Inhalt

VG München, Beschluss v. 14.05.2025 – M 19 S 24.7747
Titel:

Entziehung der Fahrerlaubnis, Fahreignungs-Bewertungssystem, Zeitpunkt des „Ergreifens“ einer Maßnahme des Fahreignungs-Bewertungssystems, Beweiswert einer Postzustellungsurkunde, Heilung von Zustellmängeln durch Akteneinsichtnahme, Unterbliebene Sofortvollzugserklärung der Ablieferungsverpflichtung

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
StVG § 3 Abs. 1
FeV § 46 Abs. 1
StVG § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3
StVG § 4 Abs. 6 S. 1
ZPO § 180
Schlagworte:
Entziehung der Fahrerlaubnis, Fahreignungs-Bewertungssystem, Zeitpunkt des „Ergreifens“ einer Maßnahme des Fahreignungs-Bewertungssystems, Beweiswert einer Postzustellungsurkunde, Heilung von Zustellmängeln durch Akteneinsichtnahme, Unterbliebene Sofortvollzugserklärung der Ablieferungsverpflichtung
Fundstelle:
BeckRS 2025, 14453

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass der Widerspruch gegen die Nr. 2 des Bescheids des Antragsgegners vom 12. September 2024 aufschiebende Wirkung hat. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem.
2
Der 1989 geborene Antragsteller ist Inhaber der Fahrerlaubnis der Klassen A, A1, A2, AM, B und L.
3
Nach Mitteilungen des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 21. Juni 2019, 29. Juni 2020 und 3. November 2021 ergab sich für den Antragsteller mit Mitteilung vom 15. November 2021 ein Stand von fünf Punkten im Fahreignungsregister:

Datum der

- Tat

- Entscheidung

Verkehrszuwiderhandlung

Datum der Rechtskraft

Datum der Tilgung

Punkte

18.4.2019

21.5.2019

Nutzung eines Mobiltelefons in vorschriftswidriger Weise

7.6.2019

7.12.2021

(1)

21.4.2020

26.5.2020

Geschwindigkeitsüberschreitung 34 km/h außerorts

13.6.2020

13.12.2022

(1)

22.7.2021

1.10.2021

Geschwindigkeitsüberschreitung 25 km/h außerorts

20.10.2021

20.4.2024

1

8.8.2021

8.10.2021

Geschwindigkeitsüberschreitung 32 km/h innerorts

28.10.2021

28.10.2026

2

4
Daraufhin ermahnte der Antragsgegner den Antragsteller mit Schreiben vom 24. November 2021, zugestellt mittels Postzustellungsurkunde am 26. November 2021 auf Grundlage von § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) und wies ihn auf die Möglichkeit zur freiwilligen Teilnahme an einem Fahreignungsseminar hin.
5
Nach weiteren Mitteilungen des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 13. Februar 2023 und 6. März 2023 an den Antragsgegner enthielt das Fahreignungsregister mit Mitteilung vom 14. August 2023 für den Antragsteller folgende neue Eintragungen:

Datum der

- Tat

- Entscheidung

Verkehrszuwiderhandlung

Datum der Rechtskraft

Datum der Tilgung

Punkte

10.10.2022

10.1.2023

Nutzung eines Mobiltelefons in vorschriftswidriger Weise

28.1.2023

28.7.2025

1

21.12.2022

3.2.2023

Nutzung eines Mobiltelefons in vorschriftswidriger Weise

23.2.2023

23.8.2025

1

19.3.2023

22.5.2023

Geschwindigkeitsüberschreitung 23 km/h außerorts

28.7.2023

28.1.2026

1

6
Der Antragsgegner verwarnte den Antragsteller mit Schreiben vom 12. September 2023, zugestellt mittels Postzustellungsurkunde am 13. September 2023, auf Grundlage von § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG zu einem Punktestand von sechs Punkten und wies ihn auf die Möglichkeit zur freiwilligen Teilnahme an einem Fahreignungsseminar sowie darauf hin, dass bei einem Stand von acht Punkten die Fahrerlaubnis entzogen würde.
7
Nach weiteren Mitteilungen des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 5. Februar 2024 und vom 2. April 2024 ergab sich für den Antragsteller ein Stand von acht Punkten im Fahreignungsregister:

Datum der

- Tat

- Entscheidung

Verkehrszuwiderhandlung

Datum der Rechtskraft

Datum der Tilgung

Punkte

17.6.2022

29.11.2023

Geschwindigkeitsüberschreitung 30 km/h außerorts

28.12.2023

28.6.2026

1

1.9.2023

19.10.2023

Nutzung eines Mobiltelefons in vorschriftswidriger Weise

21.3.2024

21.9.2026

1

8
Auf die Anhörung des Antragstellers vom 25. Juni 2024, zugestellt am 28. Juni 2024, zeigte der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers seine Vertretung an. Ihm wurde auf seine Bitte hin mit Schreiben vom 9. Juli 2024, zugestellt am 15. Juli 2024 (vgl. PZU, Bl. 97 BA), Akteneinsicht gewährt und die Ermahnung und die Verwarnung samt Vorgängen zur Kenntnisnahme übersandt. Mit Schreiben vom 29. Juli 2024, 2., 23. und 26. August 2024 wandte der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers zuvörderst ein, dass der Antragsteller weder die Ermahnung noch die Verwarnung erhalten habe. Außerdem sei die Tat vom 22. Juli 2021 mit Ablauf des 20. April 2024 zu tilgen, sodass sich der Punktestand verringert habe.
9
Mit Bescheid vom 12. September 2024, zugestellt am 24. September 2024, entzog der Antragsgegner dem Antragsteller die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen der Klassen A, A2, A1, AM, B und L (Nr. 1) und ordnete die Abgabe des Führerscheins spätestens innerhalb einer Woche nach Bescheidszustellung an (Nr. 2). Unter Nr. 3 des Bescheids wurde festgestellt, dass der Bescheid kraft Gesetzes sofort vollziehbar sei. Hinsichtlich Nr. 2 wurde für den Fall der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld in Höhe von 500 € angedroht (Nr. 4). Die Entziehung der Fahrerlaubnis wurde mit dem Erreichen von acht Punkten begründet (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG), die Anordnung zur Ablieferung des Führerscheins auf § 3 Abs. 2 StVG, § 47 Abs. 1 Fahrerlaubnisverordnung (FeV) gestützt.
10
Der Antragsteller gab am 2. Oktober 2024 seinen Führerschein ab.
11
Am 17. Oktober 2024 erhob der Antragsteller gegen den Bescheid vom 12. September 2024 Widerspruch, über den noch nicht entschieden ist.
12
Ferner beantragte er am 23. Dezember 2024 beim Verwaltungsgericht München,
die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 17. Oktober 2024 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 12. September 2024 wiederherzustellen bzw. anzuordnen.
13
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse des Antragsgegners überwiege. Der Widerspruch habe Aussicht auf Erfolg, da die Entziehung des Führerscheins rechtswidrig sei. Die Maßnahmestufen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG seien nicht ordnungsgemäß durchlaufen worden. Der Antragsteller habe erstmals durch die Anhörung zur Entziehung von seinem aktuellen Punktestand erfahren. Der gesetzgeberische Sinn und Zweck der Ermahnung und der Verwarnung, dem Betroffenen eine Verhaltensänderung zu ermöglichen, sei nicht erreicht worden. Die laut Postzustellungsurkunde vom 26. November 2021 in den Briefkasten eingelegte Ermahnung vom 24. November 2021 habe den Antragsteller nicht erreicht. Die Briefkästen des Mietshauses, Adresse Z. straße 6, 8... I., seien nicht abschließbar gewesen. Dieser bauliche Zustand sei dem Postzusteller bekannt und offensichtlich gewesen. Die Anwohner hätten den Vermieter auf den Zustand auch hingewiesen. Nachdem festgestellt worden sei, dass eine demenzkranke ältere Hausmitbewohnerin Post aus der Briefkastenanlage entnommen habe, sei die Anlage später erneuert worden. Zur Glaubhaftmachung wurden ein Foto des Hauseingangs und der Briefkästen, sowie der Screenshot eines Chat-Verlaufs mit einer Nachbarin vorgelegt. Der Rückschluss des Antragsgegners, dass aufgrund einer Zahlung einer Kostenrechnung der Zugang der Ermahnung bewiesen sei, sei unzulässig. Der Antragsteller habe zudem die Verwarnung nicht erhalten. Im Zeitpunkt der in der Postzustellungsurkunde vom 13. September 2023 angegebenen Zeit sei seine Ehefrau in der gemeinsamen Wohnung gewesen. Eine Ersatzzustellung durch Einlegen des Briefes in den Briefkasten sei daher unzulässig gewesen. Auch diesbezüglich sei der Verweis auf eine Zahlung der Kostenrechnung unzulässig, da diese ausschließlich Angaben der Kostenrechnung wiedergebe. Zur Glaubhaftmachung wurde eine eidesstattliche Versicherung der Ehefrau des Antragstellers vom 23. August 2024 vorgelegt. Die Beweiswirkung der Postzustellungsurkunde sei daher glaubhaft widerlegt. Überdies sei der Antragsteller als unterhaltsverpflichteter junger Familienvater und Alleinverdiener zur Ausübung seines Berufs auf die Fahrerlaubnis angewiesen. Nur mit dem Pkw sei gewährleistet, dass er seine Arbeitsstätte, wie vom Arbeitgeber gefordert, um 7:30 Uhr erreiche.
14
Der Antragsgegner beantragte am 17. Januar 2025, den Antrag abzulehnen.
15
Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass sowohl die Ermahnung als auch die Verwarnung zugestellt worden seien. Spätestens zum Zeitpunkt der vom Antragsteller getätigten Gebührenzahlungen habe der Antragsteller in Erfahrung bringen können, um welche Maßnahmen es gegangen sei. Im Übrigen komme es dem Fahreignungsbewertungssystem nicht darauf an, ob eine Maßnahme den Betroffenen tatsächlich erreicht habe, um die nächste Stufe einleiten zu können. Das mit Wirkung ab 1. Mai 2014 grundlegend überarbeitete Punktesystem habe, von der Warn- und Erziehungsfunktion der Maßnahmestufen hin zu einer bloßen Hinweisfunktion, einen Systemwechsel erfahren. Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (U.v. 18.3.2024 – 11 BV 23.1193) habe der Gesetzgeber die Befugnis der Behörde, die Maßnahme der nächsten Stufe zu ergreifen, nicht von außerhalb ihres Einfluss liegender Zustellrisiken wie Zeitpunkt, Unzustellbarkeit etc. abhängig machen wollen. § 4 Abs. 6 StVG stelle auf das Tätigwerden der Behörde ab. Eine Ermahnung oder Verwarnung sei demnach ergriffen, wenn die Behörde das jeweilige Schreiben abschließend bearbeitet habe. Im Übrigen seien sowohl die Ermahnung als auch die Verwarnung mit Postzustellungsurkunde vom 26. November 2021 und vom 13. September 2023 durch Einlegen in den Briefkasten zugestellt worden. Die Kostenrechnung für die Ermahnung sei nach erfolgter Mahnung und Vollstreckungsversuch am 2. März 2022 und die Kostenrechnung für die Verwarnung am 18. September 2023 bezahlt worden (vgl. AV des Antragsgegners v. 23.10.2024, Bl. 193 ff. BA).
16
Nach richterlichem Hinweis vom 17. Februar 2025 und der von Antragsgegnerseite erklärten Bereitschaft einen Neuerteilungsantrag zu prüfen, erklärte der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers mit Schreiben vom 4. April 2025 an dem Antrag im einstweiligen Rechtsschutz festhalten zu wollen. Die Beweiskraft nach § 418 Abs. 1 ZPO der Zustellungsurkunde sei sowohl hinsichtlich der Ermahnung als auch der Verwarnung glaubhaft erschüttert worden. Dem Vermieter sei der Mangel des offensichtlich ungeeigneten Gemeinschaftsbriefkastens angezeigt worden. Dieser sei jedoch erst nach den versuchten Zustellungen beseitigt worden und daher nicht vom Antragsteller zu vertreten. Für das Problem bestünden mit Art. 3 Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz (VwZVG) i.V.m. § 181 Zivilprozessordnung (ZPO) anderweitige Zustellmöglichkeiten, die jedoch nicht genutzt worden seien. Eine Zustellung nach § 180 ZPO in den Gemeinschaftsbriefkasten genüge gemäß der vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (B.v. 2.11.2022 – 11 CS 22.1984) aufgestellten Kriterien nur, wenn kumulativ eine entsprechende Beschriftung eine eindeutige Zuordnung zum Adressaten ermögliche, der Adressat typischer Weise seine Post über den Gemeinschaftsbriefkasten erhalte und der Kreis der Mitbenutzer überschaubar sei. Dies sei hier nicht gegeben. Die Unwirksamkeit der Zustellungen sei auch nicht durch die Akteneinsicht im Rahmen der Anhörung vom Juli 2024 geheilt worden. Es widerspreche § 4 Abs. 6 StVG eine unterbliebene Maßnahme zu überspringen. Schließlich bedürften Ermahnung und Verwarnung auch mit der vom Antragsgegner zitierten Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18. März 2024 des Zugangs, um wirksam zu werden. Eine ergriffene Maßnahme setze somit den Zugang beim Adressaten voraus und könne kein Verwaltungsinternum bleiben.
17
Der Antragsgegner erwiderte mit Schreiben vom 14. April 2025, dass nach (erneuter) Rücksprache vom 8. April 2025 mit der damals zuständigen Kasse am 1. März 2022 vom Konto des Antragstellers die Kostenrechnung für die Ermahnung im Rahmen des Mahnverfahrens eingezahlt worden sei. Hierauf replizierte der Antragsteller mit Schreiben vom 16. April 2025, dass die Einlassung des Antragsgegners den fehlenden zeitlichen Zusammenhang der Zahlung mit der Ermahnung vom 24. November 2021 beweise. Die Zahlung sei ausschließlich im Rahmen eines Mahnverfahrens im März 2022 und nicht auf eine der Ermahnung beigefügten Kostenrechnung hin erfolgt. Daraus lasse sich schließen, dass der Vortrag des Antragstellers, die Ermahnung nicht erhalten zu haben, zutreffend sei. Hierauf tauschten die Parteien erneut Stellungnahmen aus (Schreiben des Antragsgegners v. 29.4.2025; Schreiben des Antragstellers v. 6.5.2025).
18
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
19
Der Antrag hat nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen, geringem Umfang Erfolg.
20
1. Der Antragsteller begehrt in erster Linie hinsichtlich der in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids verfügten und kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Entziehung seiner Fahrerlaubnis die Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 4 Abs. 9 StVG) seines Widerspruchs.
21
Dieser Antrag ist zulässig, aber unbegründet.
22
Bei der Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hat das Gericht eine eigenständige Interessenabwägung vorzunehmen. Abzuwägen ist das Interesse des Antragstellers, zumindest vorläufig von seiner Fahrerlaubnis weiter Gebrauch machen zu können, gegen das Interesse der Allgemeinheit daran, dass dies unverzüglich unterbunden wird. Bei der Prüfung ist in erster Linie von den Erfolgsaussichten des eingelegten Hauptsacherechtsbehelfs, hier des Widerspruchs vom 17. Oktober 2024, auszugehen. Lässt sich bei summarischer Prüfung eindeutig feststellen, dass der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist und den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, kann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung dieses Verwaltungsakts bestehen. Andererseits ist für eine Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers im Regelfall kein Raum, wenn keine Erfolgsaussichten in der Hauptsache bestehen. So liegt die Sache hier.
23
Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt des Widerspruchs gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (stRspr, vgl. u.a. BVerwG, U.v. 23.10.2014 – 3 C 3.13 – juris Rn. 13). Da im vorliegenden Fall ein Widerspruchsbescheid noch nicht ergangen ist, kommt es auf den Zeitpunkt der Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes an.
24
Nach summarischer Prüfung hat der zulässige Widerspruch vom 17. Oktober 2024 gegen die mit Bescheid vom 12. September 2024 verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis (dort Nr. 1) voraussichtlich keine Aussicht auf Erfolg, da die Entziehung rechtmäßig ist und den Antragsteller nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
25
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde dem Inhaber einer Fahrerlaubnis, der sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist, die Fahrerlaubnis zu entziehen. Gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt dieser als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wenn sich aus dem Fahreignungs-Bewertungssystem acht oder mehr Punkte ergeben. Die Fahrerlaubnisbehörde hat dann zwingend die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sie die Maßnahmen der davorliegenden Stufen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 StVG bereits ergriffen hat (§ 4 Abs. 6 Satz 1 StVG). Für die Entziehung der Fahrerlaubnis hat die Behörde nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Punkte ergeben sich nach § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird (Tattagprinzip).
26
1.1. Im jeweiligen, für die Maßnahmeergreifung maßgeblichen Zeitpunkt – dem Tag der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit (vgl. § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG) – ergaben sich für den Antragsteller bei der Ermahnung (1. Stufe) fünf Punkte, der Verwarnung (2. Stufe) sechs Punkte und der Entziehung (3. Stufe) acht Punkte.
27
1.1.1. Bei der Berechnung des Punktestandes zum Ergreifen der Maßnahmen ist auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der letzten (zur Maßnahme führenden) Straftat oder Ordnungswidrigkeit (Tattagprinzip) ergeben hat (§ 4 Abs. 5 Satz 5 StVG), wobei nur die Verstöße berücksichtigt werden dürfen, deren Tilgungsfrist in diesem Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war. Nach § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 2 StVG werden Zuwiderhandlungen nur dann berücksichtigt, wenn deren Tilgungsfrist zu dem in Satz 5 genannten Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war. Spätere Verringerungen des Punktestandes auf Grund von Tilgungen bleiben nach § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG unberücksichtigt (BVerwG, U.v. 26.1.2017 – 3 C 21.15 – juris Rn. 22).
28
1.1.2. Die der Entziehung zugrundeliegenden Stufen stützen sich hier auf die zu berücksichtigenden Taten.
29
Der Antragsteller wurde bei einem Punktestand von fünf Punkten mit Schreiben vom 24. November 2021 ermahnt. Zu diesem Zeitpunkt unterlagen die vier einbezogenen Taten (18.4.2019, 21.4.2020, 22.7.2021 und 8.8.2021) weder einer Tilgung noch einer Löschung. Bei einem Punktestand von sechs Punkten wurde er sodann mit Schreiben vom 12. September 2023 verwarnt. Die Taten vom 18. April 2019 (Tilgung am 7.12.2021) und vom 21. April 2020 (Tilgung am 13.12.2022) wurden richtigerweise nicht einbezogen, da sie bereits im maßgeblichen Zeitpunkt des letzten Tattags – am 21. Dezember 2022 – getilgt waren (vgl. Darstellung unter der in I. dargestellten Tabellen mit eingeklammertem Punktestand). Die übrigen Taten vom 22. Juli 2021, vom 8. August 2021, vom 10. Oktober 2022, vom 21. Dezember 2023 und vom 19. März 2023 ergaben einen Punktestand von sechs Punkten, sodass der Antragsgegner zurecht die Verwarnung ausgesprochen hat.
30
1.1.3. Zu dem für die Ergreifung der dritten Stufe (Entziehungsmaßnahme gem. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG) maßgeblichen Zeitpunkt am 1. September 2023 war die Tilgungsfrist für die im Bescheid berücksichtigten Taten vom 22. Juli 2021 (Tilgungsfrist am 20.4.2024), vom 8. August 2021 (Tilgungsfrist am 28.10.2026), vom 10. Oktober 2022 (Tilgungsfrist am 28.7.2025), vom 21. Dezember 2022 (Tilgungsfrist am 23.8.2025), vom 19. März 2023 (Tilgungsfrist am 28.1.2026), vom 17. Juni 2022 (Tilgungsfrist am 28.6.2026) und vom 1. September 2021 (Tilgungsfrist am 21.9.2026) noch nicht abgelaufen. Infolge des erst späteren Ablaufs der jeweiligen Tilgungsfrist finden daher alle in den unter I. dargestellten Tabellen aufgeführten Taten, deren Punktestand ohne Klammer dargestellt sind, Berücksichtigung für den Punktestand des Antragstellers am 1. September 2023.
31
1.2. Der Antragsgegner hat auch die beiden nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 StVG vor der Entziehung der Fahrerlaubnis liegenden Stufen des Maßnahmensystems (Ermahnung und Verwarnung) rechtsfehlerfrei gegen den Antragsteller ergriffen (§ 4 Abs. 6 Satz 1 StVG).
32
Gemäß § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG darf die nach Landesrecht zuständige Behörde eine Maßnahme nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 oder Nr. 3 erst ergreifen, wenn die Maßnahme der jeweils davorliegenden Stufe bereits ergriffen worden ist.
33
1.2.1 Der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichthofs folgend, setzt das Ergreifen einer Maßnahme im Sinne von § 4 Abs. 6 Satz 1 bis 3 StVG nicht den Zugang des entsprechenden Schreibens beim Adressaten bzw. die Wirksamkeit der Maßnahme voraus. „Ergriffen“ im Sinne von § 4 Abs. 6 Satz 1 bis 3 StVG ist die Maßnahme vielmehr bereits dann, wenn die Behörde das jeweilige Schreiben aus ihrer Sicht abschließend bearbeitet hat, was regelmäßig mit dem Tag des Ausstellens zusammenfallen dürfte (vgl. BayVGH, U.v. 18.3.2024 – 11 BV 23.1193 – juris OS 3 und 4; Rn. 29 ff.).
34
Damit ist obergerichtlich geklärt, dass die Zeitpunkte, in denen die Maßnahmen „ergriffen“ wurden, in der Regel mit denen ihres Zugangs auseinanderfallen werden. Jedenfalls in dem Zeitpunkt, in dem das Schreiben den Herrschaftsbereich der Behörde verlassen hat – dies wird regelmäßig mit der Aufgabe des Schreibens zur Post sein – ist die Maßnahme ergriffen. Sowohl mit dem Gesetzeswortlaut, der Gesetzesbegründung, der Gesetzessystematik und dem Sinn und Zweck der Regelungen in § 4 Abs. 5 und 6 StVG lässt sich der Zeitpunkt der abschließenden Bearbeitung der Maßnahme durch die Behörde als der für das „Ergreifen“ maßgebliche Zeitpunkt begründen. Dies ist angesichts der Unwägbarkeiten des Zustellvorgangs auch eine im Sinne der Sicherheit des Straßenverkehrs sachgerechte Lösung (vgl. hierzu ausführlich BayVGH, U.v. 18.3.2024, a.a.O. Rn. 31 – 33).
35
1.2.2. Vorliegend wird zweifelsfrei davon auszugehen sein, dass sich der Antragsgegner vor dem Ergreifen der 2. Stufe am 12. September 2023, der mehr als ein dreiviertel Jahr vorher verfassten Ermahnung vom 24. November 2021 entäußert hat. Ebenso ging der 3. Stufe (Entziehung v. 12.9.2024) mit klarem zeitlichen Abstand die exakt ein Jahr vorhergehende Verwarnung vom 12. September 2023 voraus.
36
1.2.3. Die vorgehende Betrachtungsweise führt keinesfalls dazu, dass ein Zugang der jeweiligen Maßnahmen obsolet würde. Bevor eine Entziehungsmaßnahme i.S.d. § 4 Abs. 5 Satz 3 StVG getroffen werden kann, müssen Ermahnung und Verwarnung dem Betroffenen zugegangen sein. Auch dies war hier der Fall.
37
Sowohl bezüglich der Ermahnung vom 24. November 2021 als auch der Verwarnung vom 12. September 2023 liegen Postzustellungsurkunden vor. Als öffentliche Urkunde im Sinne von § 418 Abs. 1 ZPO erbringt die Postzustellungsurkunde den vollen Beweis für die darin bezeugten Tatsachen. Diese Beweiskraft kann nur durch die substantiierte Darlegung und Glaubhaftmachung des Gegenteils entkräftet werden. Der nach § 418 Abs. 2 ZPO erforderliche Gegenbeweis wurde hier bislang weder hinsichtlich der Postzustellungsurkunde der Ermahnung noch der Postzustellungsurkunde der Verwarnung geführt.
38
(1) Die Beweiskraft der Postzustellungsurkunde vom 26. November 2021 bezüglich der Ermahnung vom 24. November 2021 an die vormalige Adresse des Antragstellers in der Z. straße 6, 8... I. am 26. November 2021 durch Einlegen in den Briefkasten, kann nicht mit dem Einwand eines nicht abschließbaren Briefkastens und der Entnahme durch eine demenzkranke Hausmitbewohnerin entkräftet werden. Auch wenn die Anforderungen an die darlegungsbelastete Partei nicht überspannt werden dürfen, bedarf es unter anderem eines konkreten Vortrags, welche Vorkehrungen getroffen werden, dass eingegangene Brief- und sonstige Postsendungen sorgfältig gesichtet werden können (vgl. BGH, B.v. 121.2023 – IX ZB 5/22 – juris Rn. 7 m.w.N.).
39
Dies hat der Antragsteller nicht substantiiert dargelegt. Es wurde bereits nicht nachgewiesen, dass er seinen Briefkasten ordnungsgemäß beschriftet hat. Auf dem vorgelegten Foto der defekten Briefkästen (Anlage A2) ist kein Name oder eine Hausnummer erkennbar. Es lässt sich damit weder sagen, ob es sich um den Briefkasten des Antragstellers noch um den seines damaligen Wohnhauses handelt. Auch ist keine zwangsläufige Zuordnung des Fotos des defekten Briefkastens mit dem ebenfalls vorgelegten Foto des Hauseingangs (Anlage A1) – das im Übrigen auch keine Zuordnung zu der damaligen Hausadresse zulässt – möglich. Das andere Erscheinungsbild der Hauswand und der oberen sowie unteren Begrenzung der Mauer der dargestellten defekten Briefkästen (Anlage A2) im Vergleich mit dem Foto des vorgelegten Hauseingangs (Anlage A1) erwecken jedenfalls Zweifel. Darüber hinaus wurde nicht substantiiert, ob und welche Maßnahmen der Antragsteller ergriffen habe, die Reparatur eines etwaig beschädigten Briefkastens sicherzustellen. Aus dem Screenshot des undatierten Chatverlaufs (Anlage A3) geht nicht hervor, dass der Antragsteller vor dem Zustellungszeitpunkt am 26. November 2021 mit der Hausverwaltung gesprochen hatte. Der Vortrag des Antragstellers ist voraussichtlich als Schutzbehauptung zu werten, wonach er nachträglich Gründe gesucht hat, um einen fehlenden Zugang zu konstruieren. Der Nachweis dafür, Vorkehrungen getroffen zu haben, dass ihn eingehende Postsendungen zuverlässig erreichen, wird damit nicht geführt.
40
Auch dem Einwand des Antragstellers, dass vorliegend eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten nach § 180 ZPO ausgeschlossen gewesen wäre und vielmehr eine andere Zustellmöglichkeit, wie die Ersatzzustellung durch Niederlegung gemäß § 181 ZPO, hätte genutzt werden müssen, kann nicht gefolgt werden. Die angeführte Rechtsprechung zu den Anforderungen im Fall des Vorliegens eines Gemeinschaftsbriefkastens (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2022 – 11 CS 22.1984 – juris Rn. 24) ist hier mangels Vorliegens eines solchen nicht anwendbar. Diesbezüglich trifft der Antragsteller selbst unterschiedliche Aussagen. Während er in seinem ersten Schriftsatz vom 23. Dezember 2024 von einem „seiner Wohnung zugeordneten Briefkasten“ spricht, wird im Schriftsatz vom 4. April 2025 von einem Gemeinschaftsbriefkasten ausgegangen, ohne dies weiter zu substantiieren. Auch dies wirkt wie eine Schutzbehauptung, um die fehlende vorgenommene Beschriftung und eindeutige Zuordnung zum Adressaten aus dem Verantwortungsbereich des Antragstellers zu schieben.
41
Außerdem wird jedenfalls zum Zeitpunkt der Begleichung der Kostenrechnung der Ermahnung durch den Antragsteller von ihrem Zugang auszugehen sein. Ein Dokument, dessen formgerechte Zustellung sich nicht nachweisen lässt oder das unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist, gilt als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist, er also das zuzustellende Schriftstück „in die Hand bekommen hat“. Dieser Zeitpunkt lässt sich in vielfältiger Weise feststellen; insoweit genügt auch eine schlüssige Handlung, wie etwa die Begleichung einer beigefügten Kostenrechnung (vgl. BayVGH, B.v. 29.7.2021 – 11 CS 21.1465 – juris Rn. 13 und 14). Die Zahlung der zeitgleich mit der Ermahnung versandten Kostenrechnung in Höhe von 20,78 € (Bl. 72 BA) wurde vom Antragsteller bezahlt (vgl. Nachweis Bl. 102 ff. BA). Er hat nicht glaubhaft dargelegt, die Gebühr nicht selbst gezahlt zu haben (so in der Fallkonstellation BayVGH, B.v. 2.11.2022 – 11 CS 22.1984 – juris Rn. 30). Es erscheint zudem realitätsfremd anzunehmen, dass er die Gebühr nach Erhalt der Mahnung in Unkenntnis des zugrundliegenden Forderungsgrunds gezahlt habe (vgl. BayVGH, B.v. 30.1.2023 – 11 CS 22.2007 – juris Rn. 13). Auch der Umstand, dass der Antragsteller die Ermahnungsgebühr erst im Rahmen einer nachfolgenden Zahlungsmahnung beglichen hat, vermag die Annahme der Kenntnis des Antragstellers von der Ermahnung nicht zu entkräften. Der Zeitpunkt einer Zahlung ändert nichts an dem zugrundeliegenden Zahlungsgrund. Der Forderungsgrund beruhte auch im Rahmen des Mahnverfahrens unverändert auf der Ermahnung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG.
42
(2) Ebenso wurde die Beweiskraft der Postzustellungsurkunde vom 13. September 2023 bezüglich der Verwarnung vom 12. September 2023 an die aktuelle Adresse des Antragstellers in der Dr.-E. Straße 25, 8... N. a.d. Donau nicht entkräftet.
43
Vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 180 ZPO (Ersatzzustellung) ist auszugehen. Auch wenn sich die Ehefrau in der Wohnung aufgehalten hat, wovon das Gericht aufgrund ihrer eidesstattlichen Versicherung ausgeht, führt dies nicht per se zu einem Ausschluss der Zustellung durch Einlegen in den Briefkasten. Denn die dafür in § 180 Satz 1 ZPO geforderte Voraussetzung ist eine nicht ausführbare Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 ZPO. Mit der Aussage der Ehefrau, sie habe im Zustellungszeitpunkt ein Klingeln oder Klopfen nicht wahrnehmen können, werden Zustellmängel, wie ein nicht unternommener Klingelversuch nicht substantiiert dargelegt. Die Anwesenheit einer Person im Haushalt des Zustellempfängers ist nicht geeignet zu widerlegen, dass der Postzusteller ordnungsgemäß an der Tür geklingelt hat; der Beweiswert der PZU wird somit nicht beschädigt.
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Abgesehen davon wurde nicht glaubhaft gemacht, weshalb der Antragsteller das in seinem Briefkasten befindliche Schriftstück nicht mit der Briefkastenleerung habe erhalten können. Ein etwaiger, hier nicht feststellbarer Zustellmangel wäre jedenfalls nachträglich geheilt worden (§ 189 ZPO). Selbst eine unwirksame Zustellung bleibt hierdurch folgenlos, wenn – wie hier – davon auszugehen ist, dass der Empfänger sie tatsächlich erhalten hat und die fehlerhafte Zustellung damit geheilt ist.
45
Wie schon bei der Ermahnung, spricht dafür unter Rückgriff auf die Rechtsfigur des Beweises des ersten Anscheins der Umstand, dass der Antragsteller die Kostenrechnung in Höhe von 21,35 €, die gemeinsam mit der Verwarnung im gleichen Umschlag übermittelt wurde, bezahlt hat. Sie wurde von ihm bereits am 18. September 2023 – also fünf Tage nach Datierung der Postzustellungsurkunde – unter dem Verwendungszweck des in der Verwarnung verwendeten Aktenzeichens, dessen Datums und den Worten „Verwarnung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG“ gebucht (vgl. Buchungsblatt für Zahlung auf förmliche AO, Bl. 93 BA). Aus der Buchung kann hergeleitet werden, dass der Antragsteller zwangsläufig auch Kenntnis von der Maßnahme erhalten hatte (vgl. zu den Grundsätzen des ersten Anscheins, BayVGH, B.v. 2.11.2022 – 11 CS 22.1984, 11 C 22.1992 – juris Rn. 25). Der Einwand, dass sich aus der Zahlung nicht ergebe, dass mit der gleichen Post auch die Maßnahme versandt worden sei, ist widerlegt. Aus dem Verwarnungsschreiben vom 12. September 2023 geht – wie im Übrigen auch aus dem Ermahnungsschreiben vom 24. November 2021 – explizit hervor, dass sie jeweils zusammen mit der Kostenrechnung (vgl. jeweils die dem Anschreiben vorstehende Zeile mit den Worten „Anlage: 1 Kostenrechnung“) an den Antragsteller versandt wurden. Zudem erscheint es fernliegend der allgemeinen Lebenserfahrung, eine Kostenrechnung zu begleichen, ohne die kostenauslösende Maßnahme zu kennen oder zumindest vorab zu monieren, die kostenauslösende Maßnahme sei nicht durchgeführt worden. Jedenfalls hat der Antragsteller nicht schlüssig vorgetragen, weshalb er die Rechnungen ohne Kenntnis des zugrundeliegenden Sachverhalts gezahlt haben sollte.
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(3) Unabhängig vom Vorstehenden wäre eine – hier nicht bestehende – Unwirksamkeit der Zustellung der Ermahnung oder Verwarnung durch die Akteneinsicht des Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers jedenfalls im Rahmen der Anhörung im Juli 2024 geheilt worden (zur Heilung durch Akteneinsicht: BayVGH, B.v. 2.11.2022 -11 CS 22.1984, 11 C 22.1992 – juris Rn. 32; B.v. 11.2.2020 – 13a ZB 20.30264 – juris Rn. 9 m. zahlreichen w.N.; B.v. 13.12.2017 – 11 CS 17.2098 – juris Rn. 16; OVG Berlin-Bbg, U.v. 6.7.2020 – OVG 3 B 2/20 – juris Rn. 21 ff.; OVG LSA, B.v. 19.6.2018 – 3 M 227/18 – juris Rn. 6 f.; OVG Bremen, B.v. 23.4.2018 – 1 PA 89/17 – juris Rn. 5; LSG Berlin-Bbg, U.v. 16.12.2010 – L 21 R 614/08 – juris Rn. 37; VGH BW, B.v. 7.12.1990 – 10 S 2466/90 – NVwZ 1991, 1195/1196). Die mit Schreiben vom 2. Juli 2024 vorgelegte Vollmacht umfasste auch die Entgegennahme von Zustellungen.
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Der Verweis des Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers auf § 4 Abs. 6 StVG (Stn. v. 4.4.2025) verkennt, dass in der von ihm in Bezug genommenen Entscheidung (BayVGH, U.v. 18.3.2024 – 11 BV 23.1193 – juris Rn. 28) klargestellt wird, dass die Frage der ordnungsgemäßen Durchführung der Stufenmaßnahmen gerade nicht auf den Zeitpunkt der Zustellung der Maßnahmen, sondern den ihres Ergreifens abstellt. Entbehrlich wird der Zugang damit keineswegs; er wird nur zeitlich vom Durchlaufen der Stufen entkoppelt. Spätestens mit der (erneuten) Zusendung der Ermahnung und der Verwarnung im Rahmen der Akteneinsicht am 9. Juli 2024 und damit vor der Entziehungsentscheidung hat der Antragsteller Zugang zu den Maßnahmen erhalten. Weder die Ermahnung noch die Verwarnung sind vorliegend Verwaltungsinterna geblieben.
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1.3. Eine inhaltliche Überprüfung, ob der Antragsteller die jeweilige Ordnungswidrigkeit oder Straftat tatsächlich begangen hat, findet im Rahmen des Fahreignungs-Bewertungssystems nicht statt. Die Fahrerlaubnisbehörde ist nach § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG an die rechtskräftige Entscheidung gebunden. Entsprechende Einwände wurden vorliegend auch nicht vorgetragen.
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1.4. Mit Erreichen von acht Punkten war die Fahrerlaubnis gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG zu entziehen, was mit Bescheid vom 12. September 2024 in rechtmäßiger Weise erfolgte. Der Fahrerlaubnisbehörde ist bei der Ergreifung von Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG kein Ermessen eingeräumt, so dass sie bei ihrer Entscheidung nicht berücksichtigen konnte, dass der Antragsteller beruflich und privat auf die Fahrerlaubnis angewiesen ist.
50
2. Der ergänzend beantragten Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs hinsichtlich der in Nr. 2 des Bescheids verfügten Verpflichtung zur Ablieferung des Führerscheins bedarf es vorliegend nicht, da der Bescheid die Abgabe des Führerscheins (Nr. 2) nicht für sofort vollziehbar erklärt und es insoweit an einem Rechtsschutzbedürfnis fehlen würde. Die Verpflichtung zur Ablieferung des Führerscheins ist nicht kraft Gesetzes sofort vollziehbar. Der kraft Gesetzes festgelegte Sofortvollzug des § 4 Abs. 9 StVG bezieht sich allein auf die Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Punktsystem. Ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO muss daher nur gestellt werden, wenn die Vorlageverpflichtung ausdrücklich für sofort vollziehbar erklärt wurde.
51
Nachdem der Beklagte erkennbar davon ausgeht, dass Sofortvollzug kraft Gesetzes besteht (vgl. Nr. 3 des Tenors und Nr. 4 der Begründung des Bescheids), wäre ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO analog denkbar (vgl. Koehl in Hentschel/König, 48. Auflage 2025, § 4 StVG Rn. 106). Auch wenn die in diesem Wege denkbare Zurückerlangung eines bereits abgelieferten Führerscheins von der Behörde durch den Antragsteller nicht explizit beantragt wurde, lässt sich ein Feststellungsantrag, dass der Widerspruch gegen Nr. 2 des Bescheids vom 12. September 2024 aufschiebende Wirkung hat, der Antragsbegründung konkludent entnehmen, dem stattzugeben war.
52
Soweit auch ein konkludenter Antrag auf Herausgabe des Führerscheins zu erblicken ist, sieht das Gericht im Rahmen des ihm nach § 80 Abs. 5 VwGO eingeräumten Ermessens jedenfalls davon ab, die Behörde (vorläufig) zur Rückgabe des Führerscheins zu verpflichten. Da die sofortige Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis der summarischen gerichtlichen Überprüfung standhält, besteht auch die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins aus Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids (§ 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, § 47 Abs. 1 FeV). Der Antragsteller kann deshalb kein schützenswertes Interesse an dem Rückerhalt seines Führerscheins haben. Im Übrigen wäre der Antragsgegner berechtigt, durch eine entsprechende Ergänzung des streitgegenständlichen Bescheids die sofortige Vollziehbarkeit der Vorlageverpflichtung anzuordnen (vgl. VG München, B.v. 6.2.2017 – M 26 S 16.5794 – juris Rn. 10).
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3. Hinsichtlich der in Nr. 4 des Bescheids verfügten und kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Zwangsgeldandrohung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. Art. 21a Satz 1 VwZVG) ist nach Auslegung des gestellten Antrags (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) mangels Rechtsschutzbedürfnisses davon auszugehen, dass diesbezüglich keine Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gewünscht ist. Denn der Antragsteller ist seiner Verpflichtung aus Nr. 2 des Bescheids zur Abgabe des Führerscheins nachgekommen. Es ist nicht ersichtlich, dass der Antragsgegner das angedrohte Zwangsgeld entgegen der Vorschrift des Art. 37 Abs. 4 Satz 1 VwZVG gleichwohl beitreiben will. Abgesehen davon beruht die Zwangsgeldandrohung im Fall der Zuwiderhandlung auf Art. 36 und Art. 31 VwZVG und ist nicht zu beanstanden.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO.
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5. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5, 46.1 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013, wobei die Klassen A und B maßgebend sind. Die Fahrerlaubnisklassen A1, A2 und AM sind von der Klasse A umfasst (§ 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV); die Fahrerlaubnisklasse L ist von der Klasse B umfasst (§ 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV). Der nach Nr. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs in Antragsverfahren zu halbierende Gesamtstreitwert von 10.000 EUR ergibt einen Streitwert von 5.000 EUR.