Titel:
Verbot der Mehrfachverteidigung – strafprozessuale und berufsrechtliche Beurteilung
Normenketten:
BRAO § 43, § 43a Abs. 4
StPO § 146
Leitsätze:
1. Ein offensichtlicher Verstoß gegen § 146 StPO muss im konkreten Einzelfall nicht zwingend einen Interessenkonflikt iSd § 43a Abs. 4 BRAO darstellen. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Allein die Geltendmachung von prozessualen Verfahrensrechten (Beantragung von Akteneinsicht, Einspruch gegen den Strafbefehl, Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, sofortige Beschwerde gegen die Versagung der beantragten Wiedereinsetzung) für zwei Beschuldigte in einem Strafverfahren stellt keine Wahrnehmung widerstreitender Interessen im Sinne des § 43a Abs. 4 BRAO dar, da es an einer Unvereinbarkeit, Widersprüchlichkeit oder Gegensätzlichkeit der Positionen der Beschuldigten insoweit fehlt. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
3. § 43 BRAO kann nicht als Auffangtatbestand zum Zweck der Ahndung von beruflichen Pflichtverletzungen subsidiär herangezogen werden, wenn der Gesetz- oder Satzungsgeber bewusst auf eine Statuierung einer Berufspflicht verzichtet hat oder berufsrechtliche Pflichten bereits spezialgesetzlich – und insoweit enger (hier: § 43a BRAO) – geregelt sind. (Rn. 17 – 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Anwaltsgerichtliches Verfahren, Mehrfachverteidigung, Tat- und Verfahrensidentität, Interessenkonflikt, strafprozessuale Beurteilung, berufsrechtliche Beurteilung, Wahrnehmung widerstreitender Interessen, Geltendmachung von prozessualen Verfahrensrechten, berufsrechtliche Pflichten, Generalklausel
Fundstelle:
BeckRS 2025, 14017
Tenor
1. Die sofortige Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft M. vom 14.12.2023 gegen den Beschluss des Anwaltsgerichts für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer München vom 05.12.2023, Az. 4 AnwG 36/23, 41 EV 201/23 wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen werden der Rechtsanwaltskammer München auferlegt.
Gründe
1
1. Gegen den Betroffenen hat die Generalstaatsanwaltschaft M. am 23.08.2023 eine Anschuldigungsschrift bei dem Anwaltsgericht für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer München erhoben.
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a) Dem Betroffenen wird zur Last gelegt, in dem strafrechtlichen Verfahren der Staatsanwaltschaft T. (Az.: 9 Cs 150 Js 30416/22) gegen die Zeugen … und … wegen in Mittäterschaft begangenen unerlaubtem Anbau von Betäubungsmitteln mit Schreiben vom 20.02.2023 unter Versicherung ordnungsgemäße Bevollmächtigung namens und im Auftrag der Zeugen … Einspruch gegen den Strafbefehl des Amtsgerichts Rosenheim vom 19.09.2022 und zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sowie Akteneinsicht beantragt zu haben sowie mit weiterem Schreiben vom selben Tage wiederum unter Versicherung ordnungsgemäßer Bevollmächtigung auch namens und im Auftrag des Zeugen … Einspruch gegen den Strafbefehl des Amtsgerichts Rosenheim vom 19.09.2022 eingelegt, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Akteneinsicht beantragt zu haben. Beide Schreiben gingen per beA mit der Absendersignatur des Betroffenen beim Amtsgericht Rosenheim ein. Zudem übersandte der Betroffene am 16.03.2023 in der Strafsache gegen den Zeugen … die Vollmacht des Zeugen.
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Mit Schreiben vom 27.03.2023 legte der Betroffene in der Strafsache gegen den Zeugen … in dessen Namen und Auftrag sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Rosenheim vom 16.03.2023 ein. Mit Schreiben vom selben Tag legte der Betroffene auch in der Strafsache gegen die Zeugin … in deren Namen und Auftrag sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Rosenheim vom 16.03.2023 ein. Beide Schreiben wurden wiederum per beA übermittelt und gingen am 27.03.2023 beim Amtsgericht Rosenheim ein.
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Mit Schreiben vom 20.04.2023 begründete der Betroffene sowohl in der Strafsache gegen die Zeugen … als auch gegen den Zeugen … die jeweils am 27.03.2023 eingelegte sofortige Beschwerde beider Zeugen.
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b) Dem Betroffenen wird daher seitens der Generalstaatsanwaltschaft M. vorgeworfen, die ihm obliegende Pflicht, seinen Beruf gewissenhaft auszuüben und sich der Achtung und des Vertrauens würdig zu erweisen, welche die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, schuldhaft verletzt zu haben, indem er in einem Verfahren gleichzeitig mehrere derselben Tat Beschuldigte verteidigte gemäß §§ 43 BRAO, 146 StPO.
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2. Das Anwaltsgericht für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer München hat mit Beschluss vom 05.12.2023 (Bl. 42/45) beschlossen, die Eröffnung des Hauptverfahrens aus rechtlichen Gründen abzulehnen.
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3. Mit ihrer sofortigen Beschwerde vom 14.12.2023 (Bl. 47/52) erstrebt die Generalstaatsanwaltschaft M. die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Anwaltsgericht für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer München.
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Das nach § 210 Abs. 2 Alt. 2 StPO statthafte und zulässig erhobene Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg. Zu Recht hat das Anwaltsgericht die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt, da entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft kein hinreichender Tatverdacht gegen den Betroffenen besteht.
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1. Der Senat teilt die Ansicht des Anwaltsgerichts, wonach das hier inmitten stehende Verhalten des Betroffenen nicht gegen § 43 BRAO verstößt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Ausführungen des Anwaltsgerichts im Beschluss vom 05.12.2023 Bezug genommen; der Senat macht sich diese Ausführungen zu eigen.
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2. Ergänzend ist auf Folgendes auszuführen:
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a) Auch der Senat ist der Ansicht, dass der Betroffene offensichtlich gegen § 146 StPO verstoßen hat. Dies stellt aber im konkreten Einzelfall keinen Interessenkonflikt im Sinne des § 43a Abs. IV BRAO dar.
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aa)Ein Interessenkonflikt im Sinne des § 43a BRAO lag hier (noch) nicht vor.
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Gemäß § 146 StPO ist im Falle der Tat- und Verfahrensidentität eine gleichzeitige Mehrfachverteidigung per se unzulässig; auf einen Interessenwiderstreit kommt es grundsätzlich nicht an, er wird vielmehr unwiderleglich vermutet (Henssler/Prütting/Henssler, 6. Aufl. 2024, BRAO § 43a Rn. 243). Damit soll bereits ein potenzieller Interessenkonflikt vermieden werden. Das strafprozessrechtliche Verbot gilt nur für den einzelnen Anwalt, so dass unterschiedliche sozietätsverbundene Anwälte in diesen Fällen verschiedene Mitangeklagte verteidigen dürfen (Henssler/Prütting/Henssler, 6. Aufl. 2024, BRAO § 43a Rn. 243).
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Von der strafprozessualen Beurteilung ist die berufsrechtliche Beurteilung zu trennen, der Anwendungsbereich der Vorschriften ist nicht deckungsgleich (BVerfG, Beschluss vom 20.06.2006, 1 BvR 594/06, NJW 2006, 2469).
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bb)Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist der Senat in der vorliegenden Konstellation der Ansicht, dass allein die Geltendmachung von prozessualen Verfahrensrechten (Beantragung von Akteneinsicht, Einspruch gegen den Strafbefehl, Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, sofortige Beschwerde gegen die Versagung der beantragten Wiedereinsetzung) keine Wahrnehmung widerstreitender Interessen im Sinne des § 43a Abs. 4 BRAO darstellt, da es an einer Unvereinbarkeit, Widersprüchlichkeit oder Gegensätzlichkeit der Positionen der Zeugen … und … insoweit fehlt. Einlassungen zur Sache wurden gerade nicht abgegeben, vielmehr ging es dem Betroffenen bis zu seiner Zurückweisung allein darum, beide Zeugen in die Position zu bringen, mit Einlassungen zur Sache gehört zu werden. Einen Interessengegensatz, möge er objektiv oder subjektiv definiert werden, erkennt der Senat in der konkreten Situation nicht.
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b) Auch ein Verstoß gegen § 43 BRAO liegt nicht vor.
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aa)Der Senat hat bereits in der Vergangenheit dargelegt (AGH Bayern, Beschluss vom 15.07.2024, BayAGH II-3-1/23, NJW-RR 2024, 1246), dass offen ist, ob § 43 BRAO eine Generalklausel zur Statuierung berufsrechtlicher Pflichten des Anwalts enthält, die Grundlage einer anwaltsgerichtlichen Maßnahme sein kann (Kleine-Cosack/Kleine-Cosack, 9. Aufl. 2022, BRAO, § 43 Rn. ff.) oder ob die Generalklausel zu unbestimmt ist, um daraus eigene Rechte und Pflichten herzuleiten (BeckOK BRAO/Praß, 23. Ed. 1.8.2022, vor BRAO § 43 Rn. 1). Jedenfalls teilt der Senat die Ansicht, dass bei der Anwendung des § 43 BRAO zurückhaltend vorzugehen ist, insbesondere kann die Vorschrift nicht als Auffangtatbestand zum Zweck der Ahndung von beruflichen Pflichtverletzungen subsidiär herangezogen werden, wenn der Gesetz- oder Satzungsgeber bewusst auf eine Statuierung einer Berufspflicht verzichtet hat (AGH Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.09.2012, 2 AGH 8/12, NJW-RR 2013, 624) oder berufsrechtliche Pflichten bereits spezialgesetzlich – und insoweit enger – geregelt sind.
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bb)Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze teilt der Senat die Ansicht des Anwaltsgerichts, wonach das Verbot der Wahrnehmung widerstreitender Interessen gemäß § 43 Abs. 4 BRAO, § 3 BORA insoweit abschließend geregelt ist. Würde ein Verstoß gegen § 146 StPO zudem über § 43 BRAO geahndet werden können, liefe § 43 a Abs. 4 BRAO insoweit leer. Jedenfalls in der vorliegenden Konstellation schließt sich der Senat der Auffassung an, nach der § 43 BRAO nur in Verbindung mit anderen Normen mit berufsrechtlichem Gehalt anwendbar ist. Als Transport- oder Transformationsnorm bzw. Überleitungsnorm muss diese auf gesetzlich geregelte Berufspflichten außerhalb von BRAO und BORA Bezug nehmen. Liegt zwar ein Verstoß gegen § 146 StPO, nicht aber gegen § 43 a Abs. 4 BRAO vor, kommt eine anwaltsgerichtliche Ahndung nicht in Betracht.
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Nach all dem erweist sich die angefochtene Entscheidung als zutreffend, sodass die des Hauptverfahrens zu Recht abgelehnt wurde.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 195 BRAO, 311a, 473 Abs. 1 StPO.