Inhalt

VGH München, Beschluss v. 27.05.2025 – 10 ZB 25.793
Titel:

Einreise- und Aufenthaltsverbot, Abschiebungsandrohung ohne Zielstaatsbestimmung, Rückführungsrichtlinie, Opt-out betreffend den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie, Anwendbarkeit der Rückführungsrichtlinie bei Rücknahme und gleichzeitigem Neuerlass der Abschiebungsandrohung nach der Opt-out-Erklärung

Normenketten:
RL 2008/115/EG Art. 2 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Buchst. b), Art. 3 Nr. 3, Nr. 4 und Nr. 6, Art. 5
AufenthG § 11 Abs. 1 und 2, § 59 Abs. 3 S. 1
Schlagworte:
Einreise- und Aufenthaltsverbot, Abschiebungsandrohung ohne Zielstaatsbestimmung, Rückführungsrichtlinie, Opt-out betreffend den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie, Anwendbarkeit der Rückführungsrichtlinie bei Rücknahme und gleichzeitigem Neuerlass der Abschiebungsandrohung nach der Opt-out-Erklärung
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 30.01.2025 – M 24 K 23.4265, M 24 K 25.389
Fundstelle:
BeckRS 2025, 13923

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 2.500,-- Euro festgesetzt.

Gründe

1
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung wendet sich der Beklagte gegen die erstinstanzliche Aufhebung eines gegenüber dem Kläger verfügten Einreise- und Aufenthaltsverbots.
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Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Die Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeit der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegen nicht vor.
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1. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
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Solche ernstlichen Zweifel bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist vorliegend nicht der Fall.
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Das Verwaltungsgericht hat die Rechtswidrigkeit des in Nr. 2 des Bescheids vom 31. Juli 2023 verfügten Einreise- und Aufenthaltsverbots damit begründet, dass im Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG) die Verfügung eines Einreiseverbots nach Art. 3 Nr. 6 der Rückführungsrichtlinie mit einer zielstaatsbenennenden Rückkehrentscheidung einhergehen müsse (UA S. 21 f./Rn. 76 ff.) und der Kläger auch nach dem Gebrauchmachen von der Opt-out-Möglichkeit des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Rückführungsrichtlinie durch die Bundesrepublik Deutschland mit der Neufassung des § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG (vgl. Art. 1 Nr. 12 Buchst. b) Rückführungsverbesserungsgesetz vom 21.2.2024 [BGBl I Nr. 54]) zum 27. Februar 2024 weiterhin der Rückführungsrichtlinie unterliege (UA S. 23 f./ Rn. 79 ff.).
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Der Beklagte geht mit dem Verwaltungsgericht zu Recht davon aus, dass im Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie die Verfügung eines Einreiseverbots nach Art. 3 Nr. 6 Rückführungsrichtlinie mit einer zielstaatsbenennenden Rückkehrentscheidung gemäß Art. 3 Nr. 4, Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie einhergehen müsse (vgl. etwa OVG NW, U.v. 19.9.2024 – 18 A 1327/22 – juris Rn. 51 f. BayVGH, B.v. 5.7.2024 – 10 ZB 23.1712 – juris Rn. 12; NdsOVG, U.v. 6.3.2024 – 13 LC 116/23 – juris Rn. 99 ff.; jeweils m.w.N.). Weiter bezweifelt der Beklagte auch nicht, dass die Abschiebungsandrohung nach ihrem Neuerlass mit Bescheid vom 20. Dezember 2024 wegen eines im Falle des Klägers festgestellten Abschiebungsverbots hinsichtlich des allein als Zielstaat einer Abschiebung in Frage kommenden Iraks eine solche Zielstaatsbestimmung nicht enthält und deshalb im Falle der Anwendbarkeit der Rückführungsrichtlinie rechtswidrig wäre.
7
Der Beklagte meint jedoch, ernstliche Zweifel an der Entscheidung des Verwaltungsgerichts ergäben sich daraus, dass auf den Kläger die Rückführungsrichtlinie deswegen keine Anwendung finde, weil nach der Opt-out-Erklärung das Landesamt für Asyl und Rückführung mit Bescheid vom 20. Dezember 2024 die vor der Opt-out-Erklärung der Bundesrepublik Deutschland erlassene Abschiebungsandrohung vom 31. Juli 2023 aufgehoben und uno actu eine neue Abschiebungsandrohung ohne Zielstaatsbenennung erlassen habe.
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Dieser Vortrag begründet indes keine ernstlichen Richtigkeitszweifel. Eine solche Vorgehensweise der Ausländerbehörde führt nicht dazu, dass der Kläger sich nicht mehr auf den Schutz der Rückführungsrichtlinie berufen könnte. Nach Art. 2 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie findet die Richtlinie auf alle illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen Anwendung. Darüber hinaus ergibt sich aus Art. 3 Nr. 2 i.V.m. Art. 1 der Rückführungsrichtlinie, dass jeder Drittstaatsangehörige, der sich, ohne die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindet, schon allein deswegen dort illegal aufhältig ist und in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt (EuGH, U.v. 17.10.2024 – C-156/23 – juris Rn. 31 m.w.N; vgl. zum sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie auch Lutz in Thym/Hailbronner, EU Immigration/Lutz, Stand: 1.9.2021, Art. 2 RL 2008/115/EG Rn. 3). Der Europäische Gerichtshof hat zudem klargestellt, dass ein Mitgliedstaat, der erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist der Rückführungsrichtlinie von der Opt-out-Klausel gemäß Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie Gebrauch macht, sich nicht rückwirkend auf diese Ausnahmeregelung berufen kann, da sich die Situation für diejenigen Personen, die bereits zuvor in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie gefallen sind, nicht verschlechtern darf (EuGH, U.v. 19.9.2013, Filev und Osmani – C-297/12 – juris Rn. 53 ff.; BayVGH, B.v. 5.7.2024 – 10 ZB 23.1712 – juris Rn. 11; HessVGH, B.v. 18.3.2024 – 3 B 1784/23 – juris Rn. 16 ff.; OVG Lüneburg, U.v. 6.3.2024 – 13 LC 116/23 – juris Rn. 104 ff.).
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Etwas Anderes folgt auch nicht aus den beiden vom Beklagten angeführten Entscheidungen des Senats (B.v. 5.7.2024 – 10 ZB 23.1712 – juris Rn. 12 sowie U.v. 24.2.2025 – 10 B 22.1728 – juris Rn. 25). Diese Entscheidungen betrafen jeweils Abschiebungsandrohungen, die mit Ausweisungen einhergingen, die ihrerseits erstmals die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts der Betroffenen beendeten (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG), und damit Fallkonstellationen, in denen der Eintritt der Illegalität des Aufenthalts und die Rückkehrentscheidung zeitlich zusammenfielen. Das bedeutet indes nicht, dass es für die Anwendbarkeit der Rückführungsrichtlinie immer auf die Wirksamkeit der Abschiebungsandrohung ankäme. War der Betroffene – wie im vorliegenden Fall der Kläger – bereits vor der Opt-out-Erklärung aufgrund des Ablaufs seines Aufenthaltstitels illegal im Bundesgebiet aufhältig, findet die Rückführungsrichtlinie ungeachtet des Zeitpunkts der Rückkehrentscheidung auf ihn Anwendung. Insbesondere kann die Ausländerbehörde nicht – wie hier – den einmal entstandenen Schutz der Rückführungsrichtlinie dadurch umgehen, dass sie eine vor der deutschen Opt-out-Erklärung wirksam erlassene Abschiebungsandrohung mit Wirkung ex tunc zurücknimmt und gleichzeitig (oder später) wieder erlässt. Eine solche Auslegung der Wirkungen des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts würde der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs offensichtlich wiedersprechen, weil sie die effektive Wirksamkeit der drittschützenden Regelungen der Rückführungsrichtlinie erheblich beeinträchtigen würde. Kann der Schutz der Rückführungsrichtlinie schon nicht durch eine mitgliedstaatliche Opt-out-Erklärung allgemein rückwirkend beseitigt werden, gilt dies erst Recht für entsprechende Handlungen der Exekutive im Einzelfall.
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Auf die mit dem Zulassungsvorbringen thematisierte sachliche Reichweite der Opt-out-Erklärung kommt es nach alledem nicht entscheidungserheblich an.
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2. Auch der Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeit der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegt nicht vor.
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Solche Schwierigkeiten weist eine Rechtssache dann auf, wenn sie in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht voraussichtlich größere, d.h. überdurchschnittliche, das normale Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten verursacht (vgl. BayVGH, B.v. 1.2.2019 – 10 ZB 18.2455 – juris Rn. 15; B.v. 4.3.2019 – 10 ZB 18.2195 – juris Rn. 17 m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Die o.g. Auslegung und Anwendung der unionsrechtlichen Vorgaben ist so eindeutig, dass sie keine überdurchschnittlichen Anforderungen an das Verwaltungsgericht stellten.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 39 Abs. 1 sowie § 52 Abs. 2 GKG. Da mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung lediglich die verwaltungsgerichtliche Entscheidung über ein im Zusammenhang mit einer Ausweisung erlassenes Einreise- und Aufenthaltsverbot angegriffen wurde, war die Festsetzung des halben Auffangwerts angemessen.
15
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).