Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 06.05.2025 – 203 StObWs 95/25
Titel:

Strafvollstreckungskammer, Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, besonderes Feststellungsinteresse, Strafgefangener, Gerichtliche Überprüfung, Antrag auf gerichtliche Entscheidung, Allgemeiner Feststellungsantrag, Vertrauensschutz, Wiederholungsgefahr, Strafvollzugsverfahren, Folgenbeseitigungsanspruch, Rechtsschutzgarantie, Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz, Grundrechtseingriff, Kostenentscheidung, Sach- und Rechtslage, Nichtvertretbare, Festsetzung des Gegenstandswertes, Einstweilige Anordnung, Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung

Normenkette:
StVollzG § 115 Abs. 3
Leitsatz:
Beachtet die Justizvollzugsanstalt einen von ihr geschaffenen Vertrauensschutz, eine Zusicherung oder eine Zusage bezüglich einer Lockerung nicht oder nimmt sie eine bereits erteilte Genehmigung zurück oder widerruft sie, muss dem Strafgefangenen eine gerichtliche Überprüfung grundsätzlich möglich sein, andernfalls könnte die Vollzugsanstalt kurzfristig die Begünstigung nach Belieben modifizieren, ohne eine gerichtliche Überprüfung ihres Vorgehens besorgen zu müssen.
Schlagworte:
Rechtsbeschwerde, Feststellungsinteresse, Vertrauensschutz, Grundrechtseingriff, gerichtlicher Rechtsschutz, Nachholung von Lockerungen, Resozialisierungsgebot
Vorinstanz:
LG Regensburg vom -- – SR StVK 132/25
Fundstelle:
BeckRS 2025, 14207

Tenor

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen wird der Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg beim Amtsgericht Straubing vom 11. Februar 2025 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen wird als unbegründet zurückgewiesen.
3. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 200.- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragssteller wendet sich mit seiner Rechtsbeschwerde gegen eine Entscheidung der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg beim Amtsgericht Straubing vom 11. Februar 2025. Der angefochtenen Entscheidung liegt folgendes (Prozess-)Geschehen zugrunde:
2
Dem verfahrensgegenständlichen Antrag des mittlerweile aus der Strafhaft entlassenen, damals im Strafvollzug befindlichen Antragstellers vom 5. Februar 2025 vorausgegangen war nach den Feststellungen der Strafvollstreckungskammer sein Antrag vom 28. Januar 2025 zur Strafvollstreckungskammer, die Justizvollzugsanstalt S. im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, den von ihm am 6. Januar 2025 – für die Zeit von 8.00 Uhr bis 19.00 Uhr – beantragten, bislang nicht genehmigten Ausgang für den 4. Februar 2025 zu bewilligen und die von ihm beantragten finanziellen Mittel für den Ausgang zur Verfügung zu stellen. Mit Schreiben vom 29. Januar 2025 hatte die JVA in diesem Strafvollzugsverfahren mitgeteilt, dass dem Antragsteller nach derzeitiger Sach- und Rechtslage am 4. Februar 2025 Ausgang in der Zeit von 8.00 Uhr bis 15.30 Uhr genehmigt werden könne. Daraufhin hatte der Antragsteller mit Schreiben vom 30. Januar 2025 „aufgrund“ des Schreibens der JVA seinen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz als „vorläufig“ erledigt erklärt, woraufhin die Strafvollstreckungskammer ohne weitere Prüfung mit Beschluss vom 30. Januar 2025 den „Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 28.01.2025“ als „in der Hauptsache erledigt“ erklärt und von einer Kostenentscheidung abgesehen hatte.
3
Mit Schreiben vom 5. Februar 2025 hat der Antragsteller die verfahrensgegenständliche „Beschwerde“ gegen die JVA S. eingelegt und beanstandet, dass die JVA den Ausgang am Morgen des 4. Februar 2025 entgegen ihrer früheren Zusage und ohne Begründung zeitlich auf die Dauer von 8.00 Uhr bis 12.00 Uhr beschränkt und zudem die beantragten finanziellen Mittel verweigert hätte. Die JVA hat in ihrer Stellungnahme die Verkürzung des Ausgangs bestätigt und auf ein Versehen zurückgeführt. Der Antragsteller könne die fehlenden vier Stunden noch im Monat März nachholen. Die Erforderlichkeit der beantragten finanziellen Mittel hätte der Antragsteller nicht konkret dargelegt.
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Mit Beschluss vom 11. Februar 2025 hat die Strafvollstreckungskammer den Antrag auf gerichtliche Entscheidung vornehmlich mangels Feststellungsinteresse als unzulässig zurückgewiesen. Der Vortrag des Antragstellers sei ungenügend, eine Wiederholungsgefahr aufgrund der Einzelfallentscheidung auszuschließen, ein schwerwiegender Grundrechtseingriff liege mit Blick auf den geringen Eingriff, das Angebot der Nachholung und weitere gerichtsbekannte Umstände zur Antragstellung nicht vor. Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Rechtsbeschwerde. Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragt die Verwerfung des Rechtsmittels als unzulässig.
II.
5
Die Rechtsbeschwerde ist form- und fristgerecht gemäß Art. 208 BayStVollzG, § 116 Abs. 1, § 118 Abs. 1 bis 3 StVollzG zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zulässig.
III.
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Die zulässige Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen hat auch in der Sache einen vorläufigen Erfolg. Die Strafvollstreckungskammer hat den Antrag nicht mit der Begründung, der Antragsteller habe kein Feststellungsinteresse dargelegt, als unzulässig verwerfen dürfen. Sie hätte sich mit der Rechtmäßigkeit der beanstandeten Entscheidungen der Justizvollzugsanstalt und einer möglichen einverständlichen Nachholung des verkürzten Ausgangs befassen müssen.
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1. Zutreffend hat die Strafvollstreckungskammer das Vorbringen des Strafgefangenen in seinem Schreiben vom 5. Februar 2025 als einen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit ausgelegt. Hat sich eine angeordnete oder beantragte Maßnahme schon vor Anbringung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung erledigt, kann ein Betroffener mit dem allgemeinen Feststellungsantrag entsprechend § 115 Abs. 3 StVollzG die gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit des behördlichen Handelns oder Unterlassens begehren, wenn er ein berechtigtes Interesse an einer solchen Feststellung geltend macht. Ein solcher isolierter allgemeiner Feststellungsantrag ist trotz vorprozessualer Erledigung im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG zulässig, obwohl das Strafvollzugsgesetz einen solchen nicht ausdrücklich regelt (st. Rspr., vgl. Senat, Beschluss vom 1. Juli 2024 – 203 StObWs 258/24 –, juris Rn. 8 m.w.N.; BayObLG, Beschluss vom 11. November 2024 – 204 StObWs 362/24 –, juris Rn. 24 ff.).
8
2. Die Strafvollstreckungskammer durfte das besondere Feststellungsinteresse hier nicht mit der Begründung eines mangelnden Vortrags versagen.
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a. Ein besonderes Feststellungsinteresse bedeutet kein rechtliches, sondern ein schutzwürdiges Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art. Ein solches kommt nicht nur bei Wiederholungsgefahr, einem Rehabilitierungsinteresse aufgrund des diskriminierenden Charakters der Maßnahme oder bei beabsichtigter Geltendmachung von Amtshaftungs-, Schadensersatz- und Folgenbeseitigungsansprüchen in Betracht, sondern insbesondere auch dann, wenn ein gewichtiger Grundrechtseingriff von solcher Art geltend gemacht wird, dass gerichtlicher Rechtsschutz dagegen typischerweise nicht vor Erledigungseintritt erlangt werden kann. Effektiver Grundrechtsschutz gebietet es in diesen Fällen, dass der Betroffene Gelegenheit erhält, die Berechtigung des schwerwiegenden – wenn auch tatsächlich nicht mehr fortwirkenden – Grundrechtseingriffs gerichtlich klären zu lassen. Nur so kann verhindert werden, dass Rechte und insbesondere Grundrechte in bestimmten Konstellationen in rechtsstaatlich unerträglicher Weise systematisch ungeschützt bleiben (st. Rspr., vgl. BayObLG, Beschluss vom 11. November 2024 – 204 StObWs 362/24 –, juris Rn. 28 unter Verweis auf BVerfG, Kammerbeschluss vom 20. März 2013 – 2 BvR 67/11 –, juris Rn. 19).
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b. In dem Schreiben vom 29. Januar 2025 hatte die JVA dem Antragsteller wie auch dem Gericht gegenüber eine bestimmte Dauer des Ausgangs in Aussicht gestellt, woraufhin der Antragsteller im Vertrauen darauf von der Weiterverfolgung seines Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz abgesehen hatte. Ob die JVA im Anschluss daran dem Antragsteller gegenüber auch noch eine mündliche oder schriftliche Genehmigung erteilt hat, ist offen geblieben. Beachtet die JVA einen von ihr geschaffenen Vertrauensschutz, eine Zusicherung oder eine Zusage bezüglich einer Lockerung nicht oder nimmt sie eine bereits erteilte Genehmigung zurück oder widerruft sie, muss dem Strafgefangenen eine gerichtliche Überprüfung grundsätzlich möglich sein, andernfalls könnte die Vollzugsanstalt kurzfristig die Begünstigung nach Belieben modifizieren, ohne eine gerichtliche Überprüfung ihres Vorgehens besorgen zu müssen.
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c. Die Rechtmäßigkeit der Kürzung der Ausgangsdauer bestimmt sich nach Art. 38 BayVwVfG (zur Anwendbarkeit im Strafvollzug vgl. BayObLG, Beschluss vom 30. Juli 2020 – 204 StObWs 250/20 –, juris Rn. 20) und nach Art. 115a S. 2 BayStVollzG i.V.m. Art. 49 BayVwVfG sowie an dem allgemein gültigen Grundsatz des Vertrauensschutzes. Nachdem die JVA im Strafvollzugsverfahren ein Versehen eingeräumt hat, ist ohne weiteres von einer Rechtswidrigkeit der nachträglichen Verkürzung auszugehen.
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3. Bezüglich des besonderen Feststellungsinteresses wäre von der Strafvollstreckungskammer nunmehr zu klären, ob sich der Antragsteller auf das Angebot der Nachholung eingelassen hat. Den Fehler hatte die JVA dem Strafgefangenen gegenüber bereits eingeräumt, so dass unter dem Aspekt einer fortdauernden Diskriminierung der Bedarf an der gerichtlichen Feststellung fraglich sein könnte (vgl. allgemein Dörr NJW 1984, 2258, 2261; BayObLG, Beschluss vom 12. Februar 2025 – 204 StObWs 13/25 –, juris Rn. 21).
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4. Da der Antrag auf Bewilligung von Geldmitteln in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Antrag auf Lockerung stand, das Resozialisierungsgebot berührte und gleichartige Anträge zu erwarten waren, durfte das Feststellungsinteresse auch insoweit nicht versagt werden. Die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Versagung der Geldmittel hat sich an den Vorgaben der Nr. 8 der Verwaltungsvorschriften zu Art. 13 BayStVollzG zum Einsatz von Hausgeld, Taschengeld und Eigengeld und darüber hinaus an der Vorschrift von Art. 51 Abs. 3 BayStVollzG, inhaltsgleich zu § 51 Abs. 3 StVollzG (vgl. Arloth/Krä, StVollzG, 5. Aufl., § 51 Rn. 10; Baier/Laubenthal in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetz, 7. Aufl. 2020, 4. Kapitel Arbeit und Bildung Abschnitt V Rn. 87 ff.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. Juni 2005 – 1 Ws 55/05 –, juris) zu orientieren.
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5. Die Begründung des angefochtenen Beschlusses bietet darüber hinaus Anlass zu folgenden Hinweisen:
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a. Entscheidet die Strafvollstreckungskammer über einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nach § 114 Abs. 2 StVollzG, empfiehlt es sich, dies im Tenor der Entscheidung in Abgrenzung zu einer Entscheidung in der Hauptsache kenntlich zu machen.
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b. Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist in der Regel bereits dann unzulässig, wenn durch ihn die endgültige Regelung, etwa die Anordnung des Ausgangs, erstrebt und damit die Hauptsache vorweggenommen würde (Arloth/Krä a.a.O. § 114 Rn. 4 m.w.N.).
17
c. Wenn der Antragsteller im Strafvollzugsverfahren einen Antrag als – vorläufig – erledigt erklärt, hat die Strafvollstreckungskammer der Frage der Erledigung bezogen auf sämtliche Antragsgegenstände von Amts wegen nachzugehen (vgl. Senat, Beschluss vom 11. November 2024 – 203 StObWs 435/24 –, juris Rn. 6) und die Prozesserklärung, sofern die Formulierung dazu Anlass bietet, von einer möglichen Antragsrücknahme abzugrenzen. Stellt die JVA eine von mehreren vom Antragsteller begehrten Maßnahmen unter dem Vorbehalt des Fortbestands der derzeitigen Sach- und Rechtslage in Aussicht, ohne bereits einen Bescheid über die Anträge zu erlassen, stellt die Ankündigung nicht zwingend eine teilweise Abhilfe dar.
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d. Mit Blick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG dürfen an die Substanz des Vorbringens eines anwaltlich nicht vertretenen Strafgefangenen keine allzu hohen Anforderungen gestellt werden. Der Tatrichter ist zum einen verpflichtet, bei der Auslegung und Anwendung des Prozessrechts einen wirkungsvollen Rechtsschutz zu gewährleisten und auslegungsfähige Anträge sachdienlich auszulegen. Desweiteren gebietet es die gerichtliche Fürsorgepflicht, auf vorhandene Mängel einer Antragsschrift hinzuweisen und eine Nachbesserung anzuregen. Bei Antragstellern, die vollzugsrechtlich erfahren sind, kann die Hinweispflicht allerdings eingeschränkt sein (Senat, Beschluss vom 6. November 2024 – 203 StObWs 462/24 –, juris Rn. 6). Ersucht ein nicht anwaltlich beratener Antragsteller – wie hier der Strafgefangene im Schreiben vom 5. Februar 2025 – in Ergänzung zu seiner Bezugnahme auf dem Gericht in gesonderten Verfahren vorliegende Unterlagen um einen gerichtlichen Hinweis im Falle eines ungenügenden Sachvortrags, darf die Strafvollstreckungskammer die Zurückweisung des Antrags nicht ohne vorherigen gerichtlichen Hinweis auf die vom Tatrichter erkannten Defizite der Begründung stützen.
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6. Die Sache bedarf daher neuer Entscheidung. Soweit die Rechtsbeschwerde eine Entscheidung über den Feststellungsantrag in der Sache begehrt, ist sie mangels Spruchreife zurückzuweisen.
IV.
20
Die Festsetzung des Gegenstandswerts für das Rechtsbeschwerdeverfahren ergibt sich aus § 1 Abs. 1 Nr. 8, §§ 65, 60, 52 Abs. 1 GKG. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers bleibt bei einer Zurückverweisung an die Strafvollstreckungskammer dieser vorbehalten.