Inhalt

VerfGH München, Entscheidung v. 11.06.2025 – Vf. 24-III-24
Titel:

Überhang- und Ausgleichsmandate bei der bayerischen Landtagswahl

Normenketten:
VfGHG Art. 48 Abs. 1 Nr. 3
BV Art. 14 Abs. 1,Art. 33 S. 2, Art. 63
LWG Art. 21 Abs. 3, Abs. 4, Art. 42 Abs. 4, Art. 44 Abs. 1, Abs. 2, Art. 45 Abs. 1 S. 1
GG Art. 28 Abs. 1 S. 1, S. 2
Leitsätze:
1. Die Vereinbarkeit der grundsätzlichen Zulassung von Überhang- und Ausgleichsmandaten durch Art. 14 Abs. 1 Satz 6 BV mit dem Homogenitätsgrundsatz gemäß Art. 28 Abs. 1 GG steht auch vor dem Hintergrund der Änderung des Bundeswahlgesetzes durch Gesetz vom 8. Juni 2023 (BGBl I Nr. 147) nicht infrage. (Rn. 61)
2. Art. 44 Abs. 2 LWG , der das Entstehen von Überhang- und Ausgleichsmandaten näher regelt, verstößt nicht gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 BV ). Alle Abgeordneten, ob im Stimmkreis oder auf der Liste gewählt, sind durch das Wahlergebnis demokratisch legitimiert. (Rn. 66)
Schlagworte:
Landtagswahl, Bayern, Wahlprüfung, Ausgleichsmandate, Überhangmandate, Homogenitätsgrundsatz, Verhältniswahlrecht, Fünf-Prozent-Sperrklausel
Fundstelle:
BeckRS 2025, 15010

Tenor

Der Antrag wird abgewiesen.

Entscheidungsgründe

I.
1
Gegenstand des Verfahrens ist ein auf zwei Wahlprüfungsbegehren beruhender gemeinsamer Antrag auf Entscheidung über die Gültigkeit der Landtagswahl 2023.
2
1. Am 8. Oktober 2023 fand die Wahl zum Bayerischen Landtag für die 19. Legislaturperiode statt, bei der die Antragsteller stimmberechtigt waren. Die Bekanntmachung des Landeswahlleiters des Freistaates Bayern vom 24. Oktober 2023 zum Ergebnis der Wahl wurde am 10. November 2023 veröffentlicht (StAnz Nr. 45). Danach fielen auf die im Landtag vertretenen Parteien folgende Anteile der gültig abgegebenen Stimmen: CSU 5.059.571 (= 37,0%, 85 Sitze), GRÜNE 1.972.725 (= 14,4%, 32 Sitze), FREIE WÄHLER 2.163.849 (= 15,8%, 37 Sitze), AfD 2.000.435 (= 14,6%, 32 Sitze), SPD 1.140.753 (= 8,4%, 17 Sitze). In den 203 (regulär 180) verteilten Sitzen sind 11 Überhangmandate für die CSU und 12 Ausgleichsmandate, verteilt auf andere Parteien (GRÜNE 3, FREIE WÄHLER 7, AfD 2), enthalten.
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2. Der Antragsteller zu 4 beanstandete gemeinsam mit den weiteren Antragstellern mit (nicht vorgelegtem) Schreiben vom 23. Oktober 2023 (Az. P II-1003-1-24) gegenüber dem Bayerischen Landtag die Landtagswahl vom 8. Oktober 2023.
Nach ihren Angaben in der Antragsschrift bestritten die Antragsteller „die Gültigkeit von Teilen der Wahl“, verlangten, „diese Teile unter einem verfassungskonformen Wahlgesetz nachzuholen“, und beantragten im Einzelnen,
1.
für künftige Wahlen die Zahl der 91 Stimmkreise auf die Soll-Zahl der
180
Mitglieder des Landtags anzuheben;
2.
die Überschreitung der 11 Überhangdurch 12 Ausgleichsmandate zu unterbinden;
3.
den Regionalproporz zwischen den 7 Regierungsbezirken zu gewährleisten;
4.
für 12 Ausgleichsmandate die fehlende Urwahl durch das Volk in der laufenden Wahlperiode nachzuholen;
5.
die Bemessungsgrundlage der Sperrklausel auf die 7 Regierungsbezirke zu beziehen;
6.
die getrennten Erst- und Zweitstimmen nicht zusammenzuzählen.
4
Zum Inhalt der Beanstandungen verweisen die Antragsteller auf die Wiedergabe ihres Vortrags in der vom Landtag eingeholten Stellungnahme des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration (im Folgenden: Innenministerium). Danach beanstanden die Antragsteller im Wesentlichen Folgendes:
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a) Für künftige Wahlen solle die Zahl der derzeit 91 Stimmkreise auf die Sollzahl der 180 Mitglieder des Landtags angehoben werden. Dies solle für die nächste Landtagswahl und nicht für die laufende Legislaturperiode gelten. Die vollständige Wiederholung der Landtagswahl werde ausdrücklich nicht beantragt. Die Abgabe zweier getrennter Stimmen ermögliche das sog. Stimmensplitting, durch das die Eindeutigkeit des Wählerwillens verloren gehen und das zu Überhang- und Ausgleichsmandaten führen könne, sodass mehr Mandate vergeben würden als Sitze zur Verfügung stünden.
6
b) Hinsichtlich der Überhang- und Ausgleichsmandate sei bei dieser Wahl der Ausgleich erneut größer als der Überhang gewesen. Für „überhanglose“ Ausgleichsmandate könne es von vornherein keinen Rechtsgrund geben, sie verletzten das Willkürverbot nach Art. 3 BV. Art. 44 des Landeswahlgesetzes (LWG) könne in seiner derzeitigen Form daher keinen Bestand haben. Darüber hinaus müsse die Wahl für die 12 Ausgleichsmandate in der laufenden Wahlperiode nachgeholt werden. Denn die Abgeordneten, die aufgrund dieser zugeteilten Ausgleichsmandate in den Landtag eingezogen seien, seien offensichtlich nicht gewählt, sondern nachträglich „oktroyiert“ worden. Über diese Zusatzsitze sei nicht abgestimmt worden. Das verstoße gegen den Grundsatz der Volkssouveränität. Um den Proporz der Regierungsbezirke unangetastet zu lassen, solle bei der Auszählung der Wahlergebnisse die nachträgliche Vergabe von Überhang- und Ausgleichsmandaten unterlassen werden und Art. 44 Abs. 2 LWG unbeachtet bleiben.
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c) Die bayernweite Sperrklausel in Art. 14 Abs. 4 BV fuße auf einer landesweiten und daher willkürlich überhöhten Bemessungsgrundlage. Die Abgeordneten würden in den sieben Regierungsbezirken gewählt, sodass auch die Sperrklausel auf den jeweiligen Geltungsbereich der Regierungsbezirke zu beziehen sei.
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d) Es verstoße gegen das Willkürverbot nach Art. 3 BV, dass Erst- und Zweitstimmen zu Gesamtstimmen zusammengezählt würden.
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3. Nach den Angaben in der Antragsschrift hatte zudem allein der Antragsteller zu 4 zunächst kurz vor dem Wahltermin dem 18. Bayerischen Landtag und dessen Präsidentin jeweils eine (ebenfalls nicht vorgelegte) „Last-Minute-Petition“ zugestellt und verlangt, bei der Auszählung der Stimmen für den 19. Bayerischen Landtag die nachträgliche Hinzufügung von Überhang- und Ausgleichsmandaten zu unterlassen, es sei denn, es finde eine Nachwahl statt (Az. P II-1003-1-18).
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Nachdem diese Petitionen unbeantwortet und unerledigt geblieben waren, beantragte der Antragsteller zu 4 mit Petition vom 2. November 2023 gegenüber dem Landtag:
Dem ausgezählten Wahlergebnis für die Landtagswahl vom 08.10.2023 werden nachträglich keine sog. „Überhänge“ und keine sog. „Ausgleichssitze“ hinzugefügt. Die Zuteilung von 11 sog. Überhang- und 12 sog. Ausgleichsmandaten wird zeitnah rückgängig gemacht.
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Außerdem beantragte er mit Petition vom 3. November 2023 gegenüber der Landtagspräsidentin:
Erstens sind durch den Landeswahlleiter die 12 Abgeordneten ausfindig machen zu lassen, die ein Ausgleichsmandat bekleiden, das ihnen erst durch hoheitlichen Oktroy zugeteilt werden konnte, nachdem die Wahllokale schon geschlossen waren. Diesen 12 Abgeordneten fehlt die basisdemokratische Legitimation durch eine außerparlamentarische Urwahl der Wahlberechtigten. Sie sind so lange vom Stimmrecht im Landtag auszuschließen, bis über ihr Mandat durch eine Nachwahl entschieden worden ist.
Zweitens stehen den 12 Landtagsabgeordneten, die ein Ausgleichsmandat bekleiden, nur 11 Abgeordnete mit „Überhang“ gegenüber. Es gibt also ein Ausgleichsmandat, für das es keinen Rechtsgrund gibt. Dieser Abgeordnete ist vom Landeswahlleiter zu ermitteln und aus dem Landtag zu entlassen.
12
Auf diese (wiederum nicht vorgelegten) Schreiben hin kündigte der Landtag an, sie vor dem Hintergrund, dass darin Ausführungen zur Landtagswahl vom 8. Oktober 2023 getätigt wurden, – anstelle eines Petitionsverfahrens – als Wahlbeanstandung nach Art. 53 LWG zu behandeln und zunächst eine Stellungnahme des Innenministeriums anzufordern. Der Antragsteller zu 4 stimmte dieser Sachbehandlung zu.
13
In der Stellungnahme des Innenministeriums wird die Wahlbeanstandung dahingehend verstanden, dass damit keine Verstöße gegen die geltenden Wahlrechtsvorschriften geltend gemacht würden, sondern das Wahlsystem als solches insbesondere im Hinblick auf die Zuteilung von Überhang- und Ausgleichsmandaten grundsätzlich infrage gestellt werde. Der Gesetzgeber habe von der verfassungsrechtlich in Art. 14 Abs. 1 Satz 6 BV ausdrücklich eröffneten Möglichkeit einer Überschreitung der regulären Zahl der Abgeordneten durch Überhang- und Ausgleichsmandate mit den Bestimmungen in Art. 44 Abs. 2 und Art. 42 Abs. 2 LWG Gebrauch gemacht. Die 11 Überhang- und 12 Ausgleichsmandate seien verfassungs- und gesetzeskonform zugeteilt worden.
14
3. Mit Beschluss vom 14. März 2024 empfahl der Ausschuss für Verfassung, Recht, Parlamentsfragen und Integration, die Gültigkeit der Wahl zum Bayerischen Landtag vom 8. Oktober 2023 festzustellen; die Beanstandungen der Landtagswahl u. a. durch den Antragsteller zu 4 seien als unzulässig bzw. unbegründet zurückgewiesen worden (LT-Drs. 19/726). Auf Grundlage dieser Beschlussempfehlung stellte die Vollversammlung des Bayerischen Landtags am 9. April 2024 die Gültigkeit der Landtagswahl 2023 fest (LT-Drs. 19/1552).
II.
15
Mit dem am 26. April 2024 eingegangenen Antrag verfolgen die Antragsteller, vertreten durch den Antragsteller zu 4 (Az. P II-1003-1-24), bzw. nur der Antragsteller zu 4 (Az. P II-1003-1-18) ihre Anliegen aus den Wahlbeanstandungen vor dem Landtag weiter. Sie beantragen, den Beschluss des Landtags vom 9. April 2024 zu den unter den genannten Aktenzeichen geführten Verfahren aufzuheben und den vom Landtag zurückgewiesenen Anträgen stattzugeben. Zur Begründung vertiefen und ergänzen sie ihr früheres Vorbringen u. a. mit folgenden Ausführungen:
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1. Zum Az. P II-1003-1-24:
17
a) Bei der auf Erhöhung der Anzahl der Stimmkreise auf 180 und ein Wahlverfahren mit nur einer Stimme gerichteten Forderung handle es sich entgegen der Stellungnahme des Innenministeriums nicht um einen „rechtspolitischen Vorschlag“. Die Antragsteller rügten vielmehr den Missstand, dass bei jeder Landtagswahl versucht werde, durch Überhangmandate „mehr Stücke als Kuchen“ zu verteilen. Im 19. Bayerischen Landtag gebe es 180 Plätze (Sollzahl), in Bayern aber nur 91 Stimmkreise, während im Gegenzug 203 Mitglieder im Landtag Sitz und Stimme hätten. Es gebe also gleichzeitig zu wenig Wahlkreise, aber zu viele Abgeordnete. Ursache sei das hybride Wahlsystem in Bayern mit zwei Stimmen, wobei 91 Mitglieder des Landtags „fakultativ zweimal gewählt werden“ könnten, während 89 Abgeordnete nur mit einer Stimme gewählt werden müssten. Da beide Stimmen gegeneinander gerichtet werden könnten (Stimmensplitting), seien 11 sog. Überhänge entstanden, die dann bei den Zweitstimmen mit einer Überzahl an 12 sog. Ausgleichsmandaten kompensiert worden seien. Die Überhänge seien keine wirklichen Mandate, sondern Unterschiedszahlen.
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Bei der beanstandeten Landtagswahl seien nur 91 Abgeordnete in 91 Stimmkreisen einzeln gewählt worden, während für den verbleibenden Rest von 89 Mandatsträgern eine Mehrpersonenwahl in sieben Regierungsbezirken zum Zug gekommen sei, und zwar grundsätzlich als „Blockwahl“ (mit Ausnahme von „Favoriten“, die bei der Zweitstimme aus der Namensliste gesondert herausgegriffen werden konnten). Da es für die unmittelbare Personenwahl gar nicht genug Wahlkreise gebe, fehle – mit Ausnahme der „Favoriten“ – bei den 89 Abgeordneten, die über die Zweitstimme gewählt worden seien, die demokratische Legitimation der Doppelwahl. Bei den 23 nachgeschobenen Zusatzsitzen fehle die Doppelabstimmung nicht nur zur Hälfte, sondern ganz; diese Sitze seien den Wählern nach der Wahl oktroyiert worden. Das Wahlrecht für die Abgeordneten des Landtags folge im Wesentlichen dem Verfahren der „personalisierten“ Verhältniswahl mit Erst- und Zweitstimme, was bedeute, dass die Zweitstimme durch die Erststimme personalisiert werden solle. Die vollständige Erststimmenabdeckung werde jedoch verfehlt, weil die Zahl der Stimmkreise hinter der Sollzahl der 180 Mitglieder des Landtags weit zurückbleibe.
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Auch könne nach dem Homogenitätsgrundsatz des Art. 28 GG nicht folgenlos bleiben, dass auf Bundesebene seit der Änderung des Bundeswahlgesetzes durch Gesetz vom 8. Juni 2023 (BGBl I Nr. 147) sowohl Überhang- als auch Ausgleichsmandate als „unzulässige Missstände“ gälten. Im Land könne nicht zulässig sein, was im Bund unzulässig sei. Das Bundesverfassungsgericht habe mit seiner Entscheidung vom 30. Juli 2024 Az. 2 BvF 1/23 u. a. (BVerfGE 169, 236) den Ausstieg aus dem Verhältnisausgleich akzeptiert und damit seine frühere irrige Rechtsprechung korrigiert.
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b) Die 11 Überhang- und 12 Ausgleichsmandate seien nicht verfassungs- und gesetzeskonform zugeteilt worden. Für diese nachgeschobenen Zusatzsitze sei eine Abstimmung unerlässlich, habe aber nicht stattgefunden. Es habe weder eine Abstimmung über den Ausgleich noch über den Überhang gegeben; die unmittelbare Wahl durch das Volk fehle. Zudem könne der Ausgleich nicht größer sein als der Überhang.
21
c) Die sog. Sperrklausel in Art. 14 Abs. 4 BV und gleichlautend in Art. 42 Abs. 4 LWG enthalte unbestimmte Rechtsbegriffe und sei so auszulegen, dass sie für den Regierungsbezirk gelte, in dem mit der Zweitstimme gewählt werde. Die FünfProzent-Hürde betreffe allein die Listenplätze und sei rechnerisch auf die sieben Geltungsbereiche der Zweitstimmen zu beziehen. Die Reichweite der Zweitstimmen und der Geltungsbereich der Sperrklausel müssten übereinstimmen.
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d) Die nachträgliche Zusammenfassung der auf den Stimmzetteln abgegebenen Erst- und Zweitstimmen – eine dritte Stimme habe es dort nicht gegeben – zu einer vermeintlichen „Gesamtstimme“ sei eine Manipulation mit dem Ziel, die Doppelwahl mit zwei Stimmen rückgängig zu machen. Die bayerische Besonderheit einer Gesamtstimme gehe ausweislich der Stimmzettel für die Landtagswahl 2023 nicht auf den Willen der Wähler zurück.
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2. Zum Az. P II-1003-1-18:
24
Der Inhalt der beiden zu Wahlbeanstandungen umgewidmeten Petitionen des Antragstellers zu 4 sei im Kern verkannt worden. Es sei unstreitig, dass die 11 Überhänge und die 12 Ausgleichsmandate nach Art. 14 Abs. 1 Satz 6 BV zulässig seien. Gerügt werde etwas anderes, nämlich dass die unerlässliche Abstimmung über die 23 Zusatzsitze fehle. Es gebe keine Stimmzettel, auf denen die Wähler entschieden hätten, wer von welcher Partei, in welchem Regierungsbezirk ein Überhang- bzw. Ausgleichsmandat erhalten solle. Bei dem „überhanglosen“ Ausgleichsmandat fehle von vornherein und unübersehbar jeder Rechtsgrund.
III.
25
Der Bayerische Landtag hält den Antrag auf Entscheidung über die Gültigkeit der Landtagswahl 2023 für unzulässig und jedenfalls unbegründet.
26
1. Der Antrag sei formell unzulässig, da er nicht von allen Antragstellern eigenhändig unterschrieben und damit das Schriftformerfordernis nicht eingehalten sei. Zudem fehle es an einer schriftlichen Bevollmächtigung.
27
2. Im Übrigen sei der Antrag unbegründet. Soweit die Auffassung vertreten werde, dass
- die Anzahl der Stimmkreise auf 180 zu erhöhen sei,
- die Zahl der Ausgleichsmandate nicht höher sein könne als die Zahl der Überhangmandate und die Wahl für die 12 Ausgleichsmandate in der laufenden Wahlperiode nachgeholt werden müsse sowie der Regionalproporz der Regierungsbezirke zu gewährleisten sei,
- die Sperrklausel auf die jeweiligen Regierungsbezirke zu beziehen sei und
- Erst- und Zweitstimmen nicht zusammengerechnet werden dürften, widerspreche dies den bestehenden gesetzlichen Grundlagen im Landeswahlrecht. Die Landtagswahl sei verfassungs- und gesetzeskonform durchgeführt worden.
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a) Die Anzahl der Stimmkreise auf 180 zu erhöhen, bedeutete eine grundlegende Änderung des Wahlrechts weg von einem verbesserten Verhältniswahlrecht hin zu einem reinen relativen Mehrheitswahlrecht. Anders als das Grundgesetz schreibe die Bayerische Verfassung selbst ein verbessertes Verhältniswahlrecht und eine zahlenmäßige Begrenzung der Stimmkreise vor (Art. 14 Abs. 1 Sätze 1 und 5 BV).
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b) Auch Überhang- und Ausgleichsmandate sehe die Bayerische Verfassung ausdrücklich vor (Art. 14 Abs. 1 Satz 6 BV) und der Gesetzgeber habe von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Gemäß Art. 44 Abs. 2 LWG sei die Vergabe solcher Mandate gesetzlich festgelegt. Sitze, die in den Stimmkreisen gewonnen würden und die durch Art. 42 Abs. 2 LWG ermittelte Sitzanzahl überschritten, blieben dem Wahlkreisvorschlag erhalten – dies seien die Überhangmandate. Die Sitzanzahl für den Wahlkreis, definiert nach Art. 21 Abs. 2 LWG, werde so lange erhöht, bis sie der Zahl der im Stimmkreis gewonnenen Sitze für diesen Vorschlag entspreche. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof habe in mehreren Entscheidungen bestätigt, dass diese Regelung nicht gegen das Homogenitätsprinzip des Art. 28 Abs. 1 GG verstoße, mit dem Wahlgleichheitsprinzip vereinbar sei und auch den Regionalproporz nicht unzulässig missachte.
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c) Der Wortlaut der Verfassung gebe mit Art. 14 Abs. 4 BV (Nichtberücksichtigung von Wahlvorschlägen, die „im Land“ weniger als fünf Prozent der Gesamtzahl abgegebener gültiger Stimmen auf sich vereinigen) eindeutig vor, dass für die Berechnung der Sperrklausel alle für den Wahlvorschlag im gesamten Land abgegebenen Stimmen – also die Summe der Erst- und Zweitstimmen – in Relation zur Zahl der insgesamt gültig abgegebenen Stimmen zu setzen seien. Daher gebe es für eine abweichende Anwendung der Sperrklausel auf Regierungsbezirksebene keinen Raum.
31
d) Auch der Vorschlag, zukünftig Erst- und Zweitstimmen nicht mehr zu einer Gesamtstimmenzahl zusammenzufassen (Art. 45 Abs. 1 Satz 2 LWG), sei eine rechtspolitische Initiative, die keinen rechtlichen Einfluss auf die Gültigkeit der Landtagswahl 2023 habe. Im Übrigen sei die Zusammenführung dieser Stimmen ein charakteristisches Merkmal des verbesserten Verhältniswahlrechts in Bayern und trage dazu bei, das Aufkommen von Überhang- und Ausgleichsmandaten zu mindern.
IV.
32
Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung wird abgesehen, da eine solche nach der Sach- und Rechtslage nicht geboten erscheint (Art. 48 Abs. 3 Satz 4 VfGHG).
V.
33
1. a) Der gemeinsame Antrag auf Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs über die Gültigkeit der Landtagswahl 2023 zum Az. P II-1003-1-24 ist nicht bereits deshalb insgesamt formell unzulässig, weil die am 26. April 2024 innerhalb der Monatsfrist des Art. 48 Abs. 2 Satz 1 VfGHG eingegangene Antragsschrift nicht von allen 16 Antragstellern eigenhändig unterschrieben wurde oder weil ursprünglich schriftliche Bevollmächtigungen fehlten. Die Antragsschrift ist jedenfalls von den Antragstellern zu 1 bis 10 und zu 16 eigenhändig unterschrieben; der darin als „Gruppenbevollmächtigter“ bezeichnete Antragsteller zu 4 erklärt, dass er die übrigen Beteiligten, soweit gesetzlich zulässig, vertrete. Weiter wird darin erklärt und in späteren Schreiben klarstellend bekräftigt, dass alle Beteiligten wahlberechtigt und bereits an der zurückgewiesenen Wahlbeanstandung (des Antragstellers zu 4 „u. a.“) gegenüber dem Landtag beteiligt gewesen seien, ohne dass der Landtag diesem Vorbringen entgegengetreten wäre. Da gemäß Art. 48 Abs. 1 Nr. 3 VfGHG jeder (einzelne) Stimmberechtigte, dessen Wahlbeanstandung vom Landtag verworfen worden ist, gegen Beschlüsse des Landtags über die Gültigkeit der Wahl die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs beantragen kann, bestehen jedenfalls gegenüber diesen elf Antragstellern die vom Landtag geltend gemachten formellen Bedenken nicht. Darauf, ob und inwieweit sie gegenüber den weiteren Antragstellern berechtigt sind, kommt es nicht entscheidungserheblich an. Denn soweit der gemeinsame Antrag zulässig ist, ist er jedenfalls unbegründet (vgl. nachfolgend unter VI. B. 2.).
34
b) Zweifelhaft ist die Zulässigkeit des Antrags, soweit die Antragsteller die Anzahl der Stimmkreise beanstanden und deren Erhöhung auf die Sollzahl der 180 Mitglieder des Landtags fordern. Denn insoweit hatten sie ihr Begehren in der Wahlbeanstandung gegenüber dem Landtag – abgesehen von den Überhang- und Ausgleichsmandaten – auf künftige Wahlen beschränkt und erklärt, dass die vollständige Wiederholung der Landtagswahl ausdrücklich nicht beantragt werde.
35
aa) Nach Art. 33 Satz 1 BV obliegt die Wahlprüfung dem Landtag. Wird die Gültigkeit einer Wahl bestritten, so entscheidet gemäß Art. 33 Satz 2 BV der Verfassungsgerichtshof. Es handelt sich dabei um ein in zwei selbstständige Stufen gegliedertes Verfahren, das die Erstentscheidung dem Landtag und die Letztentscheidung in Streitfällen dem Verfassungsgerichtshof zuweist, ohne dass sich Landtag und Verfassungsgerichtshof im Verhältnis von Instanzen gegenüberstehen (VerfGH vom 22.9.1947 VerfGHE 1, 1/7). Damit wird einerseits den Belangen der Autonomie des Parlaments Rechnung getragen, aus der sich nach den hergebrachten Rechtsgrundsätzen der parlamentarischen Demokratien auch das Recht zur Prüfung und Feststellung des Wahlergebnisses ergibt. Andererseits wird das rechtsstaatliche Erfordernis berücksichtigt, streitige Fälle einem unparteiischen und unabhängigen Gericht zu überantworten (vgl. Huber in Meder/Brechmann, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 6. Aufl. 2020, Art. 33 Rn. 1).
36
Die Wahlprüfung des Landtags muss also in allen Fällen der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vorausgehen (VerfGHE 1, 1/6). Dies gilt nicht nur im Hinblick darauf, dass ein Antrag zum Verfassungsgerichtshof nach Art. 48 Abs. 1 VfGHG erst statthaft ist, wenn die in Art. 51 ff. LWG näher ausgestaltete Wahlprüfung durch den Landtag abgeschlossen ist. Da zunächst der Landtag die Gelegenheit haben muss, sich inhaltlich mit den von einem Antragsteller behaupteten konkreten Wahlfehlern auseinanderzusetzen, ist es ferner erforderlich, dass die jeweiligen Beanstandungen bereits gegenüber dem Landtag erhoben wurden. Im Verfahren der Wahlprüfung vor dem Verfassungsgerichtshof können keine neuen Gesichtspunkte vorgebracht werden. Der Prüfungsumfang im verfassungsgerichtlichen Verfahren geht nicht über das gemäß Art. 53 LWG beim Landtag eingebrachte Vorbringen hinaus (vgl. VerfGH vom 11.11.2019 VerfGHE 72, 189 Rn. 33; BVerfG vom 19.9.2005 – 2 BvC 4/04 – juris Rn. 2; vom 26.2.2009 – 2 BvC 1/04 – juris Rn. 18).
37
bb) Ob der Antrag im Hinblick auf die Forderung nach einer Erhöhung der Anzahl der Stimmkreise von 91 auf 180 diesen Anforderungen gerecht wird, ist zweifelhaft. Einerseits haben die Antragsteller in der Wahlbeanstandung gegenüber dem Landtag erklärt, dass diese Forderung für die nächste Landtagswahl und nicht für die laufende Legislaturperiode gelten solle; die vollständige Wiederholung der Landtagswahl werde nicht beantragt. Damit wurde diese Forderung per se nicht als Wahlbeanstandung geltend gemacht. Andererseits haben sie auch diese Beanstandung bereits im Verfahren vor dem Landtag zur Begründung der aus ihrer Sicht gegebenen Verfassungswidrigkeit der Überhang- und Ausgleichsmandate herangezogen – zielten also anscheinend auf eine nur teilweise Wiederholung der Landtagswahl ab.
38
Im Ergebnis kann offenbleiben, ob eine solche Beschränkung zulässig wäre, und die Zulässigkeit des Antrags insoweit unterstellt werden. Denn auch diese Beanstandung ist jedenfalls unbegründet (vgl. nachfolgend unter VI. B. 2. a)).
39
2. Das Begehren allein des Antragstellers zu 4 auf Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs über die Gültigkeit der Landtagswahl 2023 zum Az. P II-1003-1-18 ist gemäß Art. 48 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Satz 1 VfGHG zulässig. Da der Landtag die Petitionen des Antragstellers zu 4 im Hinblick auf deren inhaltliches Anliegen als Wahlbeanstandung nach Art. 53 LWG behandelt hat, ist dem Begehren insbesondere, wie erforderlich, die Wahlprüfung vor dem Landtag vorausgegangen. Die im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof geäußerten formellen Bedenken des Landtags hinsichtlich Vertretung und Bevollmächtigung betreffen diese Wahlbeanstandung von vornherein nicht.
VI.
40
Der Antrag auf Feststellung der Ungültigkeit der Landtagswahl 2023 (zu Az. P II-1003-1-24 und zu Az. P II-1003-1-18) ist, soweit er zulässig ist oder die Zulässigkeit unterstellt werden kann, unbegründet.
A.
41
Die Wahlprüfung durch den Verfassungsgerichtshof gemäß Art. 33 Satz 2, Art. 63 BV, Art. 48 VfGHG dient in erster Linie dem Schutz des objektiven Wahlrechts und ist nicht auf die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Wahl beschränkt. Ihr Ziel ist die Feststellung der verfassungs- und gesetzmäßigen Zusammensetzung des Landtags in der laufenden Legislaturperiode. Nach dem im Wahlprüfungsverfahren geltenden Erheblichkeitsgrundsatz kann ein Antrag nur dann zum Erfolg führen, wenn Wahlfehler behauptet und festgestellt werden, die die konkrete Mandatsverteilung beeinflusst haben könnten. Eine solche Möglichkeit darf nicht nur theoretisch bestehen, sondern muss nach allgemeiner Lebenserfahrung konkret und nicht ganz fernliegend sein.
42
Bei der Entscheidung über die Gültigkeit der Landtagswahl prüft der Verfassungsgerichtshof zum einen, ob die Wahlvorschriften richtig angewendet worden sind. Als Wahlfehler in diesem Sinn sind Verstöße gegen das materielle und formelle Wahlrecht zu verstehen. Prüfungsmaßstab sind danach die das Wahlverfahren unmittelbar regelnden Vorschriften, z. B. des Landeswahlgesetzes, daneben aber auch andere Vorschriften, die den ungestörten und ordnungsgemäßen Verlauf der Wahl gewährleisten, wie etwa die in Art. 14 Abs. 1 BV niedergelegten Wahlrechtsgrundsätze. Zum anderen erstreckt sich die Kontrolle darauf, ob die der Wahl zugrunde liegenden einfachrechtlichen Vorschriften mit der Verfassung vereinbar sind, da die verfassungsmäßige Rechtsgrundlage Voraussetzung für eine gültige Wahl ist (VerfGH vom 23.10.2014 VerfGHE 67, 263 Rn. 27 ff. m. w. N.).
B.
43
Nach diesen Grundsätzen haben weder die Beanstandungen der (mindestens elf zulässig als solche auftretenden) Antragsteller zum Az. P II-1003-1-24 noch die des Antragstellers zu 4 zum Az. P II-1003-1-18 Erfolg.
44
1. Die Wahl zum Bayerischen Landtag wird – soweit hier von Bedeutung – durch die im Folgenden dargestellten grundlegenden Strukturen geprägt (vgl. auch VerfGH vom 28.10.2019 VerfGHE 72, 171 Rn. 30 ff.; vom 1.2.2021 VerfGHE 74, 1 Rn. 28 ff.; vom 5.7.2022 – Vf. 57-III-19 – juris Rn. 32 ff.):
45
a) Sie erfolgt gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 1 BV in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl nach einem verbesserten Verhältniswahlrecht durch alle wahlberechtigten Staatsbürger in Wahlkreisen und Stimmkreisen. Jeder der sieben Regierungsbezirke bildet einen selbstständigen Wahlkreis (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 BV), innerhalb dessen einzelne Stimmkreise, grundsätzlich die Landkreise und kreisfreien Gemeinden, gebildet werden (Art. 14 Abs. 1 Sätze 3 bis 4 BV). Je Wahlkreis darf höchstens ein Stimmkreis mehr gebildet werden als Abgeordnete aus der Wahlkreisliste zu wählen sind (Art. 14 Abs. 1 Satz 5 BV). Die Aufteilung der – vorbehaltlich der Zuteilung von in Anwendung dieser Grundsätze zulässigen Überhang- und Ausgleichsmandaten – insgesamt 180 Abgeordnetenmandate (Art. 13 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 Satz 6 BV) auf die Wahlkreise wird proportional zu den nach der Bevölkerungsstatistik wahlberechtigten Einwohnern vorgenommen (Art. 21 Abs. 1 Sätze 2 und 3 LWG in der seit dem 1. Juni 2022 geltenden Fassung), sodass auf die einzelnen Regierungsbezirke je nach Größe zwischen 16 und 61 Mandate entfallen (Art. 21 Abs. 2 LWG).
46
In den insgesamt 91 Stimmkreisen – je nach Wahlkreisgröße zwischen acht und 31 in den Regierungsbezirken – wird mit der Erststimme der Wählerinnen und Wähler (im Folgenden: Wähler) je eine Stimmkreisabgeordnete oder ein Stimmkreisabgeordneter (im Folgenden: Stimmkreisabgeordneter) im Weg der relativen Mehrheitswahl direkt in den Landtag gewählt (Art. 21 Abs. 3, Art. 43 LWG). Die übrigen (regulär insgesamt 89) Abgeordneten werden mit der Zweitstimme der Wähler aus den Wahlkreislisten der einzelnen Wahlkreisvorschläge der Parteien und Wählergruppen gewählt (Art. 21 Abs. 4 LWG). Die Zweitstimme wird – anders als etwa bei den Bundestagswahlen – grundsätzlich nicht an eine der Wahlkreislisten als solche, sondern an eine bestimmte Person aus den dort aufgeführten Wahlkreisbewerberinnen und -bewerbern (im Folgenden: Bewerber) vergeben (Art. 38 LWG); es handelt sich um sog. begrenzt offene bzw. bewegliche anstatt starrer Listen. Nur wenn anstelle einer besonderen sich bewerbenden Person lediglich eine bestimmte Partei oder Wählergruppe angekreuzt wird oder auch mehrere Bewerber innerhalb einer Liste angekreuzt werden, wird die Stimme der betreffenden Wahlkreisliste zugerechnet (Art. 40 Abs. 2 LWG).
47
b) Für die Abstimmung bei der Landtagswahl bestimmt Art. 36 LWG, dass jeder Wähler zwei Stimmen hat, eine zur Wahl eines Stimmkreisabgeordneten (Erststimme) und eine zur Wahl eines Wahlkreisabgeordneten (Zweitstimme). Nach Art. 37 Abs. 1 LWG enthält der Stimmzettel für die Wahl eines Stimmkreisabgeordneten die Namen der Bewerber im Stimmkreis mit Angabe des Namens der Partei oder Wählergruppe. Der Stimmzettel für die Wahl eines Wahlkreisabgeordneten enthält gemäß Art. 37 Abs. 2 LWG in jedem Stimmkreis die Wahlkreislisten sämtlicher Wahlkreisvorschläge; jedoch werden die Stimmkreisbewerber im eigenen Stimmkreis in der Wahlkreisliste nicht aufgeführt, da jeder Bewerber nur entweder als Stimmkreis- oder als Wahlkreisbewerber gewählt werden kann.
48
c) Für die Verteilung der Sitze im Landtag auf die einzelnen Parteien und Wählergruppen werden gesondert für jeden Wahlkreis die dort für die Stimmkreisbewerber und die Wahlkreisbewerber (und ggf. Wahlkreislisten) abgegebenen gültigen Stimmen zusammengezählt; die verhältnismäßige Vergabe der auf den betroffenen Wahlkreis entfallenden Sitze auf die verschiedenen Parteien und Wählergruppen insgesamt erfolgt auf der Grundlage der jeweiligen Gesamtzahl der Stimmen, und zwar – seit einer am 1. Juni 2022 in Kraft getretenen Änderung des Art. 42 Abs. 2 und 3 Satz 1 LWG durch das Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 23. Mai 2022 (GVBl S. 218) – gemäß dem Berechnungsverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers (Art. 42 Abs. 1 bis 3 LWG). Jede Partei oder Wählergruppe erhält über die Wahlkreisliste eine der Differenz zwischen den ihr im Wahlkreis insgesamt zustehenden Sitzen und den erzielten Direktmandaten entsprechende Anzahl von Sitzen (Listenmandate) zugeteilt (Art. 44 Abs. 1 LWG).
49
Abgesehen vom Sonderfall der Fünf-Prozent-Hürde gemäß Art. 14 Abs. 4 BV bleiben die in den Stimmkreisen errungenen Direktmandate auch dann erhalten, wenn sie die nach Art. 42 Abs. 2 LWG ermittelte Zahl der Sitze übersteigen (Überhangmandate, Art. 44 Abs. 2 Satz 1 LWG). In einem solchen Fall wird die Zahl der gemäß Art. 21 Abs. 2 LWG auf den Wahlkreis treffenden Sitze so lange erhöht, bis sich bei ihrer Verteilung nach Art. 42 Abs. 2 LWG für diesen Wahlkreisvorschlag die Zahl der für ihn in den Stimmkreisen errungenen Sitze ergibt (Art. 44 Abs. 2 Satz 2 LWG). Auf diese Weise können auch die Wahlkreisvorschläge anderer Parteien oder Wählergruppen zusätzliche Mandate erhalten, sog. Ausgleichsmandate.
50
Die interne Verteilung über die Direktmandate hinaus gewonnener Listenmandate an die sich bewerbenden Personen einer Partei oder Wählergruppe richtet sich nach der Zahl der (Erst- und Zweit-)Stimmen, die die Kandidatinnen und Kandidaten am Wahltag von den Wählern erhalten haben, nicht nach deren Reihenfolge auf den jeweiligen Wahlkreislisten (Art. 45 Abs. 1 LWG).
51
Eine überregionale Stimmenverrechnung findet nicht statt.
52
2. Zum Az. P II-1003-1-24:
53
a) Die Regelung des Art. 21 Abs. 3 LWG, wonach bei einer regulären Zahl von  Landtagsabgeordneten 91 Stimmkreise für die Wahl der Abgeordneten als Vertreter ihres Stimmkreises gebildet werden, unterliegt keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Sie entspricht vielmehr gerade dem in Art. 14 Abs. 1 BV unter näheren Maßgaben vorgegebenen Wahlsystem eines „verbesserten Verhältniswahlrechts“.
54
aa) Mit der ausdrücklichen Verankerung des „verbesserten Verhältniswahlrechts“ für die Landtagswahl in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 BV gibt die Bayerische Verfassung, anders als etwa das Grundgesetz, ein bestimmtes Wahlsystem vor. Die Verhältniswahl, für die sich der Verfassungsgeber grundsätzlich entschieden hat, zielt ihrem Wesen nach darauf ab, die politische Zusammensetzung der Wählerschaft im Parlament möglichst genau abzubilden. Die Abgeordnetenmandate werden nach dem zahlenmäßigen Verhältnis der für die verschiedenen Wahlvorschläge abgegebenen gültigen Stimmen aufgeteilt. Die verfassungsrechtliche Grundentscheidung für eine „Verbesserung“ des Verhältniswahlrechts bezieht sich nicht auf eine Perfektionierung des verhältniswahlrechtlichen Leitgedankens, sondern auf Ergänzungen und Modifikationen dieses Gedankens durch von anderen Erwägungen getragene Gestaltungsformen (vgl. Möstl in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Aufl. 2017, Art. 14 Rn. 12; ders., BayVBl 2022, 433). Das „verbesserte Verhältniswahlrecht“ ist gekennzeichnet durch die Einteilung des Wahlgebiets in Wahlkreise (Art. 14 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BV), die Mehrheitswahl von Bewerbern um ein Direktmandat in einer Höchstzahl an Stimmkreisen (Art. 14 Abs. 1 Sätze 1, 3 bis 5 BV), die grundsätzliche Möglichkeit von Überhang- und Ausgleichsmandaten (Art. 14 Abs. 1 Satz 6 BV) und die Sperrklausel von fünf Prozent der insgesamt im Land abgegebenen gültigen Stimmen (Art. 14 Abs. 4 BV) (vgl. VerfGH vom 18.2.1992 VerfGHE 45, 12/18; vom 4.10.2012 VerfGHE 65, 189/202; VerfGHE 72, 171 Rn. 41; VerfGHE 74, 1 Rn. 34; vom 5.7.2022 – Vf. 57-III-19 – juris Rn. 40).
55
bb) Die Forderung der Antragsteller nach einem Gleichlauf der Anzahl von Stimmkreisen und zu wählenden Abgeordneten, weil die Zweitstimme durch die Erststimme „personalisiert“ werden solle und eine „vollständige Erststimmenabdeckung“ erforderlich sei, berücksichtigt diese Vorgaben der Verfassung nicht. Die Antragsteller unterliegen einem grundlegenden Fehlverständnis des in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 BV bestimmten „verbesserten Verhältniswahlrechts“. Es handelt sich hierbei keineswegs um ein Verfahren der „personalisierten“ Verhältniswahl in dem Sinn, dass die Zweitstimme „durch die Erststimme personalisiert werden“ müsste. Vielmehr kann jeder Abgeordnete ein Mandat nur entweder als Stimmkreis- oder als Wahlkreisbewerber erhalten. Im Hinblick auf den Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl und da Art. 14 Abs. 1 Satz 5 BV unmittelbar vorgibt, dass je Wahlkreis höchstens ein Stimmkreis mehr gebildet werden darf als Abgeordnete aus der Wahlkreisliste zu wählen sind, gilt für das Verhältnis von Stimmkreis- und Listenmandaten das Gebot ungefähr hälftiger Aufteilung der Sitze (vgl. Möstl, BayVBl 2022, 433; vgl. auch bereits VerfGH vom 22.10.1993 VerfGHE 46, 281/288).
56
Entgegen der Auffassung der Antragsteller steht durch dieses Wahlsystem mit zwei Stimmen, das durch die Vorschriften des Landeswahlgesetzes näher ausgestaltet wird (Art. 14 Abs. 5 BV), die demokratische Legitimation der Abgeordneten nicht infrage. Für diese bedarf es keiner „Doppelwahl“, eine solche wäre vielmehr systemfremd. Bei den Stimmkreisabgeordneten folgt die unmittelbare demokratische Legitimation daraus, dass diese jeweils unter den sich in ihrem Stimmkreis bewerbenden Personen die meisten Erststimmen erhalten haben (Art. 21 Abs. 3, Art. 43 Abs. 1 LWG). Die Wahlkreisabgeordneten sind unmittelbar durch den Wählerwillen legitimiert, weil sie jeweils mit der – grundsätzlich und nicht nur im Ausnahmefall an eine bestimmte Person zu vergebenden – Zweitstimme der Wähler aus den Wahlkreislisten der einzelnen Wahlkreisvorschläge ausgewählt wurden, wobei sich die interne Verteilung der Listenmandate nach der Zahl der Stimmen richtet, die die Bewerber am Wahltag vom Wähler erhalten haben (Art. 21 Abs. 4, Art. 44 Abs. 1, Art. 45 Abs. 1 Satz 1 LWG; vgl. dazu, dass der Anteil gültiger Zweitstimmen ohne Kennzeichnung eines Bewerbers bei der Landtagswahl 2023 in den Wahlkreisen lediglich zwischen 0,4% und 1,4% betragen hat, Bayerisches Landesamt für Statistik – Wahl zum 19. Bayerischen Landtag am 8. Oktober 2023, Endgültiges Ergebnis Text, Tabellen, Schaubilder – S. 24, https://www.statistik. bayern.de/mam/produkte/veroffentlichungen/statistische_berichte/b7244c_202351. pdf). Dass bei der internen Verteilung der Listenmandate für diejenigen Bewerber, die in einem Stimmkreis erfolglos für ein Direktmandat kandidiert haben, die dortigen Erststimmen und die Zweitstimmen, die sie auf den Wahlkreislisten in allen übrigen Stimmkreisen erhalten haben, zusammengezählt werden (Art. 45 Abs. 1 Satz 2 LWG), ist systemgerecht und ein charakteristisches Merkmal des verbesserten Verhältniswahlrechts in Bayern. Die Regelung begegnet mangels Verzerrung des Parteiproporzes keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. Möstl in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 14 Rn. 18; Wollenschläger in Meder/Brechmann, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 14 Rn. 16). Sie dient dazu, den erfolglos als Direktkandidaten angetretenen Bewerbern die Möglichkeit zu erhalten, dass für die interne Verteilung der Listenmandate auch die im eigenen Stimmkreis gesammelten Wählerstimmen berücksichtigt werden. Denn (nur) in diesem Stimmkreis waren sie nicht in den Wahlkreislisten aufgeführt (Art. 37 Abs. 2 Halbsatz 2 LWG) und konnten damit keine Zweitstimmen erwerben.
57
b) Die Zuteilung der 11 Überhang- und 12 Ausgleichsmandate erfolgte verfassungs- und gesetzeskonform. Art. 44 Abs. 2 LWG, der die Modalitäten für das Entstehen von Überhang- und Ausgleichsmandaten regelt, ist mit den Wahlgrundsätzen des Art. 14 Abs. 1 BV vereinbar. Es besteht auch kein Widerspruch des Art. 14 Abs. 1 Satz 6 BV zu Art. 28 Abs. 1 Sätze 1 und 2 GG. Anhaltspunkte dafür, dass Art. 44 Abs. 2 LWG unrichtig angewendet worden wäre, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
58
aa) Der Verfassungsgerichtshof hat bereits im Nachgang zur Landtagswahl 2018 in mehreren Entscheidungen die Verfassungsmäßigkeit des Art. 44 Abs. 2 LWG, der die Modalitäten für das Entstehen von Überhang- und Ausgleichsmandaten regelt, sowie die Vereinbarkeit von Art. 14 Abs. 1 Satz 6 BV, der Überhang- und Ausgleichsmandate ausdrücklich zulässt, mit dem Homogenitätsprinzip des Art. 28 Abs. 1 Sätze 1 und 2 GG geprüft und bejaht. Diese Entscheidungen betrafen nicht nur konkret auf die Landtagswahl 2018 bezogene Wahlprüfungsverfahren gemäß Art. 33, 65 BV, Art. 48 VfGHG (so VerfGH vom 28.10.2019 VerfGHE 72, 171; vom 5.7.2022 – Vf. 57-III-19 – juris). Vielmehr erfolgte auf eine Popularklage hin auch eine grundsätzliche Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des Art. 44 Abs. 2 LWG in einem Normenkontrollverfahren durch die für solche Verfahren nach Art. 2 Nr. 7, Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VfGHG zuständige Spruchgruppe (VerfGH vom 1.2.2021 VerfGHE 74, 1, vgl. dort Rn. 24).
59
In der letztgenannten Entscheidung vom 1. Februar 2021 hat der Verfassungsgerichtshof insbesondere festgehalten, dass mit der im Jahr 1998 neu eingeführten Regelung des Art. 14 Abs. 1 Satz 6 BV Überhang- und Ausgleichsmandate zwar nicht zwingend vorgeschrieben, aber zugelassen würden, wenn sie sich in Anwendung der Wahlrechtsgrundsätze des Art. 14 Abs. 1 Sätze 1 bis 5 BV ergäben. Art. 14 Abs. 1 Satz 6 BV sei entsprechend den ausführlichen Erwägungen dazu in der Entscheidung vom 28. Oktober 2019 (VerfGHE 72, 171 Rn. 36 ff.) insbesondere mit dem Homogenitätsgrundsatz gemäß Art. 28 Abs. 1 GG vereinbar. Durch das Homogenitätsgebot würden die Wahlrechtsgrundsätze, nicht aber das Wahlsystem als solches vorgegeben. Der Landesgesetzgeber sei frei, sich – unabhängig vom (damals) einfachgesetzlich (§ 1 Abs. 1 BWahlG a. F.) geltenden personalisierten Verhältniswahlsystem des Bundes – für eine Mehrheits- oder Verhältniswahl zu entscheiden oder beide Wahlsysteme, wie dies im Freistaat Bayern der Fall sei, miteinander zu verbinden. Der weite Entscheidungsspielraum, den das Grundgesetz dem Landesgesetzgeber bei der Gestaltung des Wahlrechts einräume, sei allerdings nicht unbeschränkt. Der Landesgesetzgeber sei verpflichtet, das Wahlsystem, für das er sich entscheide, ungeachtet verschiedener Ausgestaltungsmöglichkeiten in seinen Grundelementen folgerichtig zu gestalten; er dürfe keine strukturwidrigen Elemente einführen. Anhaltspunkte dafür, dass Art. 14 Abs. 1 Satz 6 BV, der Überhang- und Ausgleichsmandate ohne detaillierte Vorgaben ermögliche, im Widerspruch zu Art. 28 Abs. 1 Sätze 1 und 2 GG stehen könnte, seien nicht erkennbar. Insoweit sei insbesondere auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu verweisen, nach der weder das Anfallen von Überhangmandaten im System der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl seinem Grundsatz nach verfassungsrechtlich zu beanstanden sei noch die Zulässigkeit und Erforderlichkeit von Ausgleichsmandaten (VerfGHE 74, 1 Rn. 36 bis 38). Weiter hat der Verfassungsgerichtshof ausgeführt, dass sich eine Verletzung der Wahlgleichheit durch Art. 44 Abs. 2 LWG insbesondere unter dem Blickwinkel der mit der Regelung verbundenen Proporzverschiebungen zwischen den einzelnen Wahlkreisen nicht feststellen lasse. So komme in Art. 14 Abs. 1 Satz 6 BV zum Ausdruck, dass der Verfassungsgeber das Entstehen von Überhang- und Ausgleichsmandaten als grundsätzlich mit dem von der Bayerischen Verfassung vorgegebenen Wahlsystem kompatibel erachte und sich der Landesgesetzgeber daher für die Einführung solcher Mandate im Landeswahlgesetz entscheiden durfte. Bei der Ausgestaltung einer diesbezüglichen Regelung habe er allerdings nicht nur einseitig den Aspekt des Art. 14 Abs. 1 Satz 6 BV in den Blick nehmen dürfen, sondern auch den übrigen verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 14 BV, insbesondere dem Grundsatz der Wahlgleichheit gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 1 BV, Rechnung tragen müssen. Der Gesetzgeber habe in Art. 14 BV eine Reihe von teilweise in Konkurrenz zueinander stehenden Anforderungen für die Gestaltung der Landtagswahl geregelt, sodass eine optimale Umsetzung jeder einzelnen Vorgabe faktisch unmöglich sei. Konkurrierende verfassungsrechtliche Voraussetzungen könnten innerhalb gewisser relativer und absoluter Grenzen daher auch Abweichungen vom verhältniswahlrechtlichen Grundsatz verzerrungsfreien Parteienproporzes und voller Erfolgswertgleichheit rechtfertigen. Es sei nicht erkennbar, dass diese Grenzen mit der in Art. 44 Abs. 2 LWG geregelten Zulassung von Überhang- und Ausgleichsmandaten überschritten würden (VerfGHE 74, 1 Rn. 39 ff.).
60
bb) Die Wahlbeanstandungen der Antragsteller sind nicht geeignet, diese Beurteilung infrage zu stellen und eine Aussetzung zur erneuten Befassung des Verfassungsgerichtshofs mit dieser Vorschrift in der für die Normenkontrolle zuständigen Zusammensetzung (vgl. Art. 3 Abs. 3 Sätze 1 und 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VfGHG) zu rechtfertigen.
61
(1) Die Vereinbarkeit der grundsätzlichen Zulassung von Überhang- und Ausgleichsmandaten durch Art. 14 Abs. 1 Satz 6 BV mit dem Homogenitätsgrundsatz gemäß Art. 28 Abs. 1 GG steht auch vor dem Hintergrund der inzwischen erfolgten Änderung des Bundeswahlgesetzes durch Gesetz vom 8. Juni 2023 (BGBl I Nr. 147) und der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juli 2024 (BVerfGE 169, 236) nicht infrage. Zwar gelten aufgrund der Gesetzesänderung für die Wahl zum Deutschen Bundestag nunmehr die Grundsätze der Verhältniswahl (§ 1 Abs. 2 Satz 1 BWahlG) verbunden mit einem Zweitstimmendeckungsverfahren (§ 1 Abs. 2 und 3, § 6 Abs. 1 und 4 BWahlG) anstatt des zuvor geltenden personalisierten Verhältniswahlsystems (§ 1 Abs. 1 BWahlG a. F.). Auf Bundesebene kommt es daher nicht mehr zur Entstehung von Überhang- und Ausgleichsmandaten und das Bundesverfassungsgericht hat mit der genannten Entscheidung diese Änderung des Wahlsystems gebilligt. Der Landesgesetzgeber ist aber, wie in der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vom 1. Februar 2021 näher dargelegt, durch das Homogenitätsgebot nicht an das jeweilige Wahlsystem des Bundes, sondern an die Wahlrechtsgrundsätze gebunden. An diesen hat sich weder durch die Gesetzesänderung noch durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts etwas geändert. Dem Landesgesetzgeber steht unverändert der in der Entscheidung vom 1. Februar 2021 näher dargestellte weite Entscheidungsspielraum für die Gestaltung des Wahlrechts auf Landesebene zu.
62
(2) Die zentrale Beanstandung der Antragsteller, dass über die 11 Überhang- und 12 Ausgleichsmandate keine Abstimmung stattgefunden habe und damit die unmittelbare Wahl davon betroffener Abgeordneter durch das Volk fehle, ist unberechtigt. Art. 44 Abs. 2 LWG verletzt nicht den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl.
63
Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verbietet eine Wahl durch Wahlmänner und schließt jedes Wahlverfahren aus, bei dem zwischen Wähler und Wahlbewerber nach der Wahlhandlung eine Instanz eingeschaltet wird, die nach ihrem Ermessen in der Lage ist, die Vertreter auszuwählen und damit den Wählern die Möglichkeit nimmt, den zukünftigen Vertreter durch Stimmabgabe selbst zu bestimmen (VerfGH vom 4.10.1974 VerfGHE 27, 139/146). Er fordert auch ein Wahlverfahren, in dem der Wähler vor dem Wahlakt erkennen kann, welche Personen sich um ein Abgeordnetenmandat bewerben und wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann (VerfGHE 72, 171 Rn. 46). Durch die Wahl aus einer im Voraus festgelegten Liste wird die Unmittelbarkeit der Wahl beispielsweise nicht beeinträchtigt; einem in das Ermessen etwa einer Partei gestellten Abweichen von der Reihenfolge der gewählten Listennachfolger dagegen stünde sie entgegen (vgl. Möstl in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 14 Rn. 30; Wollenschläger in Meder/Brechmann, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 14 Rn. 40).
64
Nach diesen Maßgaben ist weder im Hinblick auf die Stimmkreis- noch auf die Wahlkreisabgeordneten ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl festzustellen.
65
Die unmittelbare demokratische Legitimation aller Stimmkreisabgeordneten folgt daraus, dass diese jeweils unter den sich in ihrem Stimmkreis bewerbenden Personen die meisten Erststimmen erhalten und sich somit im Weg der relativen Mehrheitswahl durchgesetzt haben (Art. 21 Abs. 3, Art. 43 Abs. 1 LWG; vgl. bereits oben unter a) bb)). Art. 44 Abs. 2 Satz 1 LWG, nach dem auf diese Weise errungene Sitze dem Wahlkreisvorschlag auch dann verbleiben, wenn die Anzahl der Direktmandate in einem Wahlkreis (zunächst) nicht durch die Zahl der auf den Wahlkreis treffenden Sitze abgedeckt ist, ändert an der Auswahl der Stimmkreisabgeordneten durch die Wähler selbst nichts. Überhangmandate sind unmittelbar errungene Direktmandate, auch wenn sich nicht feststellen lässt, welches einzelne Mandat einen Überhang bildet. Sie entstehen als Folge der gesetzgeberischen Entscheidung, dass im Weg der Direktwahl gewonnene Mandate auf die der jeweiligen Liste zustehenden Sitze verrechnet werden sollen, die unterschiedlichen Wahlerfolge der Direktwahl und der Listenwahl jedoch eine solche Verrechnung nicht stets (voll) zulassen. Dass sich aus der freien Wahlentscheidung der Wähler im System einer Verhältniswahl mit vorgeschalteter Mehrheitswahl ein nicht anrechenbares Direktmandat ergeben kann, ist zulässige Folge dieses vom Gesetzgeber in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz vorgezeichneten Wegs zur Ausübung des Wahlrechts (vgl. bereits VerfGHE 72, 171 Rn. 47; BVerfG vom 10.4.1997 BVerfGE 95, 335/357 ff.). Auf diese Weise kommt in der Überhangkonstellation das Verbesserungselement der Mehrheitswahl in Stimmkreisen ungeschmälert zur Geltung, kein Stimmkreis verliert seinen Stimmkreisabgeordneten (vgl. Möstl, BayVBl 2022, 433).
66
Auch die Zuteilung von sog. Ausgleichsmandaten gemäß Art. 44 Abs. 2 Satz 2 LWG ändert nichts an der unmittelbaren demokratischen Legitimation davon betroffener Wahlkreisabgeordneter. Die Wahlkreisabgeordneten (Listenmandate) werden, wie oben unter a) bb) näher dargestellt, mit der Zweitstimme der Wähler aus den Wahlkreislisten der einzelnen Wahlkreisvorschläge der Parteien und Wählergruppen gewählt. Hierin liegt keine unzulässige Parteienwahl, zumal die Zweitstimme – anders als etwa bei den Bundestagswahlen – grundsätzlich nicht an eine der Wahlkreislisten als solche, sondern an eine bestimmte Person aus den dort aufgeführten Wahlkreisbewerbern vergeben wird (vgl. VerfGHE 72, 171 Rn. 58; vgl. zu Änderungen der Bewerber nach der Reihenfolge auf dem Stimmzettel und nach der Reihenfolge der erhaltenen Gesamtstimmen: Der Landeswahlleiter des Freistaates Bayern, Wahl zum 19. Bayerischen Landtag am 8. Oktober 2023 – Endgültiges Ergebnis Bewerber und Abgeordnete – S. 177 bis 192, https:// www.statistik.bayern.de/mam/produkte/veroffentlichungen/statistische_berichte/ b7240d_202351.pdf). Gewählt sind die Bewerber auf der Wahlkreisliste mit den meisten Erst- und Zweitstimmen, und zwar so viele, wie für den Wahlkreisvorschlag Listensitze errechnet wurden. Durch den in Art. 44 Abs. 2 Satz 2 LWG geregelten Ausgleichsmechanismus wird lediglich die dem Wahlkreis regulär (nach Art. 21 Abs. 2 LWG) zustehende Anzahl an Listensitzen erhöht, und zwar so weit, bis der Proporz zwischen den Wahlvorschlägen der Parteien unter Erhaltung der Direktmandate wieder erreicht wird. In Wahlkreisen mit einem oder mehr Überhangmandaten können auf diese Weise auch die Wahlkreisvorschläge anderer Parteien zusätzliche Sitze erhalten. Der Ausgleichsmechanismus ändert aber nichts an der internen Verteilung der Listensitze innerhalb einer Wahlkreisliste an die sich bewerbenden Personen. Diese richtet sich gemäß Art. 45 Abs. 1 LWG auch hinsichtlich zusätzlich nach Art. 44 LWG festgestellter Sitze nach der Zahl der auf die Bewerber entfallenden Stimmen. Die interne Verteilung der Listenmandate steht insgesamt durch das bei den Wählern am Wahltag erzielte Wahlergebnis fest; auch etwaige zusätzliche Abgeordnete durch eine Erhöhung der Sitzzahl für den Wahlkreis wurden von den Wählern durch die Stimmabgabe selbst bestimmt. Es kann daher keine Rede davon sein, dass über solche Mandate keine Abstimmung stattgefunden hätte (vgl. auch VerfGHE 72, 171 Rn. 61).
67
(3) Die Antragsteller wenden auch ohne Erfolg ein, dass es für „überhanglose“ Ausgleichsmandate von vornherein keinen Rechtsgrund geben könne und sie das Willkürverbot verletzten. Dem beschriebenen Ausgleichsmechanismus gemäß Art. 44 Abs. 2 Satz 2 LWG ist rechnerisch immanent, dass es mehr Ausgleichs- als Überhangmandate geben kann. Die Ausgleichsmandate stellen sicher, dass sich das verbessernde mehrheitswahlrechtliche Element der Zulassung von Überhangmandaten letztlich ganz in den verhältniswahlrechtlichen Grundcharakter der Landtagswahl einfügt, indem daraus resultierende Parteiproporzverzerrungen durch die Vergrößerung der Sitzzahl für den betroffenen Wahlkreis im Landtag ausgeglichen werden (vgl. VerfGHE 74, 1 Rn. 53; Möstl, BayVBl 2022, 433/434 f.). Eine gesetzliche Begrenzung der Zahl der Ausgleichsmandate je Wahlkreis dahingehend, dass es pro Wahlkreis nicht mehr Ausgleichs- als Überhangmandate geben darf (vgl. z. B. § 6 Abs. 6 Satz 3 SächsWahlG), wäre zwar eine von mehreren grundsätzlich denkbaren Gestaltungsmöglichkeiten. Der bayerische Landesgesetzgeber hat sich aber nicht für eine solche Lösung entschieden; verfassungsrechtlich zwingend ist sie im Rahmen der von Art. 14 Abs. 1 BV vorgegebenen, teils gegenläufigen Strukturentscheidungen für das Wahlsystem nicht. Zwar würde durch eine solche Lösung das mehrheitswahlrechtliche Verbesserungselement bei gleichzeitiger Reduzierung von Mandatszuwächsen und regionalen Proporzverzerrungen gestärkt. Sie erschiene jedoch mit Blick auf den Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl problematisch, da sie die volle verhältniswahlrechtliche Erfolgswertgleichheit beeinträchtigen würde (vgl. Möstl, BayVBL 2022, 433/437 f.; vgl. zu verschiedenen denkbaren Ausgleichsmechanismen auch Boehl, BWahlG, 11.Aufl. 2021, § 6 Rn. 57 f.).
68
(4) Soweit die Antragsteller Verschiebungen des Regionalproporzes zwischen den Regierungsbezirken durch das Zulassen von Überhang- und Ausgleichsmandaten in Art. 44 Abs. 2 LWG monieren, hat sich der Verfassungsgerichtshof insbesondere in seiner Entscheidung vom 1. Februar 2021 speziell damit ausführlich auseinandergesetzt und entschieden, dass der Gesetzgeber insoweit die verfassungsrechtlichen Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit nicht überschritten hat (vgl. oben unter aa) sowie VerfGHE 74, 1 Rn. 44 ff., 53; vgl. auch bereits VerfGHE 72, 171 Rn. 63 ff.).
69
c) Die Beanstandungen der Antragsteller gegenüber der gleichlautend in Art. 14 Abs. 4 BV und Art. 42 Abs. 4 LWG enthaltenen Fünf-Prozent-Sperrklausel haben ebenfalls keine Berechtigung.
70
Danach erhalten Wahlvorschläge, auf die im Land nicht mindestens fünf vom Hundert der insgesamt abgegebenen gültigen Stimmen entfallen, keinen Sitz im Landtag zugeteilt. Durch die Formulierung „im Land“ und „der insgesamt abgegebenen gültigen Stimmen“ ist eindeutig festgelegt, dass damit eine landesweite und auf die Summe der Erst- und Zweitstimmen bezogene Fünf-Prozent-Hürde aufgestellt wird. Art. 14 Abs. 4 BV kann nicht entgegen seinem eindeutigen Wortlaut auf die Regierungsbezirke bezogen werden, zumal die heutige Fassung auf eine Änderung durch das Dritte Gesetz zur Änderung der Verfassung des Freistaates Bayern vom 19. Juli 1973 (GVBl S. 389) zurückgeht und durch sie die zuvor geltende, auf einzelne Wahlkreise bezogene Zehn-Prozent-Sperrklausel (Art. 14 Abs. 4 BV a. F.) abgelöst wurde. Der Verfassungsgerichtshof hat sich auch bereits mehrfach in Wahlprüfungsverfahren mit der landesweiten Sperrklausel befasst und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass sie nicht gegen höherrangige Normen der Bayerischen Verfassung verstößt. Entsprechend hat er entschieden, dass keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Folgeregelung zur Umsetzung der Fünf-Prozent-Klausel in Art. 42 Abs. 4 LWG bestehen (VerfGHE 67 , 263 Rn. 51 f. m. w. N.).
71
d) Die Rügen der Antragsteller gegen eine Zusammenzählung von Erst- und Zweitstimmen, mit denen sie monieren, dass es bei der Landtagswahl keine Stimmzettel gegeben habe, auf denen die Wähler eine „Gesamtstimme“ hätten vergeben können, um einen Abgeordneten mit einem „Gesamtmandat“ der dritten Art zu wählen, sind bereits im Ansatz verfehlt. Denn sie verkennen den Regelungsgehalt insoweit einschlägiger Vorschriften im Landeswahlgesetz.
72
Entgegen der bei den Antragstellern offenbar vorherrschenden Vorstellung gibt es keine Vorschriften, nach denen aus der Erst- und der Zweitstimme eines Wählers eine „Gesamtstimme“ desselben gebildet würde. Vielmehr werden gemäß Art. 45 Abs. 1 Satz 2 LWG für die interne Verteilung der Listensitze des Wahlvorschlags einer Partei oder Wählergruppe die Erststimmen, die ein erfolgloser Stimmkreisbewerber in seinem eigenen Stimmkreis erhalten hat, und die Zweitstimmen, die er in allen übrigen Stimmkreisen erhalten hat, zusammengezählt. Dies ist, wie oben unter a) bb) näher ausgeführt, von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.
73
Soweit im Übrigen in Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs von „Gesamtstimmenzahlen“ oder „Gesamtstimmenergebnissen“ gesprochen wird (vgl. z. B. VerfGHE 74, 1 Rn. 31; VerfGH vom 5.7.2022 – Vf. 57-III-19 – juris Rn. 45, 51, 59 und 68), geht es im Wesentlichen um die Berechnungsgrundlage für die Sitzverteilung gemäß Art. 42 Abs. 2 LWG . Nach dieser Vorschrift wird unabhängig davon, ob das Berechnungsverfahren nach Hare/Niemeyer (so gemäß der alten Fassung bis einschließlich der Landtagswahl 2018) oder das nach Sainte-Laguë/Schepers (so gemäß der aktuellen Fassung seit der Landtagswahl 2023) anzuwenden war bzw. ist, für die Berechnung des Parteienproporzes auf die Zahl der Stimmen, die für einen Wahlkreisvorschlag insgesamt im Wahlkreis abgegeben worden sind, abgestellt. Es werden also neben den (gültigen) Zweitstimmen auch die Erststimmen in die Berechnung einbezogen (Art. 42 Abs. 1 LWG ). Auch diese Regelung entspricht dem im Freistaat Bayern gemäß Art. 14 BV geltenden Wahlsystem eines „verbesserten Verhältniswahlrechts“ und ist verfassungsrechtlich unbedenklich.
74
3. Zum Az. P II-1003-1-18:
75
Die Wahlbeanstandungen allein des Antragstellers zu 4 unter diesem Aktenzeichen betreffen die Zuteilung der 11 Überhang- und 12 Ausgleichsmandate mit ähnlicher Argumentation wie der aller Antragsteller im Verfahren unter dem Az. P II-1003-1-24 und sind aus denselben Erwägungen unberechtigt. Auf die Ausführungen oben unter 2. b) wird Bezug genommen.
VII.
76
Das Verfahren ist kostenfrei (Art. 27 Abs. 1 Satz 1 VfGHG).