Titel:
Erfolglose Nachbarbeschwerde gegen Sofortvollzug einer Baugenehmigung zur Errichtung einer Produktionshalle mit Büroräumen
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5, § 80a Abs. 3, § 146 Abs. 4
BayVwVfG Art. 37
BauGB § 31 Abs. 2
BauNVO § 15 Abs. 1
Leitsätze:
1. Eine nachbarrechtsrelevante fehlende Bestimmtheit der Baugenehmigung liegt vor, wenn Gegenstand und Umfang der Baugenehmigung nicht eindeutig festgestellt und aus diesem Grund eine Verletzung von Nachbarrechten nicht eindeutig ausgeschlossen werden kann. (Rn. 6 – 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse de Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die ordnungsgemäße Niederschlagswasserbeseitigung ist eine Anforderung an eine gesicherte Erschließung und besteht grundsätzlich nur im öffentlichen Interesse es sei denn, durch die unzureichende Erschließung sind unmittelbar Nachbargrundstücke betroffen. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
4. Eine inzidente Überprüfung eines Bebauungsplans kann im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur eingeschränkt erfolgen, dh es müssen offensichtliche Fehler vorliegen und für Unwirksamkeitsgründe muss eine hohe Wahrscheinlichkeit sprechen. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarrechtsrelevante fehlende Bestimmtheit der Baugenehmigung (verneint), Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot (verneint), Beschwerdeverfahren, Eilrechtsschutz, Nachbar, Baurecht, Baugenehmigung, Bebauungsplan, Festsetzung, eingeschränktes Gewerbegebiet, Maß der baulichen Nutzung, überbaubare Grundstücksfläche, Geländeauffüllung, Stützmauer, Befreiung, Rücksichtnahmegebot, Verschattung, Abstandsflächen, Niederschlagswasser, Erschließung
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 19.03.2025 – M 9 SN 25.573
Fundstelle:
BeckRS 2025, 13956
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich im Weg des Eilrechtsschutzes gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung einer Produktionshalle mit Büroräumen auf den Grundstücken FlNr. …, … und …, Gemarkung P. … Er ist Eigentümer des nördlich an das Vorhabengrundstück angrenzenden, unbebauten Grundstücks, das landwirtschaftlich genutzt wird.
2
Die Grundstücke befinden sich im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der für die Grundstücke ein eingeschränktes Gewerbegebiet festsetzt. Neben Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksflächen enthält der Bebauungsplan Festsetzungen zur Zulässigkeit von Geländeauffüllungen und Stützmauern.
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Der Antragsteller hat gegen die Baugenehmigung Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat das Verwaltungsgericht abgelehnt. Die Klage werde voraussichtlich keinen Erfolg haben, da die Baugenehmigung den Antragsteller nicht in seinen Rechten verletze. Eine Nachbarrechtsverletzung ergebe sich nicht im Hinblick auf die der Beigeladenen erteilten Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans zum Maß der baulichen Nutzung, zu den überbaubaren Grundstücksflächen und zu Geländeveränderungen bzw. zur maximalen Böschungsneigung, da diese Festsetzungen bereits nicht dem Nachbarschutz dienten. Unabhängig hiervon sei zwischenzeitlich der Bebauungsplan geändert worden, so dass die Befreiungen nicht mehr erforderlich wären. Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot liege nicht vor; eine Verschattung sei hinzunehmen, zumal das Grundstück des Antragstellers selbst in einem Gewerbegebiet liege. Ein Verstoß gegen die Abstandsflächenvorschriften sei nicht ersichtlich. Auch im Hinblick auf die Ableitung von Niederschlagswasser liege kein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot vor. Die Abführung von Oberflächenwasser sei nicht Regelungsbestandteil einer Baugenehmigung. Gewisse Veränderungen der Wasserverhältnisse durch ein Vorhaben müsse ein Nachbar hinnehmen. Die Baugenehmigung sei auch hinreichend bestimmt, insbesondere ergebe sich aus ihrer Begründung, von welchen Festsetzungen des Bebauungsplans befreit worden sei.
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Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde, der der Antragsgegner entgegengetreten ist.
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Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Die innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigen keine Abänderung oder Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Nachbarklage des Antragstellers im Hauptsacheverfahren voraussichtlich erfolglos bleiben wird, sodass das Interesse an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegenüber dem Vollzugsinteresse der Beigeladenen nachrangig ist.
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1. Das Beschwerdevorbringen zeigt keine nachbarrechtsrelevante fehlende Bestimmtheit der Baugenehmigung auf.
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Nach Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG muss die im Bescheid getroffene Regelung für die Beteiligten – gegebenenfalls nach Auslegung – eindeutig zu erkennen und einer unterschiedlichen subjektiven Bewertung nicht zugänglich sein. Nachbarn müssen zweifelsfrei feststellen können, ob und in welchem Umfang sie betroffen sind. Eine Verletzung von Nachbarrechten liegt vor, wenn die Unbestimmtheit der Baugenehmigung ein nachbarrechtlich relevantes Merkmal betrifft. Eine Baugenehmigung ist daher aufzuheben, wenn Gegenstand und Umfang der Baugenehmigung nicht eindeutig festgestellt und aus diesem Grund eine Verletzung von Nachbarrechten nicht eindeutig ausgeschlossen werden kann. Der Inhalt der Baugenehmigung bestimmt sich nach der Bezeichnung und den Regelungen im Baugenehmigungsbescheid, der konkretisiert wird durch die in Bezug genommenen Bauvorlagen (vgl. BVerwG, B.v. 20.5.2014 – 4 B 21.14 – juris Rn. 9; BayVGH, B.v. 22.1.2024 – 1 CS 23.2030 – BayVBl 2024, 270; B.v. 26.04.2022 – 1 CS 22.551 – juris Rn. 6).
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Hieran gemessen begegnet die Baugenehmigung unter den in der Beschwerdebegründung angeführten Gesichtspunkten keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Frage, inwieweit eine fehlende Bestimmtheit nachbarrechtsrelevant ist, ist eine Frage des jeweiligen Einzelfalls. Zwar kann die hier gerügte fehlende Angabe des Aufschüttungsmaterials für eine Aufschüttung nachbarrechtlich relevant sein (vgl. für den Fall einer großflächigen Aufschüttung eines zum Nachbarn hin abfallenden Geländes BayVGH, B.v. 22.1.2024 a.a.O.). Nach den genehmigten Plänen ist das Gelände in Folge der Aufschüttung in Richtung des Grundstücks zum Antragsteller gegenüber dem Bestand erhöht, es entsteht aber auf dem Vorhabengrundstück eine weitgehend ebene Fläche. An der Grenze zum Grundstück des Antragstellers ist ein Grünstreifen sowie eine Stützmauer geplant. Die Stützmauer ragt nach den genehmigten Plänen über das geplante Gelände hinaus. Eine unkontrollierte Ableitung des Niederschlagswassers vom Vorhabengrundstück auf das Grundstück des Antragstellers ist daher nicht erkennbar; die fehlende Bezeichnung des Aufschüttungsmaterials in der Genehmigung ist daher nicht nachbarrechtsrelevant.
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2. Die erteilten Befreiungen verletzen den Antragsteller nicht in eigenen Rechten. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung der Nachbar in seinen Rechten verletzt ist, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist (vgl. BVerwG, B.v. 27.8.2013 – 4 B 39.13 – BauR 2013, 2011). Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO). Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung objektiv rechtswidrig ist, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – NVwZ-RR 1999, 8). Dass die Festsetzungen des Bebauungsplans, von denen der Antragsgegner Befreiungen erteilt hat, entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts nachbarschützend sind, ist nicht dargetan.
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3. Der mit der Beschwerde geltend gemachte Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme ist nicht ersichtlich. Das Beschwerdevorbringen erschöpft sich hierzu im Wesentlichen in einer Wiederholung des erstinstanzlichen Vorbringens und zeigt eine unzumutbare Beeinträchtigung in Folge einer unzureichenden Niederschlagswasserbeseitigung zu Lasten des Antragstellers nicht auf.
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Eine ordnungsgemäße Niederschlagswasserbeseitigung ist Teil der Erschließung. Die Anforderungen an eine gesicherte Erschließung bestehen aber grundsätzlich nur im öffentlichen Interesse und dienen nicht auch dem Nachbarschutz. Etwas anderes kann – unter dem Gesichtspunkt des Rücksichtnahmegebots – ausnahmsweise dann gelten, wenn durch die unzureichende Erschließung unmittelbar Nachbargrundstücke betroffen sind, etwa wenn das Niederschlagswasser auf das Grundstück des Nachbarn abgeleitet wird und es dadurch zu Überschwemmungen auf dem Nachbargrundstück kommt (vgl. BayVGH, B.v. 16.9.2024 – 1 CS 24.1074 – juris Rn. 11). Dafür bestehen nach den obenstehenden Ausführungen zur Bestimmtheit der Baugenehmigung keine Anhaltspunkte, insbesondere erlaubt die angegriffene Baugenehmigung keine solche Ableitung des Niederschlagswassers auf das Grundstück des Antragstellers. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass der Nachbar gewisse Veränderungen der Wasserverhältnisse durch ein in der Nähe geplantes Vorhaben hinnehmen muss.
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Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot besteht auch nicht im Hinblick auf die geltend gemachte unzumutbare Verschattung für das bislang landwirtschaftlich genutzte Grundstück des Antragstellers und die geltend gemachten Ertragseinbußen und Bewirtschaftungserschwernisse. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend darauf abgestellt, dass insoweit eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots regelmäßig ausscheidet, wenn die Abstandsflächen eingehalten sind. Einen Verstoß des Vorhabens gegen abstandsrechtliche Vorschriften legt die Beschwerdebegründung nicht dar, insbesondere wird nicht aufgezeigt, dass die im genehmigten Abstandsflächenplan dargestellten Abstandsflächen unzutreffend sind. Für die Berechnung der Abstandsflächen wurde nach dem genehmigten Abstandsflächenplan augenscheinlich auf die tiefere Höhenlage des früheren Geländes abgestellt. Der Vortrag, dass – nicht näher bezeichnete – abstandsflächenrelevante „Vorbauten“ hier zu Lasten des Antragstellers nicht berücksichtigt worden sein sollen, ist nicht substantiiert dargelegt.
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4. Auch der Vortrag, dass das Verwaltungsgericht nicht geprüft habe, ob der Bebauungsplan – 1. Änderung – in Kraft getreten und wirksam sei, verhilft der Beschwerde nicht zum Erfolg. In den vorgelegten Behördenakten ist der Änderungsbebauungsplan mit den entsprechenden Verfahrensvermerken enthalten. Mängel, die eine Unwirksamkeit des Bebauungsplans begründen könnten, zeigt der Antragsteller nicht auf. Im Übrigen kann eine inzidente Überprüfung eines Bebauungsplans im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur eingeschränkt erfolgen; es müssen offensichtliche Fehler vorliegen und für die geltend gemachten Unwirksamkeitsgründe muss eine hohe Wahrscheinlichkeit sprechen (vgl. BayVGH, B.v. 9.1.2024 – 1 CS 23.2032 – juris Rn. 12). Dies ist hier nicht dargetan.
14
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1‚ § 52 Abs. 1‚ § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).