Titel:
Prüfung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses im Rahmen eines behaupteten Impfschadens
Normenkette:
AMG § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 1
Leitsätze:
1. Maßgeblich für die Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses im Rahmen des § 84 Abs. 11 S. 2 Nr. 1 ist die wissenschaftlich belegte Unvertretbarkeit der schädlichen Wirkungen des Arzneimittels bei dessen Einsatz. Die (Un-)Vertretbarkeit der schädlichen Wirkungen eines Arzneimittels ist durch eine auf die jeweilige Indikation des Medikaments bezogene Nutzen-Risiko-Abwägung zu ermitteln. (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Nutzen-Risiko-Abwägung hat abstrakt-generellen Charakter und findet unter Berücksichtigung sämtlicher schädlichen Wirkungen für die vollständige durch die Indikationsangabe des pharmazeutischen Unternehmers anvisierte Patientengruppe statt. Sie wird hingegen nicht bezogen auf den individuell Geschädigten vorgenommen. (Rn. 44) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Arzneimittel, Impfschaden, Nutzen-Risiko-Abwägung, Impfstoff, Nutzen-Risiko-Verhältnis, schädliche Wirkungen
Fundstelle:
BeckRS 2025, 15261
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird auf 72.000,00 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Klägerin verlangt von der Beklagten Schmerzensgeld und die Feststellung der künftigen Schadenersatzpflicht der Beklagten aufgrund behaupteter Impfschäden im zeitlichen Zusammenhang mit einer Impfung der Klägerin mit dem SARS-CoV-2-Impfstoff Comirnaty der Beklagten.
2
Die EU-Kommission erteilte der Beklagten für den Impfstoff Comirnaty am 21.12.2020 eine bedingte Zulassung, mit Durchführungsbeschluss vom 10.10.2022 die unionsweit geltende Standardzulassung.
3
Die EMA (Europäische Arzneimittel-Agentur) bzw. der dort ansässige Ausschuss für Humanarzneimittelmedizin (CHMP) hatte den gegenständlichen Impfstoff geprüft und nach wissenschaftlicher Beurteilung der Wirksamkeit und Sicherheit des Impfstoffes Comirnaty jeweils das Vorhandensein eines positiven Nutzen-Risiko-Verhältnisses festgestellt. Mit Beschluss der EU-Kommission vom 03.07.2024 wurde die Zulassung für den an die Omikron JN.1-Variante angepassten Impfstoff erweitert und der Durchführungsbeschluss vom 10.10.2022 geändert.
4
In Deutschland wurde der Impfstoff Comirnaty nach der Zulassung millionenfach verabreicht.
5
Die am ...1989 geborene Klägerin erhielt im Impfzentrum am .05.2021 die erste Corona-Schutzimpfung mit dem Impfstoff Comirnaty des Herstellers B./P., Chargennummer (vgl. Anlage K 2) und am ...06.2021 die zweite Corona-Schutzimpfung mit dem Impfstoff Comirnaty des Herstellers B./P. (Chargennummer nicht vorgetragen).
6
Zu dem am .12.2022 durch die Klägerin gestellten Antrag auf Anerkennung eines Impfschadens beim zuständigen Versorgungsamt liegt mittlerweile eine ablehnende, noch nicht rechtskräftige Entscheidung vor.
7
Die Klägerin trägt vor, dass sie als Logopädin in einer Praxis sowie in Kindergärten und Heimen arbeite. Sie habe sich impfen lassen, da sie Druck von außen verspürt habe und ohne Impfung ein Begehungsverbot für ihre Patienten gedroht habe.
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Nach der 1. Impfung habe sie Beschwerden wie Schwindel, Fieber und Unwohlsein verspürt und sei eine Woche lang krankgeschrieben gewesen. Ihr sei trotzdem zu der 2. Impfung geraten worden. Nach der zweiten Impfung mit dem Impfstoff der Beklagten habe sie ähnliche Symptome gehabt. Ca. 11 Tage nach der Impfung hätten sich am ganzen Körper Hämatome und Petechien gebildet und sie habe sich stark erschöpft gefühlt. Da ihr unwohl gewesen sei, sei sie am ...07.2021 zum Hausarzt gegangen. Am .07.2021 habe dieser sie nach Erhalt des Ergebnisses der Blutuntersuchung sofort in die Notaufnahme des Klinikums geschickt. Sie habe nur noch eine geringe Anzahl an Erythrozyten gehabt. Im Klinikum sei eine akute ITP (Immunthrombozytopenie) diagnostiziert worden (Anlage K 3), die dauerhaft sei. Ohne die entsprechende Behandlung hätte sie verbluten können. Sie sei anschließend 6 Monate lang krank geschrieben gewesen.
9
Aufgrund der verabreichten Cortisontherapie habe sich zusätzlich eine Nebenniereninsuffizienz entwickelt. Sie müsse daher das Medikament Revolade täglich, Schmerzmittel nach Bedarf und verschiedene Vitaminpräparate einnehmen. Außerdem habe sie ein Lymphödem an Armen und Beinen bekommen, das sie beim Laufen beeinträchtige. Durch das Cortison sei es zu einer massiven Gewichtszunahme von 25 kg gekommen. Sie leide außerdem an einem Erschöpfungssyndrom.
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Die Klägerin könne zwar inzwischen wieder arbeiten. Aufgrund der bestehenden erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen müsse die Klägerin aber immer wieder krankgeschrieben werden und habe viele Fehlzeiten. Sie könne nicht wie früher Sport im Fitnessstudio, bei Stepaerobic oder Aqua-Gymnastik machen, laufen oder Tennis spielen. Sie sei sehr schnell erschöpft und liege dann wieder flach.
11
Vor den Impfungen habe sie keine gravierenden Vorerkrankungen gehabt, wie sich aus den als Anlagen K 53, 53/1 und 53/2 vorgelegten Karteieinträgen ihres Hausarztes ergebe. Die Thrombozyten seien vor den Impfungen im Normbereich gewesen (vgl. Anlage K 3).
12
Die Klägerin meint, ihr stehe ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 40.000,00 EUR sowie die Feststellung der weiteren Schadensersatzpflicht für materiellen und immateriellen Schaden aus § 84 Abs. 1 AMG, § 823 Abs. 1 BGB iVm § 253 Abs. 2 BGB sowie § 826 BGB zu.
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Der Impfstoff habe kein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis im Sinne des § 84 Abs. 1 AMG. Er schütze nicht wirksam vor einer Erkrankung durch das Corona-Virus. Ein therapeutischer Wert des streitgegenständlichen Vakzins sei nicht ersichtlich. Die Beklagte habe das Produkt aus reiner Gewinnsucht auf dem Markt gebracht und dabei Gesundheitsschäden an Dritten billigend in Kauf genommen. Es bestehe der Verdacht, dass der Impfstoff systematisch verunreinigt gewesen sei.
14
Eine Aufklärung der Klägerin bezüglich der Risiken der Impfung sei nicht erfolgt. Bei Kenntnis, dass sich die Impfung mit den entsprechenden Risiken bei ihr auswirke, hätte sich die Klägerin nicht impfen lassen.
15
Die Klägerin beantragt,
- 1.
-
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, jedoch 40.000,00 € nicht unterschreiten soll, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
- 2.
-
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche materiellen und immateriellen künftigen Schäden zu ersetzen, die aus der Impfung mit dem Impfstoff Comirnaty am ...05.2021 und ...06.2021 entstehen, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergehen.
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Die Beklagte beantragt,
17
Die Beklagte meint, die Vortrag der Klägerin zur Krankengeschichte sei unzureichend, weshalb sich kein Kausalzusammenhang zwischen den Impfungen am .05.2021 und .06.2021 und den gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin herstellen ließe.
18
Das Nutzen-Risiko-Verhältnis des Impfstoffs Corminaty der Beklagten sei uneingeschränkt positiv. An die arzneimittelrechtliche Zulassung, die die EU-Kommission für den Impfstoff erteilt habe, seien die Zivilgerichte gebunden.
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Die Fach- und Gebrauchsinformationen des Impfstoffs hätten zu jeder Zeit dem jeweils aktuellen Stand der Wissenschaft entsprochen.
20
Die Arzneimittelinformation sei ordnungsgemäß, so dass kein Informationsfehler, ohnehin kein kausaler, gegeben sei. Diese Arzneimittelinformationen seien jederzeit für jedermann zugänglich gewesen. Eine mangelhafte Aufklärung der Klägerin vor der Impfung könne der Beklagten nicht angelastet werden.
21
Durch das stete Beachten der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt läge kein Verschulden vor, welches für die Haftung nach Deliktsrecht benötigt würde.
22
Für die Gesundheitsbeeinträchtigungen bei der Klägerin gebe es andere Ursachen als die Impfung wie eine Autoimmunerkrankung. Die Klägerin habe angegeben, dass die Hämatome und Petechien nach einem Umzug aufgetreten seien, so dass auch eine intensive Aktivität als Alternativursache in Betracht komme.
23
Der Feststellungsantrag sei unzulässig und unbegründet.
24
Die Klagepartei behauptet, dass der Vortrag zum Krankheitsverlauf ausreichend belegt und substantiiert sei.
25
Es gebe keine naheliegenden Alternativursachen für die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin. Im Übrigen sei eine Mitursächlichkeit ausreichend.
26
Der gesundheitliche Status der Klägerin vor den Impfungen ergebe sich aus Patientenakte des Hausarztes.
27
Bei der Beurteilung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses seien nicht alle Daten zu Nebenwirkungen berücksichtigt worden, so dass die Schlussfolgerungen der CHMP vom 15.09.2022 (Anlage K 42), dass der Nutzen das Risiko überwiegt, nicht richtig gewesen sei.
28
Die Klage wurde am 22.08.2024 zugestellt.
29
Das Gericht hat am 15.05.2025 mündlich verhandelt und die Klägerin dabei informatorisch angehört. Insoweit wird auf das Protokoll der Sitzung vom 15.05.2025 verwiesen.
30
Zur Ergänzung, Vertiefung und Vervollständigung wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie das Protokoll der Sitzung vom 15.05.2025 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
31
Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
32
Die Klage ist zulässig.
33
1. Das Landgericht Passau ist gem. Art. 7 Nr. 2 EuGVVO international und nach § 94a Abs. 1 AMG örtlich zuständig.
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2. Das für die erhobene Feststellungsklage gem. § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse ist aus Sicht der Kammer hinreichend dargelegt. Bei unterstellter Haftung der Beklagten auf Basis des klägerischen Vortrags, ist derzeit noch nicht absehbar, wie sich der gesundheitliche Zustand der Klägerin weiter entwickeln wird, so dass eine abschließende Bezifferung sämtlicher möglicherweise auf die streitgegenständlichen Impfungen zurückzuführenden (im-)materiellen Schäden derzeit, auch im Hinblick auf die jedem Schmerzensgeldbegehren zu Grunde liegende Prognose, nicht möglich ist.
35
Die Klage ist unbegründet.
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Das geltend gemachte Schmerzensgeldbegehren sowie der Feststellungsantrag bestehen dem Grunde nach nicht, so dass die Nebenforderungen ebenfalls unbegründet sind.
37
Der Klägerin steht im Hinblick auf das geltend gemachte Schmerzensgeldbegehren weder ein Anspruch aus § 84 Abs. 1 AMG noch ein sonstiger Anspruch gegen die Beklagte zu.
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Daher kann offen bleiben, ob die Impfungen mit Comirnaty für die bei der Klägerin behaupteten Gesundheitsschäden im Rahmen eines Anspruchs aus § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AMG auf Basis des klägerischen Vortrags als nachvollziehbar und ursächlich angenommen werden könnte.
39
1.1 Die Schadensersatzpflicht des pharmazeutischen Unternehmers besteht nach § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AMG, wenn „das Arzneimittel bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen“.
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Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der anspruchsbegründenden zusätzlichen Voraussetzungen nach § 84 Abs. 1 Satz 2 AMG trägt nach allgemeinen Regeln die Klägerseite (vgl. BGH, Urteil vom 19.03.1991 – VI ZR 248/90 – NJW 1991, 2351; LG Darmstadt a.a.O.). Vor dem Hintergrund dieses Maßstabes genügt das Vorbringen die Klägerseite nicht, um die Annahme einer negativen Nutzen-Risiko-Bilanz zu tragen.
41
Nach Ansicht der Kammer hat der gegenständliche Impfstoff auch nach Stand der letzten mündlichen Verhandlung weiterhin ein positives Nutzen-Risiko-Profil.
42
In Anlehnung an § 5 Abs. 2 AMG liegt eine Bedenklichkeit von Arzneimitteln vor, wenn „nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse der begründete Verdacht besteht, dass sie bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen haben, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen“. Der Anspruch eines Geschädigten ist somit nur dann begründet, wenn ein negatives Nutzen-Risiko-Verhältnis festgestellt wird. Dabei kommt es nicht auf den Zeitpunkt der Zulassung an, sondern auf die heutige Sicht unter Einbeziehung der zwischenzeitlich erfolgten, weiteren Erkenntnisse.
43
Maßgeblich für die Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses ist die wissenschaftlich belegte Unvertretbarkeit der schädlichen Wirkungen des Arzneimittels bei dessen Einsatz. Die (Un-)Vertretbarkeit der schädlichen Wirkungen eines Arzneimittels ist durch eine auf die jeweilige Indikation des Medikaments bezogene Nutzen-Risiko-Abwägung zu ermitteln (BGH, Urt. v. 19.03.1991 – VI ZR 248/90, juris; OLG Koblenz, Urt. v. 10.07.2024 – 5 U 1375/23 [rechtskräftig] m.w.N.). Damit trägt die Vorschrift dem Umstand Rechnung, dass es sich bei Arzneimitteln um Produkte handelt, die unvermeidbar neben ihren therapeutischen Wirkungen auch Risiken mit sich bringen (Kügel/Müller/Hofmann/Brock, 3. Aufl. 2022, AMG § 84 Rn. 68).
44
Die Nutzen-Risiko-Abwägung hat abstrakt-generellen Charakter und findet unter Berücksichtigung sämtlicher schädlichen Wirkungen für die vollständige durch die Indikationsangabe des pharmazeutischen Unternehmers anvisierte Patientengruppe statt. Sie wird hingegen nicht bezogen auf den individuell Geschädigten vorgenommen (OLG Koblenz, Urt. v. 10.07.2024 – 5 U 1375/23 m.w.N.). Als Ausgleich dient im Fall einer im Einzelfall nachgewiesenen Kausalität die staatliche Unterstützung nach § 60 Abs. 1 Nr. 1a IfSG. Diese hat die Klägerin beim zuständigen Zentrum, Region, Versorgungsamt beantragt (vgl. Anlage K 6).
45
Im Zulassungsverfahren für ein Medikament oder einen Impfstoff wird auf anonymisierte Studien zurückgegriffen, wobei die Gesamtheit der Ergebnisse bewertet wird.
46
Daten zu den jeweils individuellen Risiken liegen dabei nicht vor. Die Spezifika des konkreten Einzelfalls können dagegen nur von dem das Arzneimittel einsetzenden Arzt beurteilt und beachtet werden. Erfahrungen aus Einzelfällen fließen wiederum in Form der Art, Schwere und statistischen Häufigkeit von unerwünschten Nebenwirkungen in die Gesamtabwägung ein. Durch Meldepflichten wird sichergestellt, dass Erfahrungen aus Einzelfällen auch tatsächlich Berücksichtigung finden können. Aus diesem Verständnis heraus hat die Nutzen-Risiko-Abwägung nicht anhand der „Einzelumstände“ bei der konkret zu impfenden Person zu erfolgen (OLG Koblenz, Urt. v. 10.07.2024 – 5 U 1375/23).
47
Die ermittelten Risiken und der nachgewiesene Nutzen müssen gegeneinander abgewogen werden. Nach § 4 Abs. 28 AMG umfasst das Nutzen-Risiko-Verhältnis „eine Bewertung der positiven therapeutischen Wirkungen des Arzneimittels im Verhältnis zu dem Risiko nach Absatz 27 Buchstabe a“, welches sich definiert als „jedes Risiko im Zusammenhang mit der Qualität, Sicherheit oder Wirksamkeit des Arzneimittels für die Gesundheit der Patienten oder die öffentliche Gesundheit“. Dabei gilt: Je besser der therapeutische Nutzen und je schwerwiegender die Erkrankung ohne Impfung, desto eher können auch gravierende schädliche Wirkungen akzeptiert werden (OLG Koblenz, Urt. v. 10.07.2024 – 5 U 1375/23 m.w.N.). Es werden mithin Art, Gefahr und Häufigkeit der schädlichen Nebenwirkungen mit dem potentiellen Nutzen und der Dringlichkeit der Behandlung ins Verhältnis gesetzt. Dabei kann das Risiko des Todes oder des Eintritts schwerster oder schwerer, womöglich irreparabler Gesundheitsschäden im Fall der unterlassenen Verwendung des Arzneimittels ein höheres Risiko vertretbar erscheinen lassen.
48
Risiken für den Einzelnen lassen sich nicht gänzlich ausschließen, auch wenn dies im Einzelfall bei Risikoverwirklichung schwer hinnehmbar erscheint.
49
Nach übereinstimmender Rechtsprechung kommt es für die Beurteilung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die schädlichen Wirkungen im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung an (dazu näher OLG Koblenz, Urteil vom 10.07.2024 – 5 U 1375/23; OLG München, Verfügung vom 12.12.2024 – 14 U 3100/24 e). Schädliche Arzneimittelwirkungen, die im Rahmen der umfangreichen Prüfung der Arzneimittelzulassung zutreffend als vertretbar eingestuft wurden, können daher nur dann zu einer Haftung führen, wenn die Schwere oder Häufigkeit der schädlichen Wirkungen sich im Vergleich zu dem Zeitpunkt der Zulassung verändert haben. Deshalb bedarf es einer substantiierten Darlegung, dass nach der letzten Zulassungsentscheidung eines Arzneimittels neue Erkenntnisse aufgetreten sind, bei deren Berücksichtigung eine andere Zulassungsentscheidung veranlasst gewesen wäre (dazu OLG Bamberg, Hinweisbeschluss vom 14.08.2023 – 4 U 15/23) oder dass damals bekannte Umstände bei der Zulassungsentscheidung nicht berücksichtigt worden seien.
50
Unter Zugrundelegung der vorgenannten Maßstäbe ist das Nutzen-Risiko-Verhältnis für den gegenständlichen Impfstoff im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nach Ansicht der Kammer als positiv zu bewerten.
51
Die Kammer ist der Auffassung, dass die Zulassungsentscheidungen der Europäischen Kommission zur bedingten und dann unbedingten Zulassung des Impfstoffs Tatbestandswirkung entfaltet und demnach von einer rechtswirksamen Zulassung ausgegangen werden kann (so auch OLG Koblenz 10.07.2024, 5 U 1375/23 und OLG München, Verfügung vom 12.12.2024, 14 U 3100/24 e).
52
Der streitgegenständliche Impfstoff hat nach seiner Entwicklung insbesondere in der EU ein reguläres, zentralisiertes arzneimittelrechtliches Zulassungsverfahren durchlaufen und zunächst eine bedingte Zulassung durch die Europäische Kommission, dann am 10.10.2022 die sog. Standardzulassung erhalten.
53
Voraussetzung für die Zulassungen war dabei jeweils eine positive Nutzen-Risiko-Bilanz. Sie ist jeweils in den beiden Zulassungsverfahren durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA), einer fachkundig besetzten Behörde, ausdrücklich und auf Grundlage umfangreicher wissenschaftlicher Studien bestätigt worden. Der Impfstoff wird zudem kontinuierlich und engmaschig von den zuständigen Aufsichtsbehörden überwacht, da dies eine Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Zulassung ist (vgl. LG Darmstadt Urteil vom 21.12.2023 – 7 O 94/22; LG Arnsberg, Urteil vom 21.12.2023 – I-1 O 39/23).
54
Die Zulassungsentscheidung vom 10.10.2022 bestätigte die Entscheidung vom 21.12.2020 über die bedingte (außerordentliche) Zulassung bei positiver Nutzen-Risiko-Analyse und wurde um die Erweiterung der Zulassung vom 03.07.2024 in Bezug auf die Omikron JN.1-Variante erneut bestätigt.
55
Bei der Entscheidung, ob ein Arzneimittel zur Vermarktung zugelassen wird, prüft die zuständige Behörde im Rahmen des Zulassungsverfahrens, ob die therapeutische Wirksamkeit des Arzneimittels ausreichend belegt und dessen Sicherheit nachgewiesen ist. Die Beurteilung schließt mit einer Nutzen-Risiko-Abwägung für das Arzneimittel ab (Art. 26 der RL 2001/83/EG). Der Entscheidung geht eine umfassende Prüfung aller vorhandenen wissenschaftlichen Daten und Erkenntnisse voraus, die auch etwaige Nebenwirkungen umfasst.
56
Die fachkundig besetzte Sachverständigenausschuss der EMA (im Übrigen auch der WHO) sah auf Basis der o.g. Kriterien ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis für den gegenständlichen Impfstoff und die nachfolgend entwickelten Impfstoff-Formulierungen als gegeben an. Auch nach der STIKO-Empfehlung vom 08.01.2021 (s. Anlage S09) ist das Nutzen-Risiko-Profil positiv.
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Selbst wenn man nicht von einer Bindungs-, sondern lediglich von einer Indizwirkung der Zulassungsentscheidung in Bezug auf das positive Nutzen-Risiko-Verhältnis ausginge, ergäbe sich aus Sicht der Kammer kein anderes Ergebnis.
58
Die Kammer gelangt auf der Grundlage der Bewertung der Expertengremien (dazu BVerwG, Beschluss vom 07.07.2022 – 1 WB 2/22, BVerwGE 176, 138) zu dem Ergebnis, dass das Nutzen-Risiko-Verhältnis des streitgegenständlichen Impfstoffs nach den von den Parteien vorgetragenen Tatsachen zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung projiziert auf den Zeitpunkt der Impfung positiv ist.
59
Der Nutzen des Impfstoffs wäre durch die nicht durch Einzelbeiträge in Zweifel zu ziehende, wissenschaftlich belegte Vermeidung von zahlreichen Todesfällen und schweren Krankheitsverläufen hoch.
60
Die Dringlichkeit war im Hinblick auf die allen Beteiligten bekannte pandemische Lage ebenfalls hoch. In dieser Phase zunächst Langzeitstudien, deren Fehlen klägerseits moniert wird, für den Zeitraum von zehn bis 15 Jahren abzuwarten, war vor dem Hintergrund des Pandemieverlaufs keine ernsthaft in Erwägung zu ziehende Option. Das Fehlen von Langzeitstudien ebenso wie abgekürzte oder parallel durchgeführte Studienphasen sind bereits der bedingten Zulassung eines Arzneimittels nach Art. 14-a Abs. 1 Verordnung (EG) 726/2004 immanent, wonach „in hinreichend begründeten Fällen (…) zur Schließung medizinischer Versorgungslücken für Arzneimittel, die zur Behandlung, Vorbeugung oder ärztlichen Diagnose von zu schwerer Invalidität führenden oder lebensbedrohenden Krankheiten bestimmt sind, eine Zulassung erteilt werden [kann], ehe umfassende klinische Daten vorliegen, sofern der Nutzen der sofortigen Verfügbarkeit des betreffenden Arzneimittels auf dem Markt das Risiko überwiegt, das sich daraus ergibt, dass nach wie vor zusätzliche Daten erforderlich sind.“ Nach Satz 2 kann in „Krisensituationen (…) eine Zulassung solcher Arzneimittel erteilt werden, selbst wenn noch keine vollständigen vorklinischen oder pharmazeutischen Daten vorgelegt wurden.“
61
Ergänzend dürfen nach Absatz 3 Zulassungen nach Art. 14-a nur erteilt werden, wenn „das Nutzen-Risiko-Verhältnis positiv ist und der Antragsteller aller Wahrscheinlichkeit nach in der Lage ist, umfassende Daten bereitzustellen.“
62
Die von der Beklagten vorgelegten Daten aus klinischen und nichtklinischen Studien waren für den CHMP und die EMA offensichtlich bereits zur Erfüllung der dargelegten Zulassungsvoraussetzungen für die bedingte Zulassung, die unbedingte Zulassung und die Erweiterungen ausreichend. Angesichts der relativ gesehen hohen Zahlen schwerer Verläufe bei COVID-19, der schnell überlasteten Kliniken und den fehlenden Beatmungsgeräten einerseits sowie der Sicherheit des zugelassenen und inzwischen weltweit massenhaft verabreichten Impfstoffes andererseits geht eine rationale Abwägung von Nutzen und Kosten der Impfung zu deren Gunsten aus. In der medizinischen Fachwelt besteht weitestgehend ein Konsens dahingehend, dass der Impfstoff in erheblichem Umfang vor einem potenziell schweren Verlauf der Corona-Infektion schützt (vgl. LG Arnsberg Urteil vom 21. Dezember 2023 – I-1 O 39/23).
63
Dass der Impfstoff keinen oder nur einen geringen therapeutischen Nutzen haben soll, da dieser keinen oder nur einen geringen Wirkungsgrad aufweise und nicht vor einer Ansteckung schütze, entbehrt vor dem Hintergrund der wissenschaftlich belegten Verhinderung von (nicht nur EU-weit) zahlreichen Todesfällen und schweren Verläufen einer nachvollziehbaren Grundlage.
64
Während der Klagevertreter lediglich auf bisher ergangene Beweisbeschlüsse verweist und einräumte, dass er bisher kein einziges gerichtliches Gutachten erhalten hat, das eine negative Nutzen-Risiko-Abwägung aus heutiger Sicht feststellt, wurden von Beklagtenseite bereits fertiggestellte Gutachten von gerichtlich bestellten Sachverständigen als qualifizierter Parteivortrag vorgelegt.
65
In dem pharmakologischen Gutachten der Sachverständigen vom Universitätsklinikum vom 10.07.2024 in dem Verfahren vor dem Landgericht München II, Az.: 1 O 1383/23, bezogen auf den Impfstoff B. (Anlage B3, S. 6 ff) wird ausgeführt:
66
Nach der sog. „bedingten Marktzulassung“ aufgrund der nachvollziehbaren positiven Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses, die von der Europäischen Kommission im Dezember 2020 erteilt wurde, schließt sich die sog. „Pharmakovigilanz“ an mit Erfassung von Spontanmeldungen über Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Periodischen Sicherheitsberichten. Zu dieser Sicherheitsüberwachung mit einem Risiko-Management-Plan zur Feststellung und Untersuchung von sicherheitsrelevanten Ereignissen wurde die Beklagte bei der bedingten Marktzulassung verpflichtet. Zusätzlich wurden die verfügbaren Daten auch durch das R.-K.-Institut, der Ständigen Impfkommission des RKI und der Strategic Advisory Group of Experts on Immunization Working group on COVID-19 vaccines (SAGE) geprüft und analysiert.
67
Zusätzlich wurden die eingereichten Daten stichprobenartig und anlassbezogen durch die Behörden auf ihre Korrektheit und Angemessenheit durch Inspektionen der durchführenden Einrichtungen vor Ort überprüft. Auf dieser Basis wurde für den bestimmungsgemäßen Gebrauch wiederholt und kontinuierlich ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis festgestellt, weil die Vorteile der Impfung die potenziellen Risiken deutlich überwiegen. Entsprechend gehen einzelne – sogar schwerwiegende – schädigende Wirkungen (bis hin zu Todesfällen) in der Zusammenschau nicht über ein nach den bestehenden Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinaus.“ (Gutachten B 3, S. 14)
68
Auch der gerichtlich bestellte Sachverständige kommt in seinem Gutachten vom 03.05.2024 S. 36 ff für das Landgericht Köln, Az.: 3 O 143/22 (Anlage B 5) zu dem Ergebnis, dass der Nutzen bestimmungsgemäß angewandter Comirnaty-Impfungen seit der Zulassung am 21.12.2020 und den darauffolgenden Impfungen bis zur Begutachtung im Mai 2024 stets sehr hoch war. Die Risiken schädlicher Wirkungen bestimmungsgemäß angewandter Comirnaty Impfungen waren stets und sind weiterhin vertretbar. (…) Der Nutzen überwog und überwiegt stets trotz der Risiken. Das positive Nutzen-Risiko Verhältnis ist bisher nicht ins Negative umgekippt.
69
Vor diesem Hintergrund hätte es der Klagepartei oblegen, im Einzelnen darzulegen, weshalb die von der Europäischen Kommission getroffenen Entscheidungen nicht dem maßgeblichen Stand wissenschaftlicher Erkenntnis entsprochen habe und dass stattdessen auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse von einer negativen Bilanz auszugehen sei. Dies leistet die Klägerseite nicht. Auch ein substantiierter Vortrag der Klägerseite zu Fehlern im Zulassungsverfahren oder zu zwischenzeitlich neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die zu einer geänderten Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses führen würden, liegt nicht vor. Der Vortrag stützt sich auf nicht verifizierte Verdachtsmeldungen von Impfschäden sowie nicht überprüfbare Quellen aus dem Internet und abweichende Einzelmeinungen. Bei den in der EMA-Datenbank gelisteten Fällen handelt es sich um reine Verdachtsfallmeldungen in Bezug auf Nebenwirkungen, die nicht in die Abwägung einzubeziehen sind. Diese Meldungen beruhen zudem allein auf den subjektiven Angaben vermeintlich Betroffener, ohne dass die Ursächlichkeit der Impfung für den Eintritt der Nebenwirkung oder des Todes festgestellt worden wäre. Die Zahl derjenigen Fälle, bei denen diese Kausalität tatsächlich feststeht, ist bedeutend geringer und überdies Bestandteil der Evaluierung im Zulassungsverfahren gewesen, so dass sich hieraus keine Anhaltspunkte für eine negative Nutzen-Risiko-Bilanz ergeben. Bezüglich der Liste des P.-E.-Instituts gilt dasselbe, zumal die dort enthaltenen Fälle ausdrücklich lediglich als „Verdachtsfälle“ bezeichnet werden.
70
Eine Beweiserhebung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens und die gegenbeweisliche Einbeziehung der oben genannten Gutachten war aufgrund fehlender Anknüpfungstatsachen und des qualifizierten und nachvollziehbaren Vortrags der Beklagten daher nicht durchzuführen.
71
Unabhängig davon, ob die Einholung eines Gutachtens aufgrund willkürlicher Behauptungen der Klagepartei auf eine Ausforschung hinauslaufen würde, stehen daneben die Einschätzungen des Ausschusses für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz, PRAC, und des Ausschusses für Humanarzneimittel, CHMP, als Organe der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) sowie des nationalen P.-E.-Instituts (PEI) einer sachverständigen Begutachtung gleich und vermitteln dem Gericht die notwendige Fachkenntnis, um die Frage des Nutzen-Risiko-Verhältnisses im Rahmen eines Anspruchs nach § 84 Abs. 1 AMG beantworten zu können (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 10.07.2024 – 5 U 1375/23).
72
Soweit die Klagepartei eine Verunreinigung des Impfstoffs vorträgt, handelt es sich um eine Behauptung ins Blaue hinein, die einem Sachverständigenbeweis nicht zugänglich ist. Es wird nicht einmal vorgetragen, welche Chargennummer die Impfdosis am ...06.2021 hatte und diese mit der angegebenen Untersuchung der angeblich verunreinigten Impfdosen übereinstimmt.
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1.2 Der Haftungstatbestand des § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AMG ist ebenfalls nicht erfüllt.
74
Danach besteht eine Ersatzpflicht des pharmazeutischen Unternehmers nur dann, wenn der Schaden infolge einer nicht den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft entsprechenden Kennzeichnung (§ 10 AMG), Gebrauchsinformation (= Packungsbeilage, § 11 AMG) oder Fachinformation (§ 11a AMG) eingetreten ist. Anhaltspunkte dafür, dass die Produktinformation i.S.d. § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AMG nicht dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entspreche, liegen nicht vor.
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Ein Fall von § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AMG ist gegeben, wenn in der Kennzeichnung, Fachinformation oder Gebrauchsinformation Risiken eines Arzneimittels unerwähnt bleiben, ohne deren Kenntnis beim Verbraucher ein Gesundheitsschaden entstehen kann. Ferner muss der Schaden infolge einer nicht den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft entsprechenden Kennzeichnung, Fachinformation oder Gebrauchsinformation eingetreten sein. Der Schaden muss auf der Anwendung des Arzneimittels beruhen und zugleich infolge einer fehlerhaften Arzneimittelinformation eingetreten sein (doppelte Kausalität).
76
Die Klägerin hat darzulegen und zu beweisen, dass der Schaden nicht eingetreten wäre, wenn die Arzneimittelinformation erschöpfend und zutreffend gewesen wäre (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 10.07.2024 – 5 U 1375/23; Anschluss an BGH, Urteil vom 24.01.1989 – VI ZR 112/88). Ein Ursachenzusammenhang zwischen der fehlerhaften Information und der Gesundheitsverletzung ist dabei nur zu bejahen, wenn diese bei ordnungsgemäßer Information mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre und ein echter Entscheidungskonflikt vorlag, wofür die Klagepartei die Beweislast trägt (vgl. BGH, Urteil vom 24.01.1989, Az. VI ZR 112/88; LG Arnsberg, Urteil vom 21.12.2023 – I-1 O 39/23).
77
Für die Aufnahme eines entsprechenden Hinweises in den Informationsträgern ist ein ernst zu nehmender Verdacht in Bezug auf ein bestimmtes Risiko erforderlich, der auf validen Daten beruht und wissenschaftlich gesichert ist (vgl. BGH Urteil vom 24.01.1989 – VI ZR 112/88; OLG Bamberg, Urteil vom 18.04.1996 – 1 U 66/94; OLG Frankfurt, Urteil vom 11.11.1993 – 1 U 254/88; OLG Köln, Urteil vom 17.09.1993 – 20 U 26/93; Franzki in BeckOGK AMG, Stand:
01.09.2022, § 84 Rn. 102; Brock in Kügel/Müller/Hoffmann, AMG, 3. Aufl. 2022, § 84 Rn. 101). Inhalt und Umfang einer gebotenen Warnung und auch ihr Zeitpunkt werden wesentlich durch das jeweils gefährdete Rechtsgut bestimmt und sind vor allem von der Größe der Gefahr abhängig (OLG Bamberg Urteil vom 18.04.1996 – 1 U 66/94). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung, ob die Arzneimittelinformationsträger (Kennzeichnung, Gebrauchs- und Fachinformationen) mit den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft übereinstimmen, ist der Zeitpunkt des Inverkehrbringens (vgl. BGH, Urteil vom 24.01.1989 – VI ZR 112/88; OLG Schleswig, Urteil vom 20.12.2013 – 4 U 121/11; OLG Frankfurt, Urteil vom 11.11.1993 – 1 U 254/88).
78
Es fehlt bereits substantiierter Vortrag die Klägerin dazu, dass die Beklagte zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des streitgegenständlichen Impfstoffs einen ernstzunehmenden Verdacht eines gehäuften Auftretens die klägerseits aufgeführten Folgen nach einer Impfung, insbesondere eine ITP (Immunthrombozytopenie), gehabt habe, auf den hinzuweisen gewesen wäre. Es fehlen jegliche greifbaren Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Kennzeichnung und Dokumentation durch die Beklagte.
79
Vielmehr folgt aus den wiederholten Zulassungen durch die EMA und den hierfür erforderlich gewordenen Überprüfungen, dass die Angaben inhaltlich nicht zu beanstanden gewesen sind. Auch aus dem Haftungsausschluss in den Verträgen zwischen der Beklagten und der Europäischen Kommission über die Lieferung der Impfstoffe kann nicht geschlossen werden, dass die Beklagte bei Vertragsschluss Kenntnis von einer angeblichen Gefährlichkeit und erheblichen Nebenwirkungen des Impfstoffs hatte. Vielmehr hatte die Beklagte ein nachvollziehbares Interesse daran, kein unkalkulierbares Haftungsrisiko für bisher unbekannte Komplikationen einzugehen, denn es handelte sich um einen neuartigen Impfstoff, dessen Langzeitwirkungen noch nicht abschließend bekannt sein konnten. Gleichzeitig bestand ein hohes gesellschaftliches Interesse an der Bereitstellung des Impfstoffes zur Eindämmung der Pandemie (vgl. LG Arnsberg, Urteil vom 21.12.2023 – I-1 O 39/23).
80
Zu verlangen ist zumindest die klägerische Vortrag konkreter Anhaltspunkte dafür, dass bei der Beklagten schon zum maßgeblichen Zeitpunkt des Inverkehrbringens der jeweiligen Charge Informationen vorhanden gewesen seien, aus denen sich ergibt, dass die Kennzeichnung, Fach- oder Gebrauchsinformation des Medikaments nicht den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft genügten. Solchen Vortrag bleibt die Klage schuldig.
81
Unabhängig davon wäre eine etwaige Informationspflichtverletzung für die vorgebrachten Gesundheitsbeschwerden im Fall der Klägerin nicht nachweisbar ursächlich geworden. Ein solcher Kausalzusammenhang zwischen der fehlenden oder fehlerhaften Information und der Gesundheitsverletzung ist dann zu bejahen, wenn diese bei ordnungsgemäßer Information mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre (vgl. BGH, Urteil vom 24.01.1989 – VI ZR 112/88).
82
Die Kammer ist im Übrigen nach informatorischer Anhörung der Klägerin (dazu Protokoll vom 15.05.2025) nicht davon überzeugt, dass die Klägerin bei weitergehenden, ihre behaupteten Gesundheitsschäden umfänglich betreffenden Produktinformationen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf die gegenständlichen SARS-CoV-2-Schutzimpfung i.S. eines echten Entscheidungskonflikts verzichtet hätte.
83
Hierfür trägt die Klägerin die Darlegungs- und Beweislast, wobei die Kammer nicht verkennt, dass an die Substantiierungslast keine allzu hohen Anforderungen zu stellen sind.
84
Nach den Angaben der Klägerin im Rahmen der informatorischen Anhörung ist davon auszugehen, dass sich die Klägerin ohnehin hätte impfen lassen. Sie hat nachvollziehbar angegeben, dass sie ohne die Impfung nicht mehr als Logopädin in der Praxis oder in Heimen und Kindestagesstätten hätte arbeiten dürfen. Sie hätte in den Einrichtungen ein Betretungsverbot bekommen. Davon, dass die Klägerin die behauptete ablehnende Haltung gegen die Impfung bei entsprechender Informationslage bereits zum Zeitpunkt der beiden gegenständlichen Impfungen und unbeeinflusst von dem nachfolgenden Geschehensablauf, mithin aus einer ex ante-Sicht heraus, gehabt hätte und sich daher mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht hätte impfen lassen, ist die Kammer nicht überzeugt, § 286 ZPO.
85
Da bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 2 AMG nicht erfüllt sind, kann dahinstehen, ob die Impfung mit dem gegenständlichen Impfstoff kausal für den bei der Klägerin eingetretenen behaupteten Schaden in Form von einer ITP (Immunthrombozytopenie) mit Erschöpfungssyndrom war.
1.3 Die Klägerin hat keinen Anspruch aus § 32 GenTG
86
Ein Anspruch aus § 32 GenTG kommt wegen § 37 Abs. 1 GenTG (Vorrang des AMG) nicht in Betracht. Bei dem Impfstoff handelt es sich um kein Gentherapeutikum (vgl. auch LG Frankfurt a.M., Urteil vom 14.02.2024 – 2-12 O 264/22; Aufklärungsbogen vom 11.06.2021, Anlage K 16).
87
1.4 Weitere deliktische Ansprüche aus §§ 823 ff. BGB, insbesondere die geltend gemachten § 823 Abs. 1 BGB und § 826 BGB, greifen ebenfalls nicht durch.
88
In Hinblick auf eine Produzentenhaftung aus § 823 BGB gilt:
89
Dass die Beklagte zu dem Zeitpunkt der gegenständlichen Impfungen schuldhaft eine Instruktions- oder Warnpflicht verletzt hätte, steht – auch im Hinblick auf das laufend überwachte positive Nutzen-Risiko-Verhältnis und die behördlichen Zulassungsentscheidungen – nicht fest (dazu eingehend LG Frankenthal, Urteil vom 20.02.2024 – 8 O 259/22). Dass ein Pharmaunternehmen Haftungsvereinbarungen trifft, ist kein Beleg für die Annahme eines vorsätzlichen oder auch nur fahrlässigen Handelns. Dass, die Verletzung einer Instruktions- oder Warnpflicht unterstellt, eine solche nicht nachweisbar kausal gewesen wäre, steht überdies nicht fest (s.o.).
90
Ein Anspruch aus § 826 BGB scheitert daran, dass die Entwicklung eines Impfstoffs mit einem (behördlich festgestellten) positiven Nutzen-Risiko-Verhältnis per se nicht sittenwidrig ist. Es fehlt im Übrigen auch der Nachweis eines Schädigungsvorsatzes.
91
Auch ein Anspruch aus §§ 823 Abs. 2 BGB, 95 AMG ist nicht gegeben, denn keine der in der Vorschrift aufgeführten Handlungsalternativen ist erfüllt. Insbesondere liegt aufgrund der oben dargelegten positiven Nutzen-Risiko-Bilanz weder ein Verstoß gegen § 5 AMG noch gegen § 8 AMG vor. So kann nicht von einem bedenklichen Arzneimittel gemäß § 5 Abs. 2 AMG oder von einem qualitativ minderwertigen Arzneimittel gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 1 AMG gesprochen werden. Es ist auch nicht ersichtlich, dass bei der Herstellung des streitgegenständlichen Impfstoffes entgegen § 6 AMG verbotene Stoffe verwendet worden sein (vgl. LG Arnsberg, Urteil vom 21.12.2023 – I-1 O 39/23).
92
Klageantrag 1 ist somit unbegründet.
93
Damit ist auch der mit Klageantrag Ziff. 2 geltend gemachte Feststellungsantrag abzuweisen.
94
Die geltend gemachten Zinsen sind aufgrund der unbegründeten Hauptforderungen nicht zuzusprechen.
95
1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
96
2. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit basiert auf § 709 Satz 1, 2 ZPO.
97
Die Entscheidung über die Festsetzung des Gebührenstreitwerts ergeht gemäß §§ 43 Abs. 1, 48 Abs. 1 Satz 1 GKG i.V.m. § 3 ZPO.