter Asylantrag nach rechtskräftiger Zuständigkeitsentscheidung im Dublin-Verfahren kein Folgeantrag, Asyl;, Herkunftsland Türkei;, Begriff des Folgeantrags;, Anwendungsbereich des § 71 AsylG;, Dublin-Verfahren, Unzulässigkeitsentscheidung, Folgeantrag, Schutzbegehren, Zuständigkeitsprüfung
Fundstelle:
BeckRS 2025, 16013

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 5. Mai 2025 gegen die Unzulässigkeitsentscheidung und die Abschiebungsandrohung in Ziffer 1 und Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27. März 2025 (Az. W 3 K 25.31679) wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen seine Abschiebung, nachdem die Antragsgegnerin seinen Asylantrag als unzulässig abgelehnt hat.
2
Der Antragsteller, türkischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 19. November 2022 in das Bundesgebiet ein und stellte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 2. Dezember 2022 durch behördliche Mitteilung Kenntnis erlangte. Am 11. Januar 2023 stellte der Antragsteller einen förmlichen Asylantrag.
3
Ausweislich einer am 2. Dezember 2022 durchgeführten EURODAC-Recherche stellte der Antragsteller am 4. November 2022 in Österreich einen Asylantrag (EURODAC-Treffer der Kategorie 1). Auf dieser Grundlage stellte das Bundesamt am 12. Januar 2023 unter Bezugnahme auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin-III-VO ein Wiederaufnahmegesuch an die österreichischen Behörden, das unbeantwortet blieb.
4
Mit Bescheid vom 1. März 2023 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, ordnete die Abschiebung nach Österreich an, ordnete das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristete es auf zwölf Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Asylantrag gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig sei, da Österreich auf Grund des dort gestellten Asylantrags nach der Dublin-III-VO für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig sei. Ein hiergegen gerichteter Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO blieb ebenso erfolglos wie eine hiergegen gerichtete Klage (Beschlüsse des VG Ansbach vom 4.4.2023 – AN 14 S 23.50167 – und vom 28.11.2023 – AN 14 K 23.50168 –).
5
Unter dem 26. September 2023 teilte das Bundesamt dem österreichischen Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit, dass der Antragsteller flüchtig sei und die 18-monatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO gelte.
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Eine Überstellung nach Österreich erfolgte nicht.
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Am 22. Januar 2025 stellte der Antragsteller erneut einen Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland. Er hatte Gelegenheit, sich schriftlich zu seinen Asylgründen zu äußern. Zu einer informatorischen Anhörung am 13. März 2025 erschien er nicht.
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Mit Bescheid vom 27. März 2025, ausweislich der Postzustellungsurkunde zugestellt am 26. April 2025, lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig ab, lehnte eine Abänderung des Bescheids vom 1. März 2023 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG ab, forderte den Antragsteller unter Setzung einer einwöchigen Ausreisefrist auf, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, drohte ihm andernfalls die Abschiebung in die Türkei an, ordnete das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristete es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG unzulässig, weil ein Folgeantrag im Sinne von § 71 AsylG vorliege, aber ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen sei. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt des Bescheids vom 27.März 2025 Bezug genommen.
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Am 5. Mai 2025 hat der Antragsteller Klage gegen den Bescheid vom 27. März 2025 erhoben und zugleich einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt.
10
Er beantragt,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsandrohung anzuordnen.
11
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
12
Zur Begründung verweist sie auf die angegriffene Entscheidung.
13
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten, welche Gegenstand des Verfahrens waren, einschließlich der Akten des Verfahrens W 3 K 25.31679 verwiesen.
II.
14
Der Antragsteller begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner beim Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg unter dem Aktenzeichen W 3 K 25.31679 geführten Klage gegen die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts vom 27. März 2025 und die damit verbundene Abschiebungsandrohung in die Türkei (Ziffern 1 und 3 des Bescheids) gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Hiervon ist bei verständiger Würdigung der Antragsschrift und des darin enthaltenen Antrags nach § 122 Abs. 1 i.V.m. § 88 VwGO in entsprechender Anwendung der für die Auslegung von Willenserklärungen des bürgerlichen Rechts geltenden Rechtsgrundsätze (§§ 133, 157 BGB) im wohlverstandenen Rechtsschutzinteresse des Antragstellers auszugehen. Aus der ausdrücklichen Bezugnahme auf die Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsandrohung vom 27. März 2025 im Antrag des Antragstellers wird hinreichend deutlich, dass er möglichst umfassenden einstweiligen Rechtsschutz gegen seine Abschiebung auf Grundlage des Bescheids des Bundesamts vom 27. März 2025 begehrt. Ob der Antragsteller neben dem Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts vom 27. März 2025 und die damit verbundene Abschiebungsandrohung hilfsweise auch gegen die Entscheidung hinsichtlich der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG (Ziffer 2 des Bescheids vom 27.3.2025) um vorläufigen Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO nachsuchen wollte, kann dahinstehen. Denn der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hat Erfolg, sodass es auf etwaige Hilfsanträge nicht ankommt.
15
Der wie vorstehend dargestellt verstandene Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist zulässig und begründet.
16
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts und die damit verbundene Abschiebungsandrohung vom 27. März 2025 (Ziffern 1 und 3 des Bescheids) ist zulässig, insbesondere gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft. Wird ein Asylfolgeantrag als unzulässig abgelehnt, ist nach dem Willen des Gesetzgebers – außer in den Fällen des § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG – einstweiliger Rechtsschutz im Wege eines Antrags nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO nachzusuchen, wie die Erwähnung von § 80 Abs. 5 VwGO in § 71 Abs. 5 Satz 3 AsylG zeigt.
17
Mit Blick darauf, dass der Bescheid vom 27. März 2025 dem Antragsteller ausweislich der Postzustellungsurkunde erst am 26. April 2025 zugestellt wurde und der 3. Mai 2025 auf einen Sonnabend fiel, ist der Antrag zudem fristgerecht innerhalb der Wochenfrist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG gestellt worden (§ 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 2 ZPO).
18
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts und die damit verbundene Abschiebungsandrohung ist auch begründet. Denn unter Zugrundelegung der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt dieser Entscheidung bestehen ernstliche Zweifel (§ 71 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG) an der Rechtmäßigkeit der Ablehnung des Asylantrags des Antragstellers als unzulässig und folglich auch an der Abschiebungsandrohung.
19
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 1 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn im Falle eines Folgeantrags nach § 71 AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Im streitgegenständlichen Fall liegt indes kein Folgeantrag im Sinne von § 71 AsylG vor, sodass § 29 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 1 AsylG keine Anwendung findet.
20
§ 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG definiert den Begriff des Folgeantrags. Danach liegt ein Folgeantrag dann vor, wenn der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag stellt. Dies ist im Lichte der Definition des Begriffs „Folgeantrag“ in Art. 2 Buchst. q RL 2013/32/EU zu verstehen. Danach bezeichnet der Ausdruck „Folgeantrag“ einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird, auch in Fällen, in denen der Antragsteller seinen Antrag ausdrücklich zurückgenommen hat oder die Asylbehörde den Antrag nach der stillschweigenden Rücknahme durch den Antragsteller gemäß Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie abgelehnt hat. Eine „bestandskräftige Entscheidung“ bezeichnet wiederum eine Entscheidung darüber, ob einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gemäß der RL 2011/95/EU die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, und gegen die kein Rechtsbehelf nach Kapitel V der vorliegenden Richtlinie mehr eingelegt werden kann, unabhängig davon, ob ein solcher Rechtsbehelf zur Folge hat, dass Antragsteller sich bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten dürfen (Art. 2 Buchst. e RL 2013/32/EU). Zudem folgt aus der Regelung des Art. 40 Abs. 7 RL 2013/32/EU, dass ein neuer Asylantrag, der in dem Mitgliedstaat, der die Überstellung beantragt hat, gestellt wird, dann ein „Folgeantrag“ ist, wenn er gestellt wurde, nachdem derjenige Mitgliedstaat, in den die betroffene Person überstellt werden soll, eine Entscheidung über einen früheren Antrag desselben Antragstellers erlassen hat (EuGH, U.v. 19.12.2024 – C-123/23 u.a. – NVwZ 2025, 170 Rn. 53). Fehlt es an einer solchen Entscheidung, weil die Zuständigkeit nach Art. 29 Abs. 1 Satz 1 VO (EU) 604/2013 (Dublin-III-VO) auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergegangen ist, bevor die betroffene Person überstellt wurde und der Mitgliedstaat, in den die betroffene Person überstellt werden soll, über den Asylantrag entscheiden konnte, ist es Sache des nunmehr zuständigen Mitgliedstaats, den gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen (Art. 18 Abs. 2 Dublin-III-VO). Somit liegt kein Folgeantrag vor und der Anwendungsbereich des § 71 AsylG ist nicht eröffnet, wenn bislang nur rechtskräftige Zuständigkeitsentscheidungen im Dublin-System getroffen worden sind, ohne dass eine sachliche Prüfung des Schutzbegehrens erfolgt ist (vgl. BVerwG, U.v. 17.8.2021 – 1 C 55.20 – BeckRS 2021, 35410 Rn. 18; VG Sigmaringen, U.v. 16.2.2021 – A 13 K 3481/18 – BeckRS 2021, 3031 Rn. 30; VG Minden, U.v. 22.2.2023 – 1 K 4557/21.A – BeckRS 2023, 2307 Rn. 50; a.A. VG Düsseldorf, B.v. 17.9.2020 – 22 L 1454/20.A – BeckRS 2020, 23717 Rn. 18).
21
Ausgehend hiervon handelt es sich nach gegenwärtiger Aktenlage bei dem Asylantrag des Antragstellers vom 22. Januar 2025 mangels Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags nicht um einen Folgeantrag. Mit Bescheid des Bundesamts vom 1. März 2023 wurde ausschließlich eine Entscheidung über die Zuständigkeit zur Durchführung des Asylverfahrens getroffen, ohne dass eine sachliche Prüfung des Schutzbegehrens erfolgt ist. Dass eine Entscheidung Österreichs über den dort gestellten Asylantrag des Antragstellers ergangen ist, lässt sich der gegenwärtigen Aktenlage nicht entnehmen und kann im Rahmen des Eilverfahrens auch nicht allein aufgrund des Zeitablaufs seit der Antragstellung in Österreich unterstellt werden.
22
Ist aber nach gegenwärtiger Aktenlage nicht von einem Folgeantrag auszugehen, hätte der Antrag nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abgelehnt werden dürfen mit den sich aus § 71 Abs. 4 und Abs. 5 AsylG ergebenden Folgen. Dafür, dass ein anderer Unzulässigkeitsgrund des § 29 Abs. 1 AsylG vorliegt, ist nach Aktenlage nichts ersichtlich. Deshalb ist die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, ohne dass es darauf ankommt, ob der Antragsteller mit seinem Antrag vom 22. Januar 2025 einen neuen Asylantrag stellen oder das Erstverfahren wiederaufgreifen und weiterverfolgen wollte.
23
Nachdem der Antrag bereits aus den vorstehend dargestellten Gründen Erfolg hat, kann dahinstehen, wie es rechtlich zu beurteilen ist und welche Folgen für die Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 27. März 2025 sich daraus ergeben, dass das Bundesamt das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei im Wege der Verneinung eines Wiederaufgreifens einer Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsverboten hinsichtlich Österreich im Wege des § 51 VwVfG bzw. nach § 49 VwVfG erstmals geprüft und hierüber entschieden hat.
24
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.