Titel:
Anspruch auf Weiterbetreuung im Kindergarten bei fehlendem Nachweis eines Impfschutzes gegen Masern
Normenketten:
IfSG § 20 Abs. 9 S. 1, S. 6, Abs. 12 S. 2
BayGO Art. 21 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Ein ärztliches Attest über eine Kontraindikation gegen die Masernimpfung muss wenigstens solche Angaben zur Art der medizinischen Kontraindikation enthalten, die das Gesundheitsamt in die Lage versetzen, das ärztliche Zeugnis auf Plausibilität hin zu überprüfen. Nicht ausreichend ist jedenfalls ein ärztliches Attest, das lediglich den Gesetzeswortlaut des § 20 Abs. 9 S. 1 Nr. 2 Alt. 2 IfSG wiederholt und sich insoweit auf die bloße Behauptung beschränkt, dass eine medizinische Kontraindikation vorliege (vgl. VGH München BeckRS 2021, 18528 Rn. 14). (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Da in den aktuellen Empfehlungen der Ständigen Impfkommission beim Robert Koch-Institut 2025 ausgeführt wird, dass eine Allergie gegen Hühnereiweiß keine Kontraindikation gegen die Mumps-Masern-Röteln-Impfung darstellt und dass das Risiko für anaphylaktische Reaktionen nach einer Mumps-Masern-Röteln-Impfung bei Personen mit nachgewiesener Hühnereiweißallergie nicht höher ist als das allgemeine Risiko für eine anaphylaktische Reaktion, ist der Schluss von einer attestierten Sensibilisierung auf eine medizinische Kontraindikation nicht plausibel. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Masernschutz, Kindergarten, Betreuungsverbot, Betreuung, Impfung, Impfnachweis, Masern, medizinische Kontraindikation, ärztliches Attest
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 08.07.2025 – 4 CE 25.1072
Fundstelle:
BeckRS 2025, 15368
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500 EUR festgesetzt.
Gründe
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Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Weiterbetreuung in einem Kindergarten der Antragsgegnerin.
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Die am … … 2020 geborene Antragstellerin wurde bis zum … Mai 2025 im Kindergarten Sch. straße in … betreut. Der Kindergarten wird von der Antragsgegnerin als öffentliche Einrichtung nach Maßgabe der „Satzung für die Kindergärten der Stadt …“ vom 1. September 2006, zuletzt geändert durch Satzung vom 16. November 2022, betrieben (im Folgenden: Kindergartensatzung).
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Laut einem Vermerk der Leiterin des Kindergartens legte die Mutter der Antragstellerin im Dezember 2023 ein am 21. September 2023 von Frau Dr. ... aus … erstelltes Attest vor. Der Einrichtungsleitung wurde nicht erlaubt, das Attest zu kopieren. Im „Übermittlungsbogen an das zuständige Gesundheitsamt“ wurde von der Leiterin des Kindergartens angekreuzt, dass ein Nachweis nicht erbracht worden sei und handschriftlich ergänzt, dass aufgrund eines Stoffes, auf den das Kind allergisch reagiere, derzeit nicht geimpft werden könne.
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Laut Mitteilung der Einrichtungsleitung an die Antragsgegnerin vom 25. November 2024 lag zu diesem Zeitpunkt immer noch kein Masernschutznachweis für die Antragstellerin vor.
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Mit Schreiben vom 22. April 2025 wies das Landratsamt Berchtesgadener Land, Verwaltung Gesundheits- und Veterinärwesen (im Folgenden: Gesundheitsamt), die Antragsgegnerin darauf hin, dass für die Antragstellerin kraft Gesetzes ein Betretungsverbot bestehe, da kein Nachweis nach § 20 Abs. 9 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) zum Masernschutz vorgelegt worden sei. Die Betreuung einer Person ohne gültigen Masernschutznachweis stelle eine Ordnungswidrigkeit dar. Die Antragsgegnerin werde daher aufgefordert, innerhalb von zwei Wochen die Beendigung der Betreuung der Antragstellerin gegenüber dem Gesundheitsamt nachzuweisen.
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Mit zur Post gegebenem Schreiben der Antragsgegnerin vom 29. April 2025 an die Eltern der Antragstellerin teilte die Antragsgegnerin mit, dass die Antragstellerin mit sofortiger Wirkung nicht mehr im Kindergarten Sch. straße betreut werden könne, weil kein Nachweis über einen Masernschutz nach § 20 Abs. 9 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) vorgelegt worden sei. Um eine erneute Aufnahme des Betreuungsplatzes zu ermöglichen, werde um Übermittlung eines Masernschutznachweises gebeten.
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Am 2. Mai 2025 wurde dem Kindergarten eine Ausfertigung des ärztlichen Attests von Frau Dr. med. … … … vom 21. September 2023 zum Verbleib übergeben. In dem Attest wird Folgendes ausgeführt: „O. g. Patientin wurde am …23 von mir untersucht. Es zeigten sich Sensibilisierungen gegenüber Nahrungsmitteln, insbesondere bei Eigelb und bei Eiklar, bei Metallen und bei PEG. Eine Immunschwäche ist anzunehmen. Momentan ist eine Impfung kontraindiziert, bis die Frage der Immunschwäche weiterhin geklärt ist.“
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Am Morgen des 6. Mai 2025 wurde der Antragstellerin die weitere Betreuung im Kindergarten verweigert. Dabei überreichte die Leiterin des Kindergartens der Mutter der Antragstellerin eine Kopie des Schreibens der Antragsgegnerin vom 29. April 2025.
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Mit Schriftsatz vom 6. Mai 2025 beantragt die Antragstellerin beim Verwaltungsgericht München:
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„Die Antragsgegnerin, die Stadt …, ist verpflichtet ab sofort dem Kind … die vertraglich festgelegte Betreuung während der Betreuungszeiten und Besuchszeiten zu ermöglichen und ihr jeden Zugang zu gewähren im städtischen Kindergarten Sch. straße in …“
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass kein Verwaltungsakt vorliege, sondern eine Nachricht einer unzuständigen Behörde. Es fehle an einer Anhörung und an einer Rechtsbehelfsbelehrung. Die Antragsgegnerin habe auch keine Zuständigkeit nach § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG, ein Betreuungsverbot zu erlassen. Den Vater der Antragstellerin, der unter einer anderen Adresse lebe, habe das Schreiben der Antragsgegnerin nicht erreicht. Das Schreiben der Antragsgegnerin sei auch nicht hinreichend bestimmt und begründet. Die Voraussetzungen für den Besuch des Kindergartens durch die Antragstellerin lägen vor. Die Antragstellerin habe ein ärztliches Attest von einem approbierten Arzt vorgelegt, das von der Einrichtungsleitung auch anerkannt worden sei. Die Antragstellerin sei durch die Abweisung an der Kindergartentür traumatisiert worden. Eine Hauptsacheklage werde in kurzer Zeit anhängig gemacht.
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Mit Schriftsatz vom 13. Mai 2025 führte die Antragsgegnerin ohne explizite Antragstellung aus, dass ein gesetzliches Betreuungsverbot für die Antragstellerin bestehe. Die Antragstellerin sei deshalb auf Rechtsgrundlage der Kindergartensatzung tätig geworden. Gemäß § 10 Abs. 1f der Kindergartensatzung könne ein Kind aus wichtigem Grund vom weiteren Besuch des Kindergartens ausgeschlossen werden. Ein Verwaltungsakt der Antragsgegnerin liege vor und sei auch inhaltlich hinreichend bestimmt. Zudem sei die Anhörung nach Art. 28 Abs. 2 Nr. 1 BayVwVfG entbehrlich gewesen. Eine inhaltliche Bewertung des Attestes vom 21. September 2023 habe durch die Einrichtungsleitung nicht vorgenommen werden können, sondern sei dem Gesundheitsamt vorbehalten. Das Schreiben der Antragsgegnerin sei an die dort bekannte Adresse der Erziehungsberechtigten versandt worden. Aufgrund der Kindergartensatzung seien Änderungen der Anschrift der Eltern der Antragsgegnerin umgehend mitzuteilen (§ 5 Abs. 5). Unter der von der Antragsgegnerin verwendeten Anschrift befänden sich sowohl an Briefkasten als auch Klingel die Namen beider Elternteile. Zudem sei das Schreiben am 6. Mai 2025 von der Einrichtungsleitung an die Mutter der Antragstellerin ausgehändigt worden.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 14. Mai 2025 führt die Bevollmächtige der Antragstellerin aus, dass die Antragstellerin plötzlich und ohne Vorbereitung aus der Kita verwiesen worden und momentan in tiefer Traurigkeit sei.
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Mit Schreiben vom 22. Mai 2025 bat das Gericht die Antragsgegnerin um Mitteilung über das Ergebnis einer Beurteilung des ärztlichen Attestes der Antragstellerin vom 21. September 2023 durch das Gesundheitsamt … …
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Mit Schriftsatz vom 26. Mai 2025 teilte die Antragsgegnerin mit, dass dem Gesundheitsamt bisher kein Attest vorgelegt worden sei, weil die Mutter der Antragstellerin die Anfertigung einer Kopie nicht erlaubt habe. Eine Ausfertigung zum Verbleib im Kindergarten sei erstmals am 2. Mai 2025 übergeben worden. Nach amtsärztlicher Einschätzung fehle es dem vorgelegten Attest im Ergebnis an der plausiblen Darlegung einer Kontraindikation, weshalb ein gesetzmäßiger Nachweis im Sinne des § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG weiterhin fehle. Auf das kraft Gesetzes bestehende Betreuungsverbot gemäß § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG werde vorsorglich hingewiesen.
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Für weitere Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
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Der Antrag bleibt ohne Erfolg.
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1. Das Gericht legt den Antrag unter Beachtung der Grenzen des § 88 i.V.m. § 122 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) dahingehend aus, dass die Antragstellerin vorläufig die weitere Betreuung im Kindergarten Sch. straße in … bis zu einer Entscheidung des Gerichts in der angekündigten Hauptsacheklage begehrt.
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2. Der so verstandene Antrag auf eine einstweilige Anordnung gemäß § 123 VwGO ist zulässig, insbesondere statthaft. Im vorliegenden Fall ist nicht etwa gemäß § 123 Abs. 5 VwGO Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO vorrangig. Das Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin hat in der Hauptsache einen Anspruch auf die weitere Betreuung der Antragstellerin im Kindergarten und damit eine Leistungsklage zum Gegenstand. Ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO wäre im vorliegenden Fall unstatthaft, weil es sich beim Schreiben der Antragsgegnerin vom 29. April 2025 nicht um einen Verwaltungsakt gemäß Art. 35 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz (BayVwVfG) handelt, da das Schreiben keine Regelung trifft. Der Inhalt des Schreibens ist durch Auslegung entsprechend §§ 133, 157 BGB nach der objektiven Erklärungsbedeutung, wie sie der Empfänger verstehen musste (vgl. BVerwG, U.v. 27.6.2012 – 9 C 7/11 – beckonline Rn. 18), zu ermitteln. Danach kann das Schreiben nur so verstanden werden, dass die Antragsgegnerin keine Regelung gegenüber der Antragstellerin vornehmen, sondern lediglich auf das Bestehen des gesetzlichen Betreuungsverbots gemäß § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG hinweisen wollte, das derzeit einer Betreuung der Antragstellerin entgegensteht. Hierfür spricht insbesondere, dass die Antragsgegnerin nach dem eindeutigen Wortlaut des Schreibens gerade keinen Ausschluss bzw. keine Kündigung im Sinne von § 10 der Kindergartensatzung nach dem dort vorgesehenen Verfahren ausgesprochen hat, welche einen dauerhaften Verlust des Betreuungsplatzes nach sich gezogen hätte. Der Hinweis, dass eine „erneute Aufnahme des Betreuungsplatzes“ nach Übermittlung eines Masernschutznachweises möglich sei, ist nach dem objektiven Empfängerhorizont so zu verstehen, dass der Betreuungsplatz der Antragstellerin (zumindest vorerst) erhalten bleibt und die tatsächliche Betreuung ausgesetzt wird, bis für die Antragstellerin der gemäß § 20 Abs. 9 IfSG erforderliche Nachweis vorgelegt wird, so dass es lediglich von einer Handlung der Antragstellerin bzw. ihrer Eltern abhängt, ob er wieder genutzt werden kann. An diesem Auslegungsergebnis vermag die nachträgliche Einlassung der Antragsgegnerin, sie habe mit dem Schreiben durch Verwaltungsakt eine Kündigung aussprechen wollen, nichts zu ändern, da es auf den nach außen im Schreiben nicht in Erscheinung getretenen subjektiven Willen der Antragsgegnerin für die Auslegung nicht ankommt. Vor dem Hintergrund, dass das Schreiben vom 29. April 2025 keine Regelung enthält, kommt es nicht auf die zwischen den Beteiligten streitige Tatsache an, ob und wann das Schreiben den Eltern der Antragstellerin zugegangen ist und ob eine Anhörung hätte erfolgen müssen.
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3. Der Antrag ist jedoch unbegründet.
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3.1. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragspartei vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung). Dabei hat die Antragspartei sowohl die Dringlichkeit einer Regelung (Anordnungsgrund) als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) zu bezeichnen und glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 1 und 2, 294 Zivilprozessordnung – ZPO). Der Antrag kann nur Erfolg haben, wenn und soweit sich sowohl Anordnungsanspruch als auch -grund aufgrund der Bezeichnung und Glaubhaftmachung als überwiegend wahrscheinlich erweisen (BayVGH, B.v. 16.8.2010 – 11 CE 10.262 – juris Rn. 20 m.w.N.). Maßgeblich sind die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
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3.2. Im vorliegenden Fall hat die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch für eine Regelungsanordnung nicht glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin hat im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts keinen Anspruch gegen die Antragsgegnerin auf weitere Betreuung im Kindergarten S. straße in F., da derzeit ein gesetzliches Betreuungsverbot gemäß § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG besteht.
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a) Der Anspruch der Antragstellerin auf weitere Betreuung im Kindergarten der Antragstellerin besteht nur insoweit, als hiermit nicht gegen das Betreuungsverbot in § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG verstoßen wird. Der Anspruch der Antragstellerin auf weitere Betreuung im Kindergarten der Antragstellerin findet seine gesetzliche Grundlage in Art. 21 Abs. 1 Satz 1 der Bayerischen Gemeindeordnung (GO) i.V.m. der Kindergartensatzung der Antragstellerin. Gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GO sind Gemeindeangehörige nach den bestehenden allgemeinen Vorschriften berechtigt, die öffentlichen Einrichtungen der Gemeinde zu benutzen. Eine allgemeine Vorschrift in diesem Sinne stellt auch das gesetzliche Betreuungsverbot in § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG dar. Bei einem Verstoß gegen das gesetzliche Betreuungsverbot erfolgt die Betreuung nicht mehr im Rahmen der allgemeinen Vorschriften im Sinne von Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GO, so dass auch kein Anspruch nach dieser Vorschrift besteht.
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b) Zulasten der Antragstellerin besteht derzeit ein gesetzliches Betreuungsverbot nach § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG.
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Nach § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG darf eine Person, die ab der Vollendung des ersten Lebensjahres keinen Nachweis nach Abs. 9 Satz 1 vorlegt, nicht in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 Nr. 1 bis 3 IfSG betreut werden.
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Beim Kindergarten Sch. straße handelt es sich um eine Gemeinschaftseinrichtung nach § 33 Nr. 1 IfSG.
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Für die Antragstellerin, welche das erste Lebensjahr vollendet hat, wurde bisher noch kein Nachweis nach § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG vorgelegt.
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Eine Impfdokumentation oder ein ärztliches Zeugnis über einen ausreichenden Impfschutz im Sinne von § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 IfSG wurde für die Antragstellerin nicht vorgelegt.
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Auch ein ärztliches Zeugnis im Sinne von § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 IfSG darüber, dass bei der Antragstellerin eine Immunität gegen Masern vorliegt oder sie aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden kann, liegt bezüglich der Antragstellerin nicht vor. Die Anforderungen an den Inhalt eines ärztlichen Zeugnisses über eine Kontraindikation ergeben sich aus der Auslegung der einschlägigen Rechtsvorschriften, insbesondere aus der Regelungssystematik und dem Sinn und Zweck von § 20 IfSG. Gemäß § 20 Abs. 12 Satz 2 IfSG kann das Gesundheitsamt bei Zweifeln an der Echtheit oder inhaltlichen Richtigkeit des vorgelegten Nachweises unter anderem eine ärztliche Untersuchung im Hinblick auf die medizinische Kontraindikation anordnen. Das Attest muss daher wenigstens solche Angaben zur Art der medizinischen Kontraindikation enthalten, die das Gesundheitsamt in die Lage versetzen, das ärztliche Zeugnis auf Plausibilität hin zu überprüfen. Nicht ausreichend ist jedenfalls ein ärztliches Attest, das lediglich den Gesetzeswortlaut des § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 IfSG wiederholt und sich insoweit auf die bloße Behauptung beschränkt, dass eine medizinische Kontraindikation vorliege (vgl. BayVGH, B.v. 07.07.2021 – 25 CS 21.1651 – juris Rn. 14 mit Verweis auf SächsOVG, B.v. 05.05.2021 – 3 B 411/20 – juris Rn. 21 ff.; OVG NRW, B.v. 20.12.2024 – 13 B 179/24 – juris Orientierungssatz; VG Meiningen, B.v. 10.11.2020 – 2 E 1144/20 – juris Rn. 26 f.; ebenso VG Regensburg, B. v. 19.07.2023 – RN 5 S 23.1198 – juris Rn. 32; VG Ansbach, B. v. 28.05.2021 – AN 18 S 21.00932 – juris Rn. 22; Gebhard in Kießling, IfSG, 3. Aufl. 2022, § 20 Rn. 50; Aligbe in Eckart/Winkelmüller, BeckOK, Infektionsschutzrecht, IfSG § 20 Rn. 222a). Ein inhaltlich unrichtiges oder nicht plausibles Attest erfüllt daher die Vorlagepflicht nicht.
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Daran gemessen, fehlt es im vorliegenden Fall an der Plausibilität des Nachweises einer medizinischen Kontraindikation. Soweit in der ärztlichen Bescheinigung vom 21. September 2023 „Sensibilisierungen gegenüber Nahrungsmitteln, insbesondere bei Eigelb und bei Eiklar, bei Metallen und bei PEG“ bei der Antragstellerin attestiert werden, ist der im Attest vorgenommene Schluss auf eine medizinische Kontraindikation gegen die Masernschutzimpfung nicht plausibel. Bei einer Sensibilisierung handelt es sich um eine Immunantwort nach Kontakt mit einem bestimmten Antigen und Ausbildung allergenspezifischer IgE-Antikörper, die bei erneutem Kontakt möglicherweise eine Allergie bis hin zu einem anaphylaktischen Schock auslöst, aber auch asymptomatisch verlaufen kann. Der Nachweis einer Sensibilisierung erfolgt durch Hauttestung oder Enzym-Allergo-Sorbent-Test. Erst ein positiver Provokationstest sichert eine Allergie (https://www.pschyrembel.de/Sensibilisierung/K0KRV, abgefragt am 04.06.2025). Kontraindikationen gegen die Masernimpfung sind in den jeweiligen Fachinformationen der Masernimpfstoffe aufgeführt, ergänzend können die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission beim Robert Koch-Institut Orientierung geben (vgl. Robert Koch-Institut (RKI), https://www.rki.de/SharedDocs/FAQs/DE/Impfen/MMR/Masernimpfung/FAQ-Liste_Masernimpfung.html?nn=16777208#entry_16871004, abgefragt am 04.06.2025). In den Fachinformationen, hier beispielhaft für den Masernimpfstoff Priorix-Tetra, wird ausgeführt: „Die Masern- und Mumpskomponenten des Impfstoffes werden in Kulturen embryonaler Hühnerzellen hergestellt und können daher Spuren von Hühnereiweiß enthalten. Bei Personen mit anaphylaktischen, anaphylaktoiden oder anderen Reaktionen vom Soforttyp (z. B. generalisierte Urtikaria, Schwellung des Mundes und Rachens, Atembeschwerden, Hypotonie oder Schock) nach Verzehr von Hühnereiweiß ist das Risiko für eine Überempfindlichkeitsreaktion vom Soforttyp nach der Impfung erhöht, obwohl diese Reaktionen nur sehr selten beobachtet wurden.“ (Nr. 4.4 der Fachinformation Priorix-Tetra, Stand Dezember 2019, Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, https://portal.dimdi.de/amispb/doc/pei/Web/2603731-spcde-20191201.pdf, abgefragt am 04.06.2025). Zudem wird in den aktuellen Empfehlungen der Ständigen Impfkommission beim Robert Koch-Institut 2025 ausgeführt, dass eine Allergie gegen Hühnereiweiß keine Kontraindikation gegen die Mumps-Masern-Röteln-Impfung darstellt und dass das Risiko für anaphylaktische Reaktionen nach einer Mumps-Masern-Röteln-Impfung bei Personen mit nachgewiesener Hühnereiweißallergie nicht höher ist als das allgemeine Risiko für eine anaphylaktische Reaktion (RKI, Epidemologisches Bulletin, 4/2025 vom 23. Januar 2025, S. 39). Vor diesem Hintergrund ist der im Attest vom 21. September 2023 vorgenommene Schluss von den attestierten Sensibilisierungen auf eine medizinische Kontraindikation nicht plausibel. Wie auch das Gesundheitsamt in seiner Stellungnahme vom 26. Mai 2025 zutreffend ausführt, wird mit den attestierten Sensibilisierungen bereits keine Allergie gegen einen Bestandteil der Masernimpfung attestiert, geschweige denn das erhöhte Risiko einer anaphylaktischen Reaktion, was jedoch Voraussetzung für eine Kontraindikation wäre. Insbesondere weist das Gesundheitsamt zutreffend darauf hin, dass eine Sensibilisierung nicht gleichbedeutend mit einer Allergie ist, sondern dass bei einer vorliegenden Sensibilisierung für die Diagnose einer Allergie noch zusätzliche Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Soweit in der ärztlichen Bescheinigung vom 21. September 2023 zum anderen attestiert wird, dass eine „Immunschwäche … anzunehmen“ und dass die Impfung kontraindiziert sei, bis die Frage der „Immunschwäche weiterhin geklärt“ sei, ist auch dies nicht plausibel. Das Attest äußert lediglich einen Verdacht auf Immunschwäche, diagnostiziert diese aber nicht. Insbesondere stellt – worauf auch das Gesundheitsamt in seiner Stellungnahme hinweist – eine Sensibilisierung bzw. Allergie keine Immunschwäche dar. Insoweit fehlt der im Attest gezogenen Schlussfolgerung bereits die tatsächliche Grundlage. Im Übrigen – ohne dass es aufgrund der fehlenden Diagnose noch darauf ankäme – ist darauf hinzuweisen, dass selbst bei einer diagnostizierten Immunschwäche die Masernschutzimpfung nicht grundsätzlich kontraindiziert wäre, sondern dass im Gegenteil ein möglichst weitreichender Impfschutz unter Berücksichtigung der individuellen Besonderheiten angestrebt werden sollte (vgl. RKI, Epidemologisches Bulletin, 4/2025 vom 23. Januar 2025, S. 42). In den bereits zitierten Fachinformationen des Impfstoffes Priorix-Tetra wird als Kontraindikation zur Masernschutzimpfung hinsichtlich Immunschwäche beispielsweise eine „Schwere humorale oder zelluläre Immundefizienz (angeboren oder erworben), z.B. schwere kombinierte Immundefizienz, Agammaglobulinämie und AIDS oder symptomatische HIV-Infektion…“ genannt. Zu alledem, insbesondere zur Art und Schwere der bei der Antragstellerin vermuteten Immunschwäche, enthält das Attest jedoch keine Angaben.
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Auch eine Bestätigung einer Stelle im Sinne von § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 3 IfSG liegt für die Antragstellerin nicht vor.
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Auf die in der Antragsbegründung aufgeworfenen Frage, ob die Antragsgegnerin ein Betreuungsverbot aussprechen durfte, kommt es angesichts des bestehenden gesetzlichen Betreuungsverbots nicht an.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO. Die Regelung des § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO findet keine Anwendung, weil es nicht entscheidungserheblich auf jugendhilferechtliche Vorschriften (z. B. SGB XIII, BayKiBiG) ankommt, sondern die Entscheidung des Rechtsstreits sich nach infektionsschutz- und kommunalrechtlichen Bestimmungen (insbes. § 20 IfSG und Art. 21 GO) richtet (vgl. BayVGH, B.v. 12.10.2022 – 4 CS 22.2054 – juris, Rn. 20).
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4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG) i.V.m. Nrn. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.