Titel:
Erfolgreicher Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gegen die angeordnete Überstellung nach Italien im Rahmen eines sogenannten Dublin-Verfahrens
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a
EMRK Art. 3
Dublin III-VO Art. 13 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, 7 S. 1
VwGO § 80 Abs. 5
Leitsatz:
Es bestehen erhebliche konkrete Zweifel an der Aufnahmebereitschaft Italiens und damit an der tatsächlichen Überstellungsmöglichkeit des Antragstellers dorthin. Diese ergeben sich aus dem Gesamtbild, welches sich in den nach den Schreiben der italienischen Behörden vom 5. und 7.12.2022 durchgeführten strikten Nichtaufnahmepraxis Italiens seit mittlerweile mehr als zwei Jahren beobachten lässt, erschüttern in Zusammenschau mit der in den Schreiben geäußerten Willenserklärung das grundsätzliche Vertrauen in die tatsächliche Aufnahmebereitschaft Italiens. Eine einzelfallbezogene Aufnahmeerklärung für den Antragsteller liegt nicht vor. Folglich steht die tatsächliche Möglichkeit der Durchführung der Abschiebung nicht hinreichend sicher fest. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
keine Anhaltspunkte für ein Ende der fehlenden Übernahmebereitschaft Italiens, keine systemischen Mängel, keine „refugee in orbit“-Situation, Abschiebung, Abschiebungsanordnung, Abschiebungsverbote, aufschiebende Wirkung der Klage, Italien, Dublin-Verfahren, Aufnahmebereitschaft, Flüchtlingsaufnahmebedingungen, Interessenabwägung, Rücknahmeverweigerung
Fundstelle:
BeckRS 2025, 14223
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30.01.2025 wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Gründe
1
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die angeordnete Überstellung nach Italien im Rahmen eines sogenannten „Dublin-Verfahrens“.
2
Der Antragsteller ist syrischer Staatsangehöriger mit arabischer Volks- und islamischer Religionszugehörigkeit. Syrien habe er bereits 2013 verlassen, damals sei er 11 Jahre alt gewesen. Nach Deutschland sei er am 04.10.2024 eingereist, zuvor habe er sich im Libanon aufgehalten und sei dann über Libyen, Italien und die Schweiz nach Deutschland gekommen. In Italien sei er 6 Tage in Flüchtlingscamps gewesen. Am 29.10.2024 stellte der Antragsteller in Deutschland einen förmlichen Asylantrag.
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Die EURODAC-Trefferabfrage ergab einen Treffer der „Kategorie 2“ (vgl. Bl. 5 d.A.), wonach der Antragsteller am 27.09.2024 in Lampedusa erkennungsdienstlich behandelt wurde.
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Ein vom Bundesamt auf Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO gestütztes Übernahmeersuchen vom 04.11.2024 an die italienischen Behörden blieb unbeantwortet.
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Bei den Befragungen am 29.10.2024 trug der Antragsteller gegenüber dem Bundesamt u.a. vor, sein Ziel sei von Anfang an gewesen, vom Libanon nach Deutschland zu reisen, Italien komme nicht in Frage. In Deutschland habe er Cousins und Cousinen.
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Mit Bescheid vom 30.01.2025 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung des Antragstellers nach Italien wurde angeordnet (Nr. 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 60 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
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Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig, da Italien aufgrund der dortigen illegalen Einreise gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Daher werde der Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland nicht materiell geprüft.
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Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG seien nicht gegeben. Insbesondere wiesen das italienische Asylverfahren und die dortigen Aufnahmebedingungen keine Schwachstellen auf, die mit einer erheblichen Wahrscheinlichkeit zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK führen würden (wurde ausführlich erläutert). Die vorgebrachten persönlichen Bindungen in Deutschland seien im vorliegenden Fall nicht berücksichtigungsfähig, da ihnen durch die Dublin III-VO unabhängig vom Aufenthaltsstatus kein Schutz beigemessen werde. Das vom Antragsteller vorgetragene Verwandtschaftsverhältnis sei nicht von Art. 2 g) Dublin III-VO umfasst. Soweit der der Antragsteller angegeben habe, in Deutschland bleiben zu wollen, sei festzustellen, dass die Dublin III-VO kein Recht auf die freie Wahl eines Mitgliedsstaats zur Prüfung des Asylantrags aufgrund persönlicher Präferenzen der Antragsteller einräume. Der Wunsch von Antragstellern, in einem bestimmten Land im Hinblick auf die Prüfung des eigenen Asylantrages bleiben zu wollen, bleibe im Rahmen der Anwendung des Dublin-Verfahrens außer Betracht und stelle keinen schutzwürdigen Belang dar.
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Die Anordnung der Abschiebung nach Italien beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG.
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Das Einreise- und Aufenthaltsverbot werde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und nach § 11 Abs. 2 AufenthG auf 60 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots werde in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und dürfe grundsätzlich fünf Jahre nicht überschreiten. Der Antragsteller verfüge im Bundesgebiet über keine wesentlichen persönlichen, wirtschaftlichen oder sonstigen Bindungen, die im Rahmen der Ermessensprüfung zu berücksichtigen wären. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 60 Monate sei im vorliegenden Fall angemessen. Auf die weitere Begründung des Bescheids wird verwiesen.
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Am 05.02.2025 erhob der Antragsteller Klage zu Protokoll der Urkundsbeamtin und beantragt zugleich,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
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Zur Begründung wurde auf das bisherige Vorbringen verwiesen.
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Das Bundesamt, dem der Eilantrag am 06.02.2025 zugestellt wurde, hat die Behördenakte vorgelegt, sich in der Sache jedoch nicht geäußert.
14
Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakte verwiesen.
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1. Der Eilantrag – auszulegen als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung – ist zulässig und begründet.
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Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung einer Anfechtungsklage anordnen, wenn die Klage – wie hier nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG – kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung hat. Nach der vorzunehmenden originären Interessenabwägung überwiegt das Suspensivinteresse des Antragstellers das öffentliche Interesse an der Vollziehung der Abschiebungsanordnung. Hierbei sind maßgeblich die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Nach der im Eilverfahren nur möglichen und gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung hat die Anfechtungsklage gegen die Abschiebungsanordnung unter Zugrundelegung der nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG maßgeblichen derzeitigen Sach- und Rechtslage mit hoher Wahrscheinlichkeit Erfolg, da diese rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dies ergibt sich aus den folgenden Erwägungen:
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a) Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
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Es steht fest, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann, wenn sie rechtlich zulässig und auch mit großer Wahrscheinlichkeit zeitnah tatsächlich möglich ist (vgl. BayVGH; U.v. 11.7.2024 – 24 B 24.50010 – juris Rn. 45 m.w.N.). Die tatsächliche Möglichkeit setzt u.a. die Aufnahmebereitschaft des zuständigen Mitgliedstaates – hier Italiens – voraus. Der Erlass einer Abschiebungsanordnung ist dann nicht zulässig, wenn Erkenntnisse vorliegen, die konkrete Zweifel an der Möglichkeit einer Überstellung begründen.
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b) Vorliegend bestehen solche erheblichen konkreten Zweifel an der Aufnahmebereitschaft Italiens und damit an der tatsächlichen Überstellungsmöglichkeit des Antragstellers dorthin. Diese ergeben sich aus dem Gesamtbild, welches sich in den nach den Schreiben der italienischen Behörden vom 5. und 7. Dezember 2022 durchgeführten strikten Nichtaufnahmepraxis Italiens seit mittlerweile mehr als zwei Jahren beobachten lässt. Die sehr niedrigen Rückführungszahlen (vgl. hierzu die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, BT-Drs. 20/5868, Antwort auf Fragen 2, 4 und 19) erschüttern in Zusammenschau mit der in den Schreiben geäußerten Willenserklärung das grundsätzliche Vertrauen in die tatsächliche Aufnahmebereitschaft Italiens. Eine einzelfallbezogene Aufnahmeerklärung für den Antragsteller liegt nicht vor. Folglich steht die tatsächliche Möglichkeit der Durchführung der Abschiebung nicht hinreichend sicher fest (vgl. BayVGH, U.v. 11.7.2024 – 24 B 24.50010 – juris Rn. 48 m.w.N.; VG Bayreuth, B.v. 11.2.2025 – B 7 S 25.50023).
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Insbesondere ist auch nicht ersichtlich, dass von Seiten Deutschlands geeignete Maßnahmen ergriffen worden wären, die nachvollziehbar die Erwartung zuließen, dass Italien seinen europarechtlichen Verpflichtungen alsbald wieder werde nachkommen und sich damit ein Ende der „Rücknahmeverweigerung“ konkret abzeichnen würde.
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Da sich aus diesen Gründen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des angegriffenen Bescheids bei summarischer Prüfung als rechtswidrig erweist, ist die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (ebenso z.B. VG Ansbach, B.v. 7.11.2024 – AN 14 S 24.50725 – juris Rn. 25 ff.; VG Würzburg, B.v. 2.10.2024 – W 4 S 24.50372 – juris Rn. 16 ff.; VG Berlin, B.v. 10.1.2025 – 4 L 894/24 A – juris Rn. 13 ff.).
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c) Das Gericht sieht dabei auch nicht die Gefahr der Entstehung einer Situation des „refugee in orbit“ infolge einer Stattgabe des Eilantrags gegen die Abschiebungsanordnung (a.A. VG München, B.v. 6.11.2024 – M 3 S 24.50926 – juris). Zunächst muss festgestellt werden, dass es sich bei der gegenständlichen Abschiebungsanordnung schlicht um einen belastenden, derzeit rechtswidrig erscheinenden Verwaltungsakt handelt, der – sollte die „Rücknahmeverweigerung“ Italiens im Zeitpunkt der Entscheidung über die Klage unverändert fortbestehen – im Klageverfahren voraussichtlich aufzuheben sein wird (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Weiterhin hat es auch allein der dispositionsbefugte Asylbewerber in der Hand, den Streitgegenstand des Prozesses festzulegen (vgl. § 88 VwGO), es steht ihm die Entscheidung frei, ob er – zusätzlich zu einer Klage gegen den Dublin-Bescheid – um Eilrechtsschutz gegen die Abschiebungsanordnung nachsucht. In der Folge muss er auch die Wirkungen eines von ihm selbst eingeleiteten gerichtlichen Eilverfahrens sowohl für als auch gegen sich gelten lassen. Die Dublin III-VO lässt von ihrer Ausgestaltung her die Entstehung eines gewissen „Schwebezustands“ durchaus zu (vgl. BayVGH, U.v. 11.7.2024 – 24 B 24.50010 – juris Rn. 25), der durch den Ablauf der – im Einzelfall an unterschiedlichen Zeitpunkten anknüpfenden – Überstellungsfrist beendet wird. So beginnt im Falle einer Stattgabe des Eilantrags die sechsmonatige Überstellungsfrist grundsätzlich (erst) nach den Vorgaben des § 80b VwGO zu laufen. Eine Bildung oder Verfestigung eines „refugee in orbit“-Szenarios geht damit nicht einher. Das Abwarten der entsprechenden Fristen ist dem sich im Dublin-Verfahren befindlichen Asylbewerber auch zumutbar. Falls aus subjektiver Sicht das Zuwarten bzw. die Dauer des „Schwebezustands“ als unzumutbar empfunden werde, so ist der konkrete Asylbewerber auf die ihm weiterhin offenstehende Möglichkeit der freiwilligen Ausreise in den Mitgliedstaat zu verweisen, um diesem „Schwebezustand“ zu entgehen. Schließlich weist das italienische Asylsystem nach summarischer Prüfung keine systemischen Schwachstellen auf, die zu einer hinreichend konkreten Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 4 GrCh führen würden (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 11.7.2024 – 24 B 24.50010 – juris Rn. 22 ff.).
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).