Inhalt

VGH München, Beschluss v. 08.01.2025 – 10 ZB 23.815
Titel:

Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung

Normenketten:
BayPAG Art. 14 Abs. 1 Nr. 3
StPO § 81b Abs. 2, § 170 Abs. 2
Leitsatz:
Ein Tatverdacht iSd § 14 Abs. 1 Nr. 3 BayPAG kann auch nach einer Verfahrensbeendigung durch Einstellung oder einen Freispruch fortbestehen und damit als Anlass zur Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen wegen des weiter bestehenden Tatverdachts im Sinne dieser Vorschrift dienen, es sei denn, sämtliche Verdachtsmomente wären restlos ausgeräumt. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
erkennungsdienstliche Maßnahmen, vorbeugende Bekämpfung von Straftaten, Resttatverdacht trotz Verfahrenseinstellung, Wiederholungsgefahr, Polizeirecht, Gefahrenprognose, Einstellung, Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 14.03.2023 – Au 8 K 21.1582
Fundstelle:
BeckRS 2025, 153

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

1
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids des Beklagten vom 25. Juni 2021 weiter, mit dem seine erkennungsdienstliche Behandlung gemäß Art. 14 Abs. 1 Nr. 3 PAG angeordnet wurde.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Mit dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag sind die allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
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1. Solche Zweifel bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Die von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO geforderte Darlegung dieses Zulassungsgrundes erfordert innerhalb der Zulassungsbegründungsfrist von zwei Monaten eine konkret fallbezogene und hinreichend substantiierte Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung; es muss dargelegt werden, dass und weshalb das Verwaltungsgericht entscheidungstragende Rechts- und Tatsachenfragen unrichtig entschieden hat (BayVGH, B.v. 29.4.2020 – 10 ZB 20.104 – juris Rn. 3), wobei „darlegen“ schon nach allgemeinem Sprachgebrauch mehr als lediglich einen allgemeinen Hinweis bedeutet; „etwas darlegen“ bedeutet vielmehr so viel wie „erläutern“, „erklären“ oder „näher auf etwas eingehen“ (BVerwG, B.v. 9.3.1993 – 3 B 105.92 – juris Rn. 3 m.w.N.).
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2. Diese Anforderungen verfehlt das Zulassungsvorbringen.
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a) Der Kläger macht im Wesentlichen geltend, sämtliche strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen ihn seien eingestellt worden. Ein Restverdacht werde hier einzig und allein aufgrund von Vernehmungen von Beschuldigten, welche den Betroffenen belasteten, sowie Zeugenaussagen geltend gemacht. Eine erkennungsdienstliche Behandlung wegen vermuteter Wiederholungsgefahr sei vorliegend nicht gerechtfertigt. Der Kläger sei im Rahmen eines Strafverfahrens umfassend geständig gewesen. Die Anlasstat sei nicht vergleichbar mit den vom Kläger noch zur Zeit seiner Strafunmündigkeit begangenen Taten, bei denen gemäß § 45 JGG von einer Verfolgung abgesehen worden sei. Bei sämtlichen dem Kläger zur Last gelegten, mit geringer krimineller Energie begangenen Taten seien keine höherwertigen Schutzgüter gefährdet und keine bleibenden Schäden verursacht worden. Aus Art, Schwere und Begehungsweise des Tatvorwurfs im Anlassverfahren könne nicht auf eine Wiederholungsgefahr geschlossen werden. Allen im Jahr 2020 begangenen Taten liege ein altersgemäßes, typisches Unrechtsverständnis zugrunde. Der Kläger habe sämtliche Vorfälle bedauert und sich grundsätzlich entschuldigt. Der Kläger sei über zwei Jahre lang nicht mehr auffällig geworden. Die ihm vorgeworfenen Taten hätten sich schwerpunktmäßig im Zeitraum des sogenannten „Corona-Lockdowns“ im Jahr 2020 im Zusammenhang mit Maßnahmen wie zum Beispiel Schulschließungen ereignet. Es handle sich um ein nur punktuelles kriminelles Verhalten in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum. Aus sämtlichen Freisprüchen und einer Einstellung nach JGG nunmehr einen Anlass zur Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen wegen eines angeblich weiteren bestehenden Tatverdachts zu nehmen, sei nicht verhältnismäßig. Bei Jugendlichen seien die Voraussetzungen für eine Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen besonders hoch anzusetzen. Hier könne die Wiederholungsgefahr nur angenommen werden, wenn bereits verfestigte schädliche Neigungen vorlägen. Außerdem dürfe es sich nicht wie hier um klassisches jugendliches Fehlverhalten handeln, das typischerweise nur vorübergehend sei. Es müsse in die Abwägung auch einfließen, dass die Behandlung und der daraus folgende Verdacht die Persönlichkeitsentwicklung negativ beeinflussten.
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b) Der Kläger trägt lediglich vor, weshalb seiner Ansicht nach die Voraussetzungen für die Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung nicht vorliegen, ohne sich wie gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO geboten konkret mit der Begründung des angefochtenen Urteils auseinanderzusetzen. Im Übrigen bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Ergebnisrichtigkeit des Urteils.
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aa) Das Verwaltungsgericht (UA Rn. 32 f.) ist in Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. z.B. B.v. 25.3.2019 – 6 B 163.18 – juris Rn. 8) und des Verwaltungsgerichtshofs (vgl. z.B. B.v. 12.8.2022 – 10 CS 21.3080 – juris Rn. 9) davon ausgegangen, dass ein Tatverdacht im Sinne des § 14 Abs. 1 Nr. 3 PAG auch nach einer Verfahrensbeendigung durch Einstellung oder einen Freispruch fortbestehen und damit als Anlass zur Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen wegen des weiter bestehenden Tatverdachts im Sinne dieser Vorschrift dienen kann, es sei denn, sämtliche Verdachtsmomente wären restlos ausgeräumt. Für den Fall der vorliegenden Anlasstat (Verdacht des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und gemeinschädlicher Sachbeschädigung zwischen dem 27. und dem 28. April 2020) hat es richtigerweise keine Beseitigung des Tatverdachts angenommen, obwohl das betreffende strafrechtliche Ermittlungsverfahren mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Augsburg vom 19. Oktober 2020 wegen der damaligen Schuldunfähigkeit des Klägers (§ 19 StGB) gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden ist. Anhaltspunkte, die sämtliche Verdachtsmomente restlos ausräumen könnten, seien weder substantiiert vorgetragen noch ersichtlich. Ein ausreichender Restverdacht bestehe im konkreten Fall auch aufgrund der Vernehmung des Beschuldigten Z., welcher u.a. den Kläger belastet habe, sowie aufgrund von Zeugenaussagen.
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Der Kläger hat sich mit dieser Würdigung des Verwaltungsgerichts nicht auseinandergesetzt und nicht aufgezeigt, inwieweit diese unrichtig sein könnte. Insbesondere hat er keine Argumente vorgetragen, die nachvollziehbar für einen ausgeräumten Tatverdacht betreffend die Anlasstat sprechen würden.
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bb) Nach der Würdigung des Verwaltungsgerichts bestand für die noch nicht vollzogene Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung beim Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine hinreichende Wiederholungsgefahr (UA Rn. 34 ff.). Es berücksichtigte bei dieser Prognose das Alter des Klägers und stützte sie auf den bisherigen strafrechtlichen Werdegang, die Art und Weise der Begehung der dem Kläger in der Vergangenheit zur Last gelegten Taten sowie dessen Persönlichkeit. Der Kläger sei bereits wegen versuchter Nötigung (21. Februar 2020), Sachbeschädigung (12. März 2020 bis 14. März 2020), versuchter gefährlicher Körperverletzung (15. März 2020), Sachbeschädigung (19. März 2020), versuchter gefährlicher Körperverletzung (19. März 2020), gemeinschädlicher Sachbeschädigung (20. März 2020 bis 22. März 2020) und versuchter Sachbeschädigung (21. März 2020) polizeilich in Erscheinung getreten. Ein polizeilicher Restverdacht bestehe fort, auch wenn mit staatsanwaltschaftlicher Verfügung vom 3. September 2020 wegen einer zur Tatzeit fehlenden Schuldfähigkeit (§ 19 StGB) des Klägers von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens betreffend diese Taten gemäß § 152 Abs. 2 StPO abgesehen worden sei. Mehrere Umstände der betreffenden Ermittlungs- und Strafverfahren ([Teil-]Geständnis des Klägers, Einlassungen der Beschuldigten Z. und K., Feststellungen in einem amtsgerichtlichen Urteil vom 18. März 2021 bzw. Einstellungen gemäß § 154 Abs. 1 StPO jeweils gegenüber diesen Beschuldigten) sprächen gegen einen ausgeräumten Tatverdacht. Angesichts dessen bestünden weiterhin ausreichende Anhaltspunkte für eine künftige Straffälligkeit. Der Vorfall vom 4. November 2022 (vorsätzlicher unerlaubter Erwerb von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit unerlaubter Verbrauchsüberlassung von Betäubungsmitteln) bestätige die Prognose des Beklagten, wenngleich von der Strafverfolgung gemäß § 45 Abs. 1 JGG abgesehen worden sei.
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Der Kläger hat zunächst die vom Verwaltungsgericht (UA Rn. 35) unter Bezugnahme auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs (vgl. z.B. B.v. 12.8.2022 – 10 CS 21.3080 – juris Rn. 9) herangezogenen Rechtsgrundsätze zur Prüfung einer Wiederholungsgefahr nicht in Frage gestellt. Er hat sich weiter nicht mit der Begründung des Verwaltungsgerichts zur Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr aufgrund der Umstände des vorliegenden Einzelfalls auseinandergesetzt. Sein Vortrag, es habe sich um Bagatelldelikte gehandelt und es seien keine hochwertigen Schutzgüter betroffen gewesen, bagatellisiert seinerseits insbesondere die wiederholte Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit. Auch die weiteren im Raum stehenden Straftaten (z.B. Eigentumsdelikte), auf die sich jeweils der Tatverdacht bezieht, können nicht pauschal als geringfügig bezeichnet werden. Die Verfahrenseinstellung wegen einer Strafunmündigkeit des Klägers zur Tatzeit räumt diesen Verdacht nicht aus; sie belegt ebenso wenig ein fehlendes Rechtsverfolgungsinteresse. Der Umstand, dass der Kläger seine Taten bereuen mag, ändert nichts daran, dass jeweils ein erheblicher Tatverdacht betreffend die Begehung einer Serie von Straftaten erheblichen Gewichts besteht. Das Verwaltungsgericht (UA Rn. 42) weist zudem in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hin, ungeachtet der im Rahmen einer polizeilichen Anhörung am 20. März 2020 geäußerten Reue fehle dem Kläger ein altersgemäßes, typisches Unrechtsverständnis, wenn er in dieser Anhörung anführe, er habe gedacht, dass alles nicht so schlimm gewesen sei. Zudem habe der Kläger im Nachgang fortgesetzt, zuletzt mit Vorfall vom 4. November 2022, gegen strafrechtliche Vorschriften verstoßen. Die Prognose einer Wiederholungsgefahr wird auch nicht dadurch entkräftet, dass die Umstände während pandemiebedingter Lockdowns fallweise die Tatbegehung begünstigt haben könnten; dies hat auch das Verwaltungsgericht (UA Rn. 45) in Rechnung gestellt. Es ist jedenfalls nicht plausibel, wenn der Kläger von Taten im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Infektionen wie Schulschließungen spricht. Dieses Argument wäre allenfalls bei Taten beachtlich, die „lediglich“ gegen infektionsschutzrechtliche Anordnungen verstoßen hätten.
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cc) Das Verwaltungsgericht ist weiter zur Bewertung gelangt (UA Rn. 43), in einer Gesamtschau der dargestellten Aspekte ergäben sich auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Kläger (im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts) erst 16 Jahre alt bzw. bei der Anlasstat noch ein Kind gewesen sei, hinreichend begründete Anhaltspunkte für die Prognose, dass er auch künftig in den Kreis potentieller Beteiligter an einer noch aufzuklärenden strafbaren Handlung einbezogen werden könnte. Es hat dabei berücksichtigt, dass an die Prognose der Wiederholungsgefahr bei einem noch in der Persönlichkeitsentwicklung befindlichen Jugendlichen grundsätzlich strengere Anforderungen als bei einem Erwachsenen zu stellen seien (UA Rn. 44). Von Bedeutung sei insbesondere, ob es sich (lediglich) um ein typischerweise vorübergehendes jugendliches bzw. kindliches Fehlverhalten handele. Ebenso erfahre bei Jugendlichen, die sich noch in der Entwicklung befänden, der Umstand, wann der Betroffene zuletzt strafrechtlich in Erscheinung getreten sei, Relevanz. Das Verwaltungsgericht hat im Folgenden (UA Rn. 45 ff.) ausführlich begründet, warum es vorliegend unter Berücksichtigung der vorgenannten Grundsätze eine Wiederholungsgefahr angenommen hat, welche die Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen rechtfertigt. Insbesondere hat es schlüssig aufgezeigt, dass nicht von einem lediglich „vorübergehenden“, „typischerweise jugendlichen bzw. kindlichen Fehlverhalten“ gesprochen werden kann. Es hat weiter eingehend ausgeführt (UA Rn. 48 ff.), weshalb seiner Auffassung nach die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung des Klägers auch unter Berücksichtigung seines jungen Alters angesichts der Umstände des Einzelfalls im Einklang mit den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit steht.
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Die in der Antragsbegründung hervorgehobenen Maßgaben für die Beurteilung der Tatbegehung eines Minderjährigen, die sich im Wesentlichen mit den in der obergerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen (vgl. z.B. OVG NW, B.v. 7.8.2024 – 5 A 885/21 – juris Rn. 17) decken, stehen nicht in Widerspruch mit den genannten Überlegungen des Verwaltungsgerichts. Mit der einzelfallbezogenen Begründung in den Urteilsgründen zur Bewertung, auch unter Berücksichtigung der genannten Grundsätze sei die streitgegenständliche Anordnung gemäß Art. 14 Abs. 1 Nr. 3 PAG gerechtfertigt, hat sich der Kläger nicht auseinandergesetzt. Er belässt es im Wesentlichen bei der Behauptung, es habe sich bei den ihm zur Last gelegten Taten „nur“ um „klassisches jugendliches Fehlverhalten“ gehandelt, das typischerweise nur vorübergehend sei. Damit setzt er lediglich seine eigene Beurteilung an die des Verwaltungsgerichts, ohne aufzuzeigen, dass die Beurteilung des Verwaltungsgerichts fehlerhaft wäre. Seinem Hinweis, es müsse in die Abwägung auch einfließen, dass die erkennungsdienstliche Behandlung und der daraus folgende Verdacht die Persönlichkeitsentwicklung negativ beeinflussten, stellt die Richtigkeit des angefochtenen Urteils ebenfalls nicht in Frage; das Verwaltungsgericht hat diesem Umstand im Rahmen seiner Verhältnismäßigkeitsprüfung hinreichend Rechnung getragen.
13
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
14
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 § 52 Abs. 2 GKG.
15
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).