Titel:
Vom Gericht übergangener Wiedereinsetzungsantrag
Normenkette:
VwGO § 60 Abs. 1, Abs. 4, § 124 Abs. 2 Nr. 5
Leitsätze:
1. Anträge auf Wiedereinsetzung können auch noch nach Abweisung der Klage bzw. Verwerfung des Rechtsmittels als unzulässig beim nach § 60 Abs. 4 VwGO zuständigen Gericht gestellt werden. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Entscheidung über einen Antrag auf Zulassung der Berufung prüft der Verwaltungsgerichtshof – anders als im Rahmen eines Berufungsverfahrens – nicht die Zulässigkeit der Klage als Sachurteilsvoraussetzung von Amts wegen, sondern ist auf die Überprüfung der geltend gemachten und ausreichend dargelegten Zulassungsgründe beschränkt. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei einem in der ersten Instanz übergangenen Wiedereinsetzungsantrag entscheidet nicht das Rechtsmittelgericht über den Antrag, sondern das nach § 60 Abs. 4 VwGO zuständige Gericht. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
4. Das Übergehen eines beim Verwaltungsgericht gestellten Wiederreinsetzungsantrags (ohne dass die Voraussetzungen dafür vorlagen) durch das Verwaltungsgericht stellt einen Verfahrensmangel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO dar. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Klageabweisendes Prozessurteil, Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Keine Entscheidung durch das Verwaltungsgericht, Antrag auf Zulassung der Berufung, Verfahrensfehler, Wiedereinsetzungsantrag, Verfahrensmangel, Prozessökonomie, Wiedereinsetzung, Ablehnung, Zuständigkeit, gerichtliche Kontrolle, Zulassungsgründe
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 13.02.2025 – Au 5 K 24.2289
Fundstelle:
BeckRS 2025, 15686
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 13. Februar 2025 wird zugelassen.
II. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird vorläufig auf 15.000 € festgesetzt.
Gründe
1
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung wendet sich der Kläger dagegen, dass das Verwaltungsgericht seine Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 8. August 2024, mit dem die ihm erteilte Erlaubnis nach § 34c GewO widerrufen wurde, als unzulässig abgewiesen und über seinen Wiedereinsetzungsantrag in die versäumte Klagefrist nicht entschieden hat.
2
Laut Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13. Februar 2025 ist dem Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung erstmals mitgeteilt worden, dass seine Klage verfristet sei. Das Verwaltungsgericht verhandelte dennoch in der Sache und verkündete das klageabweisende Urteil noch in der mündlichen Verhandlung.
3
Am 20. Februar 2025 beantragte der Klägerbevollmächtigte beim Verwaltungsgericht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 VwGO wegen Versäumung der Klagefrist und legte zur Glaubhaftmachung des Vorliegens eines Wiedereinsetzungsgrundes eidesstattliche Versicherungen vor. Das mit den schriftlichen Gründen versehene Urteil, das die Klage als unzulässig abweist und auch – nicht entscheidungstragende – Hinweise zur Begründetheit der Klage enthält, wurde dem Klägerbevollmächtigten am 25. Februar 2025 zugestellt.
4
Die Berichterstatterin im erstinstanzlichen Verfahren teilte dem Klägerbevollmächtigten mit Schreiben vom 3. März 2025 mit, dass ihrer Ansicht nach das Verwaltungsgericht nicht zur Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag zuständig sei. Der Wiedereinsetzungsantrag könne im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens gestellt werden.
5
Mit Schriftsatz vom 11. März 2025 beantragte der Klägerbevollmächtigte die Zulassung der Berufung gegen das Urteil vom 13. Februar 2025 und vorsorglich beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er sei der Ansicht, dass das Verwaltungsgericht für die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag zuständig sei. Mit Schreiben vom 24. April 2025 begründete er den Antrag auf Zulassung der Berufung. Er macht einen Verfahrensfehler (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) geltend, weil das Verwaltungsgericht nicht über den am 20. Februar 2025 gestellten Wiedereinsetzungsantrag entschieden habe, sowie hilfsweise ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Widerrufsbescheids. Zugleich beantragt er die Zurückverweisung an das Verwaltungsgericht nach § 130 Abs. 2 VwGO.
6
Die Beklagte trat dem Zulassungsantrag entgegen.
7
Ergänzend wird auf die Gerichtsakten der ersten und zweiten Instanz verwiesen.
8
Die Berufung ist zuzulassen, weil das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 13. Februar 2025 an einem Verfahrensmangel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO leidet, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
9
1. Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht nicht über den bei ihm gestellten Antrag des Klägers nach § 60 Abs. 1 VwGO auf Wiedereinsetzung in die Klagefrist entschieden. In dem Schreiben der Berichterstatterin vom 3. März 2025 ist auch keine konkludente Ablehnung des Wiedereinsetzungsantrags zu sehen, da sie ausdrücklich klargestellt hat, dass mangels Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts nicht über den Wiedereinsetzungsantrag entschieden werde.
10
1.1 Der Hinweis des Verwaltungsgerichts im Schreiben vom 3. März 2025, wonach der Antrag auf Wiedereinsetzung beim Rechtsmittelgericht zu stellen sei, trifft in der hier vorliegenden Konstellation nicht zu, weil der Klägerbevollmächtigte den Wiedereinsetzungsantrag beim Verwaltungsgericht gestellt hat (20.2.2025), bevor er die Zulassung der Berufung gegen das erst am 25. Februar 2025 zugestellte Urteil beantragt hat (11.3.2025; zu dieser Konstellation vgl. BVerwG, B.v. 12.6.2020 – 8 B 8.20 – juris Rn. 6). Soweit das Verwaltungsgericht im Schreiben vom 3. März 2025 auf die Kommentierung von Czybulka/Kluckert in Sodan/Ziekow (VwGO, 5. Aufl. 2018, § 60 Rn. 138) verweist, liegen der genannten Kommentarstelle und den darin in Bezug genommenen Entscheidungen andere Konstellationen zugrunde (kein Wiedereinsetzungsantrag in der ersten Instanz, Revisionsverfahren, Wiedereinsetzungsantrag nach Einreichung der Nichtzulassungsbeschwerde). Anträge auf Wiedereinsetzung können auch noch nach Abweisung der Klage (die vorliegend bereits in der mündlichen Verhandlung erfolgte) bzw. Verwerfung des Rechtsmittels als unzulässig beim nach § 60 Abs. 4 VwGO zuständigen Gericht gestellt werden (BVerwG, B.v. 3.1.1961 – III ER 414.60 – NJW 1961, 573; BGH, B.v. 26.1.2016 – II ZR 57/15 – juris Rn. 3 m.w.N.). Denn ein Gericht darf ausnahmsweise ein/einen von ihm erlassenes Urteil/erlassenen Beschluss selbst aufheben und abändern, wenn das Gesetz es ausdrücklich zulässt oder der Sachzusammenhang es zwingend ergibt. Dies ist bei einer Wiedereinsetzung der Fall (Feskorn in Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 318 Rn. 4; ebenso BVerwG, B.v. 12.6.2020 – 8 B 8.20 – juris Rn. 7). Die Wiedereinsetzung beseitigt die der Partei durch Versäumung einer Frist entstandenen Rechtsnachteile; durch sie wird fingiert, dass eine verspätete bzw. versäumte und nachgeholte Prozesshandlung rechtzeitig vorgenommen wurde (BGH, B.v. 8.10.1986 – VIII ZB 41/.86 – juris Rn. 10).
11
1.2 Es kommt vorliegend nicht in Betracht, dass der Verwaltungsgerichtshof aus prozessökonomischen Gründen im Rahmen des Zulassungsverfahrens ausnahmsweise über den vom Verwaltungsgericht übergangenen Wiedereinsetzungsantrag entscheidet. Denn bei der Entscheidung über einen Antrag auf Zulassung der Berufung prüft der Verwaltungsgerichtshof – anders als im Rahmen eines Berufungsverfahrens – nicht die Zulässigkeit der Klage als Sachurteilsvoraussetzung von Amts wegen (so BGH, U.v. 20.5.2014 – VI ZR 384/13 – juris Rn. 7; Bier/Steinbeiß-Winkelmann in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand August 2024, § 60 VwGO Rn. 71), sondern ist auf die Überprüfung der geltend gemachten und ausreichend dargelegten Zulassungsgründe beschränkt.
12
1.3 Unabhängig davon liegt kein Fall vor, in dem die Rechtsprechung davon ausgeht, dass das Rechtsmittelgericht entgegen der gesetzlichen Regelung in § 60 Abs. 4 VwGO über einen in Bezug auf das Verfahren in der vorangegangenen Instanz beim Rechtsmittelgericht gestellten Wiedereinsetzungsantrag im Rechtsmittelverfahren entscheiden kann. Der Wiedereinsetzungsantrag ist nicht offensichtlich unzulässig (vgl. hierzu BVerwG, B.v. 12.6.2020 – 8 B 8.20 – juris Rn. 8; U.v. 22.2.1985 – 8 C 123.83 – NVwZ 1985, 484) oder offensichtlich unbegründet (vgl. dazu BGH, U.v. 4.11.1981 – IVb ZR 625/80 – juris Rn. 12 ff.). Die Wiedereinsetzung ist auch nicht ohne weiteres zu gewähren (BGH, B.v. 6.12.2017 – XII ZB 107/17 – FamRZ 2018, 449; B.v. 26.1.2016 – II ZR 57/15 – juris Rn. 4 m.w.N.). Der Wiedereinsetzungsantrag ist zwar fristgerecht gestellt worden, weil das Verwaltungsgericht den Klägerbevollmächtigten laut Aktenlage erstmals in der mündlichen Verhandlung auf die Versäumung der Klagefrist hingewiesen hat und diese auch vorher nicht erkennbar war. Innerhalb der Frist des § 60 Abs. 2 VwGO wurde auch ein Wiedereinsetzungsgrund glaubhaft gemacht. Die Verschuldensfrage bedarf aber weiterer Prüfung. Fehler von Hilfspersonen des Prozessbevollmächtigten – wie hier – sind dem Kläger nicht zurechenbar. Ob den Prozessbevollmächtigten vorliegend ein dem Kläger zurechenbares Organisationsverschulden (vgl. hierzu z.B. VGH BW, U.v. 21.6.2023 – 11 S 1695/22 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 13.12.1979 – 7 C 24.79 – juris Rn. 17 ff.) trifft, ist nicht ohne nähere Prüfung zu beantworten. Auch kann eine Wiedereinsetzung zugunsten des Klägers nicht ohne Weiteres unterstellt werden (dazu BAG, U.v. 4.6.2003 – 10 AZR 686/02 – juris Rn. 24), da das Verwaltungsgericht zur Begründetheit der Klage nicht (auch nicht hilfsweise) entschieden hat, sondern die Klage als unzulässig abgewiesen hat und die Ausführungen zur Begründetheit nur als Hinweis auf die Rechtslage erfolgten.
13
1.4 Die Annahme der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts bedeutet auch keine „übertriebene Förmelei“ im Sinne des Beschlusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. Januar 1961 (III ER 414.60), weil der Klägerbevollmächtigte den Wiedereinsetzungsantrag gerade nicht erst im Rahmen des Zulassungsverfahrens, sondern schon vorher beim Verwaltungsgerichts gestellt hat. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass nach § 60 Abs. 4 und 5 VwGO in den Fällen, in denen das Gericht, das über die versäumte Rechtshandlung – hier die verspätet erhobene Klage – zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung gewährt, diese Entscheidung für das Rechtsmittelgericht bindend ist (vgl. OVG NW, U.v. 21.1.1990 – 1 A 2027/89 – juris).
14
1.5 Die Auffassung, dass bei einem in der ersten Instanz übergangenen Wiedereinsetzungsantrag nicht das Rechtsmittelgericht über den Antrag entscheidet, sondern das nach § 60 Abs. 4 VwGO zuständige Gericht, entspricht im Übrigen auch der herrschenden Meinung in der Kommentarliteratur (vgl. Czybulka/Kluckert in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 60 Rn. 138 a.E.; Peters in Posser/Wolff/Decker, BeckOK VwGO, Stand 1.1.2025, § 60 Rn. 45; W.-R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 30. Aufl. 2024, § 60 Rn. 36). Eine andere Meinung vertreten lediglich Bier/Steinbeiß-Winkelmann (in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, § 60 VwGO Rn. 71), wobei die in Bezug genommenen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 25.4.2012 – 8 C 18.11 – juris Rn. 18 f.; U.v. 14.6.1983 – 6 C 162.81 – juris Rn. 18) nicht die hier vorliegende Konstellation betreffen, dass über den Wiedereinsetzungsantrag, obwohl er beim nach § 60 Abs. 4 VwGO zuständigen Gericht gestellt worden ist, nicht entschieden worden ist. Unklar ist insoweit die im Berichterstatterschreiben zitierte Kommentierung von Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 60 Rn. 42, 31.
15
2. Das Übergehen des vom Kläger beim Verwaltungsgericht gestellten Wiederreinsetzungsantrags (ohne dass die Voraussetzungen dafür vorlagen) durch das Verwaltungsgericht stellt einen Verfahrensmangel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO dar (vgl. Roth in Posser/Wolff/Decker, BeckOK VwGO, § 124 Rn. 80 ff.; Rudisile/Röcker in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, § 130 VwGO Rn. 7 m.w.N.).
16
3. Die Entscheidung kann auch auf dem Verfahrensfehler beruhen. Hätte das Verwaltungsgericht über den Antrag auf Wiedereinsetzung entschieden, ist nicht ausgeschlossen, dass es Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist gewährt hätte und in der Sache anstatt durch Prozessurteil entschieden hätte. Die Abweisung der Klage als unzulässig steht wegen der unterschiedlichen Rechtskraftwirkung einer Abweisung als unbegründet nicht gleich. Zudem hat das Verwaltungsgericht nur Hinweise zur materiellen Rechtslage erteilt.