Titel:
Abgewiesene Klage im Streit um Kindergeld
Normenketten:
EStG § 62 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
FGO § 74, § 91 Abs. 2
Schlagworte:
Wohnortprinzip, rechtliches Gehör, Ermessensentscheidung, Wohnsitz
Fundstelle:
BeckRS 2025, 13334
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
1
Streitig ist die Ablehnung des Antrags auf Kindergeld für die Kinder A und B ab September 2022.
2
Der Kläger ist der Vater der Kinder A (geboren am ...2016) und B (geboren am ... 2018). Die Kinder leben in Ungarn im gemeinsamen Haushalt der Kindseltern, zusammen mit der Ehefrau des Klägers und Kindsmutter, C, die nichtselbständig erwerbstätig ist.
3
Der Kläger war lt. Arbeitgeberbescheinigungen der Firma D vom 30.09.2022 im Zeitraum 01.09.2022 bis 31.08.2024 als von Ungarn entsandter Arbeitnehmer in Deutschland nichtselbständig tätig. Auf ihn ist im Streitzeitraum ungarisches Recht anwendbar, vgl. Tz. 2.1 der A1-Bescheinigung vom 15.09.2022.
4
Die Kindsmutter bezog laufend in Ungarn Kindergeld für beide Kinder in Höhe von jeweils 13.300 HUF (entspricht 32 €) monatlich.
5
Der Kläger beantragte am 19.10.2022 in Deutschland Kindergeld für beide Kinder.
6
Die beklagte Familienkasse lehnte den Antrag mit Bescheid vom 28.03.2023 ab.
7
Im vorliegenden überstaatlichen Sachverhalt seien die Koordinierungsregelungen der Verordnungen (EG) (künftig „VO“) Nr. 883/2004 und 987/2009 zur Lösung der Anspruchskonkurrenzen zu beachten. Der Kläger und die Kindsmutter übten eine Erwerbstätigkeit in Ungarn aus; der konkurrierende Anspruch [in Deutschland] werde durch den Wohnsitz in Deutschland ausgelöst. Für Kinder mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat komme grundsätzlich keine Gewährung von Kindergeld in Betracht, sofern Familienleistungen im Wohnland des Kindes zustünden – was hier in Ungarn für die Kinder A und B der Fall sei – und der Anspruch in Deutschland lediglich durch den Wohnsitz ausgelöst werde. Dies gelte unabhängig davon, ob im anderen Mitgliedstaat eine Erwerbstätigkeit ausgeübt oder eine Rente bezogen werde.
8
Hiergegen legte der Kläger Einspruch ein, den die Familienkasse mit Entscheidung vom 18.07.2023 als unbegründet zurückwies.
9
Zur Begründung führte sie aus, dass für die Kinder zugleich im EU-Staat Ungarn ein Anspruch auf Kindergeld bestehe. Welcher Anspruch vorrangig sei, bestimme sich im Verhältnis zu den EU-/EWR-Staaten nach den Regelungen der VO Nr. 883/2004 und der hierzu ergangenen Durchführungs-VO Nr. 987/2009.
10
Seien für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer EU-Staaten zu gewähren, so sei vorrangig der Staat zuständig, in dem eine Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit ausgeübt werde. Hierauf folgten die durch den Bezug einer Rente und schließlich die durch den Wohnort ausgelösten Ansprüche (vgl. Art. 68 Abs. 1 Buchstabe a) der VO Nr. 883/2004).
11
Seien die Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer EU-Staaten zu gewähren und werde in diesen Staaten jeweils eine Beschäftigung bzw. eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt, aus den jeweiligen EU-Staaten eine Rente bezogen oder würden die Ansprüche in den EU-Staaten allein durch den Wohnsitz ausgelöst, so sei der Staat vorrangig zuständig, in dem sich der Wohnort der Kinder befinde. Voraussetzung sei, dass in dem Wohnstaat der Kinder eine solche Tätigkeit ausgeübt werde, aus diesem Staat eine Rente bezogen werde bzw. sich in diesem Staat der Wohnort eines der Berechtigten befinde (vgl. Art. 68 Abs. 1 Buchstabe b) der VO Nr. 883/2004).
12
Nach der Rechtsprechung des BFH finde Art. 68 der VO Nr. 883/2004 nur Anwendung, wenn im vorrangig für die Gewährung von Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaat ein Anspruch auf Kindergeld und damit eine echte Anspruchskonkurrenz (Anspruchskumulierung) bestehe. Dies sei vorliegend der Fall, da aufgrund der Entsendung des Klägers von einer ungarischen Firma nach Deutschland ungarische Rechtsvorschriften auf ihn anzuwenden seien. Ebenso seien auf die Kindsmutter aufgrund ihres Wohnsitzes in Ungarn ungarische Rechtsvorschriften anzuwenden. Ungarn sei folglich der vorrangig für die Gewährung von Familienleistungen zuständige Mitgliedstaat. In Ungarn bestehe auch ein Anspruch auf Kindergeld und damit eine echte Anspruchskonkurrenz.
13
Aufgrund von Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 komme für Kinder mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat keine Gewährung von Unterschiedsbeträgen in Betracht, wenn der Anspruch in Deutschland lediglich durch den Wohnort ausgelöst werde, unabhängig davon, ob im anderen Mitgliedstaat eine Erwerbstätigkeit ausgeübt oder eine Rente bezogen werde. Als durch den Wohnort ausgelöst würden Ansprüche auch dann gelten, wenn eine Beschäftigung im Rahmen einer Entsendung ausgeübt und im Inland weder eine den deutschen Rechtsvorschriften unterliegende Erwerbstätigkeit ausgeübt noch eine Rente bezogen werde, sondern nur gewohnt werde.
14
Bestehe neben dem durch den Wohnort ausgelösten Anspruch eines Entsandten auf deutsches Kindergeld für dasselbe Kind und denselben Zeitraum Anspruch auf Familienleistungen in einem anderen Mitgliedstaat, der zugleich der Wohnsitzstaat der Kinder sei, sei der Anspruch auf deutsches Differenzkindergeld ausgeschlossen.
15
Daher bestehe im Streitfall nur in Ungarn als Wohnsitzstaat der anderen anspruchsberechtigten Person und der Kinder Anspruch auf Familienleistungen.
16
Mit seiner Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter und trägt zur Begründung im Wesentlichen Folgendes vor:
17
Der Kläger habe den Arbeitgeber gewechselt. Er sei seit 21.01.2023 von dem ungarischen Arbeitgeber E nach Deutschland entsandt; eine A1-Bescheinigung sei ihm ausgehändigt worden. Betrachte man beide A1-Bescheinigungen – die sich zeitlich überschnitten –, so ergebe sich eine Entsendedauer von über 24 Monaten, weshalb Art. 12 Abs. 1 der VO 883/2004 vorliegend nicht anwendbar sein dürfte.
18
Nach Art. 12 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 gelte die Sonderregelung nur, wenn der Arbeitnehmer voraussichtlich weniger als 24 Monate entsendet werde.
19
Unabhängig davon seien die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 im Streitfall unzutreffend ausgelegt worden, auch wenn sich dies auf die jüngeren Entscheidungen des BFH in Entsendungsfällen stützen lasse.
20
Der EuGH habe sich u.a. mit dem Kindergeldanspruch entsandter Wanderarbeitnehmer aus der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl L 149 vom 05.07.1971, S. 2, im Folgenden: VO Nr. 1408/71) befasst (vgl. Urteil vom 12.06.2010 C-611/10 und C-612/10 – Hudzinski und Wawrzyniak, DStRE 2012, 999). Diese Normen seien nahezu wortgleich in Art. 12 der VO Nr. 883/2004 enthalten.
21
Demnach unterliege der entsandte Kläger gemäß Art. 12 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 weiterhin den Rechtsvorschriften seines Heimatlandes. Für den Fall, dass der entsandte Wanderarbeitnehmer den Kindergeldantrag in Deutschland gestellt habe, habe der EuGH entschieden, dass die frühere Antikumulierungsregelung keine Anwendung finde. Dies gelte ebenso für die heutige Vorschrift des Art. 68 der VO Nr. 883/2004.
22
Ein entsandter Arbeitnehmer könne gemäß Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 nur den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates unterliegen. Nach Art. 12 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 unterliege der von seinem Arbeitgeber entsendete Kläger den Rechtsvorschriften des Entsendestaats, also Ungarn. Sein Anspruch im Sinne des Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 werde daher einzig durch die Beschäftigung ausgelöst. Im Sinne des Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 könne der Kläger daher keinen konkurrierenden Anspruch auf Kindergeld in Deutschland haben, der im Sinne der genannten Verordnung zu koordinieren wäre.
23
In die Koordinierung der Ansprüche auf Familienleistungen in verschiedenen Mitgliedstaaten nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 seien nur die Ansprüche in Mitgliedstaaten, deren Rechtsvorschriften die Kindseltern nach Art. 11 bis 16 der VO Nr. 883/2004 unterliegen, einbezogen. Ansprüche auf Familienleistungen auf Grund von Wohnortvoraussetzungen in einem Mitgliedstaat, in dem die Berechtigten wohnten, ohne europarechtlich dessen Rechtsvorschriften zu unterliegen, könnten nach den nationalen Rechtsvorschriften bestehen, würden aber nicht in die Koordinierung nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 einbezogen (unter Verweis auf die Kommentierung bei Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Fach D, Werkstand März 2023 zu Art. 68 VO (EG) 883/2004, Rn. 5 ff.). Denn die Frage, ob ein nach nationalen Rechtsvorschriften bestehender Anspruch auf Grund von Wohnortvoraussetzungen daneben weiterbestehen könne, sei allein nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats zu beurteilen.
24
Der nationale Anspruch auf Kindergeld in Deutschland bestehe in der vorliegenden Konstellation trotzdem und werde auch nicht durch § 65 Einkommensteuergesetz (EStG) verdrängt. Dies sei gefestigte Rechtsprechung des EuGH (Hinweis auf Urteil vom 11.07.2018 C-356/15, ZESAR 2019, 225, insbes. Rn. 79 ff.).
25
Wenn die Beklagte zu einer anderen Rechtsaufassung gelange, folge sie lediglich dem BFH, der in seinen Entscheidungen III R 22/19 und III R 4/20 nicht auf die Vorgaben des EuGH eingehe, wonach die EuGH-Rechtsprechung zur Verordnung Nr. 1408/71 weiterhin analog anzuwenden sei.
26
Der BFH habe mit Urteil vom 26.07.2017 (III R 18/16, BStBl II 2017, 1237) ausgeführt, dass für die im Rahmen der Konkurrenzregelung des Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 zu prüfende Frage, was die Ansprüche auslöst, nicht auf die nationalen Regelungen nach §§ 62 ff. EStG, sondern auf die Vorschriften der Art. 11 bis 16 der VO Nr. 883/2004 abzustellen sei. Hiervon scheine er in seiner Entscheidung vom 20.04.2023 (III R 4/20, BFH/NV 2023, 953) abzuweichen und setze sich in Widerspruch zum EuGH. Der BFH begründe nicht, wie er zur Annahme komme, es könne in europarechtlicher Hinsicht, in Deutschland einen ausschließlich durch den Wohnort ausgelösten Anspruch im Sinne von Art. 68 der VO Nr. 883/2004 geben.
27
Im Streitfall seien der persönliche und sachliche Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 für den Kläger eröffnet. Nach obigen Ausführungen unterliege der Kläger aber nur den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats (Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004), aufgrund ebenfalls unstreitiger Entsendung also dem Entsendestaat Ungarn (vgl. Art. 12 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004). Der Kläger könne also nicht gleichzeitig einen Anspruch auf Kindergeld aus Beschäftigung (= Ungarn) und Wohnort (= Deutschland) im Sinne der Verordnung haben, die zu koordinieren wären.
28
Hilfsweise werde Antrag auf Zulassung der Revision gestellt. Der BFH habe sich bislang nicht zur Frage geäußert, ob er trotz der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-356/15 (vom 11.07.2018 C-356/15, ZESAR 2019, 225) an seiner Rechtsprechung festhalte oder dem EuGH die Frage vorlege, ob in Entsendungsfällen Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 anwendbar sei.
29
Alternativ komme eine Vorlage des Finanzgerichts an den EuGH in Betracht. In der Entscheidung vom 25.04.2024 (vgl. EuGH-Urteil vom 25.04.2024 C-36/23, DStR 2024, 1237 – Familienkasse S. ) habe der EuGH zwar die Vorlagefragen 2 und 3 nicht beantwortet, aber nochmals auf den 35. Erwägungsgrund der VO Nr. 883/2004 hingewiesen. Dort sei niedergelegt, dass die Prioritätsregeln der Vermeidung ungerechtfertigter Doppelleistungen dienten, für den Fall, dass es zum Zusammentreffen von Ansprüchen auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats mit Ansprüchen auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats komme. Ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 sei demnach, dass ein Auseinanderfallen von zuständigem Mitgliedstaat und Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen vorliege und allein aus diesem Grund die national bestehenden Ansprüche zu koordinieren seien. Der EuGH weise in Rn. 44 seines Urteils explizit darauf hin, dass er an seiner Rechtsprechung zu Art. 76 der VO Nr. 1408/71 festhalte.
30
Ein Auseinanderfallen von zuständigem Mitgliedstaat und Wohnmitgliedstaat liege im Streitfall eben nicht vor: Ungarn sei gemäß Art. 12 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 zuständiger Mitgliedstaat (vgl. auch Art. 1 q) und Art. 1 s) der VO Nr. 883/2004) und gleichzeitig auch der Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen – sofern man keine Entsendung mit Dauer von über zwei Jahren unterstelle.
ihm unter Aufhebung des Bescheids vom 28.03.2023 und der Einspruchsentscheidung hierzu vom 18.07.2023 Kindergeld für die Kinder A und B von September 2022 bis Juli 2023 zuzüglich Kinderbonus in Höhe von jeweils 100 Euro für das Jahr 2022, insgesamt 4.721,82 Euro zu bewilligen.
32
Dieser Betrag setzt sich zusammen aus dem deutschen Kindergeld (219 Euro monatlich im Jahr 2022 und 250 Euro monatlich im Jahr 2023), jeweils abzüglich ungarischem Kindergeld in Höhe von 13.300 HUF (umgerechnet 33,08 Euro – aktueller Wechselkurs) für die Streitmonate zuzüglich Kinderbonus.
33
Hilfsweise beantragt er,
34
Die Familienkasse beantragt,
35
Zur Begründung ergänzt sie die Einspruchsentscheidung dahingehend, dass nach der neueren Rechtsprechung des BFH Art. 68 der VO Nr. 883/2004 nur Anwendung finde, wenn im vorrangig für die Gewährung von Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaat ein Anspruch auf Kindergeld und damit eine echte Anspruchskonkurrenz (Anspruchskumulierung) bestehe. Aufgrund von Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 komme für Kinder mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat keine Gewährung von Unterschiedsbeträgen in Betracht, wenn der Anspruch in Deutschland lediglich durch den Wohnsitz ausgelöst werde. Dies sei insbesondere auch dann der Fall, wenn eine Beschäftigung im Rahmen einer Entsendung ausgeübt und im Inland weder eine den deutschen Rechtsvorschriften unterliegende Erwerbstätigkeit ausgeübt noch eine Rente bezogen werde.
36
Bestehe neben dem durch den Wohnort ausgelösten Anspruch eines Entsandten auf deutsches Kindergeld für dasselbe Kind und denselben Zeitraum Anspruch auf Familienleistungen in einem anderen Mitgliedstaat, der zugleich der Wohnsitzstaat der Kinder sei, so werde gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 der Anspruch auf sog. Differenzkindergeld ausgeschlossen.
37
Es sei vom Kläger eine A1-Bescheinigung (mit Datum 15.09.2022) vorgelegt worden, wonach er von 01.09.2022 bis 31.08.2024 von Ungarn nach Deutschland entsendet sei. Eine Entsendung auch bei einem weiteren Arbeitgeber sei unerheblich. In Ungarn bestehe ein Anspruch auf ungarische Familienleistungen; die Kindesmutter sei in Ungarn erwerbstätig (obwohl es hierauf nicht ankomme).
38
Ungarn sei grundsätzlich vorrangig (Art. 68 Abs. 1 a) der VO Nr. 883/2004), da kein Elternteil den deutschen Rechtsvorschriften unterliege. Wegen Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 seien keine Unterschiedsbeträge aus Deutschland zu zahlen, da Ansprüche mangels Erwerbstätigkeit in Deutschland hier nur als durch den Wohnsitz ausgelöst gelten.
39
Wegen der Einzelheiten wird auf die eingereichten Schriftsätze, den Akteninhalt sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 11.03.2025 verwiesen.
40
In der Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 11.03.2025 heißt es auszugsweise:
„Bei Aufruf der Sache sind erschienen:
Die Beklagte wurde mit Ladung vom 17.01.2025 und gegen elektronisches Empfangsbekenntnis vom 17.01.2025 ordnungsgemäß zum heutigen Termin geladen. In der Ladung vom 17.01.2025 ist darauf hingewiesen worden, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann. Die Beklagte hat die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung gem. § 128a ZPO beantragt. Mit Schreiben vom 21.01.2025 wurde ihr gestattet, an der mündlichen Verhandlung per Videokonferenz teilzunehmen.
Vor Sitzungsbeginn war es der Vertreterin der Beklagten aus technischen Gründen nicht möglich, an der Videokonferenz teilzunehmen, obwohl ein zuvor erfolgter Test erfolgreich war.
In einem Telefongespräch kurz vor Sitzungsbeginn mit der Vorsitzenden hat die geplante Sitzungsvertreterin der Familienkasse, Frau G, erklärt, sie könne an der mündlichen Verhandlung per Videokonferenz nicht teilnehmen.
Sie hat informatorisch weiter erklärt, sie könne wegen Verwaltungsanweisungen keine andere Entscheidung treffen als die bisherige. Sie verweist auf den Schriftsatz vom 18.08.2023, in dem die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.“
Entscheidungsgründe
41
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
42
Der Bescheid vom 28.03.2023 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 18.07.2023 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung – FGO).
43
Die Familienkasse hat zu Recht den Antrag auf Kindergeld für die Kinder A und B für den Zeitraum ab September 2022 abgelehnt.
44
1. Der Senat kann aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 11.03.2025 entscheiden. Eine Verlegung oder Vertagung des Termins gemäß § 155 FGO i.V.m. § 227 Zivilprozessordnung (ZPO) hatte nicht zu erfolgen.
45
Der beklagten Familienkasse war auf Antrag die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung am 11.03.2025 per Bild- und Tonübertragung gestattet worden (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 128a Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 ZPO). Vor Sitzungsbeginn war es der Vertreterin der Beklagten aus technischen Gründen nicht möglich, an der vom Finanzgericht zur Verfügung gestellten Videokonferenz teilzunehmen, obwohl ein am Vormittag des Sitzungstages erfolgter Test erfolgreich gewesen war. Im Telefongespräch, das die Vorsitzende mit der Vertreterin der Familienkasse kurz vor Sitzungsbeginn führte, teilte die Vertreterin der Familienkasse mit, dass sie nicht teilnehmen könne. Sie zeigte sich einverstanden mit einer Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung und erklärte, sie könne wegen Verwaltungsanweisungen keine andere Entscheidung treffen als die bisherige. Einen Antrag auf Terminsverlegung stellte sie weder ausdrücklich noch sinngemäß.
46
Die Beklagte war mit der Ladung darauf hingewiesen worden, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann (§ 91 Abs. 2 FGO).
47
Die Verantwortlichkeit des Gerichts betrifft nicht die technische Ausstattung der Beteiligten und die daraus sich ergebenden Möglichkeiten bzw. Hindernisse. Der Beteiligte, der eine Videoverhandlung beantragt, muss selbst dafür sorgen, dass er technisch in der Lage ist, an dieser teilzunehmen, der Verhandlung in Bild und Ton zu folgen und Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die im BFH-Beschluss vom 09.11.2023 IX B 56/23, BFH/NV 2024, 292, Rn. 5, genannten Grundsätze für die zureichende Qualität der technischen Ausstattung des Beteiligten während einer Videokonferenz gelten gleichermaßen für die technische Teilnahmemöglichkeit an der Videokonferenz an sich.
48
Auch ein Antrag auf Terminsverlegung war seitens der Vertreterin der Beklagten nicht gestellt worden.
49
Der Senat war auch nicht im Hinblick auf den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör gehalten, den Termin zu verlegen oder die mündliche Verhandlung zu vertagen.
50
Im Falle des Ausbleibens eines Beteiligten hat das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu befinden, ob es gleichwohl in der Sache entscheidet oder den Termin vertagt. Es ist im Rahmen seiner Ermessensentscheidung insbesondere dann zur Vertagung verpflichtet, wenn die Entscheidung nur aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte erfolgen könnte, zu denen den Beteiligten bisher kein rechtliches Gehör gewährt worden war (vgl. BFH-Beschlüsse vom 04.12.2017 X B 91/17, BFH/NV 2018, 342, und vom 19.05.2020 VIII B 114/19, BFH/NV 2020, 1084).
51
Der Beklagten war zu den entscheidungserheblichen Gesichtspunkten rechtliches Gehör gewährt worden; eine Verpflichtung zur Vertagung bestand nicht: Die entscheidungserheblichen tatsächlichen und rechtlichen Aspekte des Streitfalls waren bereits im Verwaltungs- und im Klageverfahren umfangreich erörtert worden. Die in der mündlichen Verhandlung übergebene A1-Bescheinigung vom 15.09.2022 war bereits im Februar 2023 im Verwaltungsverfahren vorgelegt worden, die A1-Bescheinigung vom 07.02.2023 im August 2023 im finanzgerichtlichen Verfahren.
52
Im Rahmen seiner Ermessensausübung hatte der Senat zu berücksichtigen, dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung aus technischen Gründen nicht teilnehmen konnte, der Klägervertreter jedoch erschienen war. Zudem war zu berücksichtigen, dass die Streitsache in tatsächlicher Hinsicht aufgeklärt war und die entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte sowie die vertretenen Rechtspositionen der Beteiligten in umfangreichen Schriftsätzen dargestellt worden waren. Rechtliches Gehör ist umfassend gewährt worden. Die Vertreterin der Beklagten hatte zudem erklärt, in ihrer Entscheidung an Verwaltungsanweisungen gebunden zu sein.
53
Die Durchführung der mündlichen Verhandlung und die Entscheidung in der Sache entspricht daher pflichtgemäßer Ermessensausübung.
54
2. Der Senat kann in der Sache entscheiden; das Verfahren ist nicht gemäß § 74 FGO i.V.m. Art. 267 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV zwecks Vorlage an den EuGH im Hinblick auf die vom Kläger gerügte gemeinschaftsrechtswidrige Rechtsprechung des BFH auszusetzen.
55
Eine Vorlageverpflichtung besteht nur für einzelstaatliche Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit innerstaatlichen Rechtsmitteln angefochten werden können.
56
Als Instanzgericht, gegen dessen Urteil mit Nichtzulassung der Revision das Rechtsmittel der Nichtzulassungsbeschwerde gegeben ist, ist das Finanzgericht gemäß Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV zur Vorlage an den EuGH berechtigt, aber nicht verpflichtet (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 02.12.2014 2 BvR 655/14, WM 2015, 122, Rn. 18).
57
Eine Vorlage an den EuGH ist zudem im Hinblick darauf, dass nach der Überzeugung des Senats der Auslegung der europäischen Rechtsvorschriften durch den BFH zu folgen ist, auch nicht geboten.
58
Im Urteil vom 25.04.2024 C-36/23 (DStR 2024, 1237 – Familienkasse S. ) hat der EuGH u.a. festgestellt, dass Art. 68 VO Nr. 883/2004 dahingehend auszulegen ist, dass er es dem Träger eines Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nachrangig sind, nicht gestattet, von der betroffenen Person in diesem Mitgliedstaat gezahlte Familienleistungen aufgrund dessen teilweise zurückzuverlangen, dass nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats ein Anspruch auf solche Leistungen besteht, sofern in diesem anderen Mitgliedstaat eine Familienleistung weder festgesetzt noch ausgezahlt wurde. Der hiesige Streitfall betrifft jedoch keine Rückforderung, sondern die Ablehnung eines Antrags auf Kindergeld. Zu den vorliegenden rechtlichen Fragestellungen, insbesondere im Zusammenhang mit Entsendungen, hat sich der EuGH nicht geäußert.
59
3. Der Kläger kann nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG Kindergeld beanspruchen.
60
Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 EStG setzt der Anspruch auf Kindergeld u.a. voraus, dass der Anspruchsteller im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird. Diese Voraussetzungen lagen bei dem im Streitzeitraum in Deutschland erwerbstätigen Kläger nach Aktenlage vor. Er hatte jedenfalls seinen gewöhnlichen Aufenthalt i. S. von § 9 AO im Streitzeitraum im Inland und erfüllte die Identifikationsvoraussetzungen des § 62 Abs. 1 Satz 2 EStG.
61
4. Der Anspruch des Klägers wird jedoch durch vorrangige Ansprüche für die Kinder A und B in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich Ungarn, ausgeschlossen.
62
Dies bestimmt sich nach den Prioritätsregeln des Art. 68 der VO Nr. 883/2004, die daran anknüpfen, ob der jeweilige Anspruch durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit, durch den Bezug einer Rente oder durch den Wohnort ausgelöst wird.
63
a) Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist eröffnet. Der Kläger fällt als Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der EU – Ungarn – nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung. Das Kindergeld nach dem EStG ist eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z) der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j) der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist (vgl. BFH-Urteil vom 26.07.2017 III R 18/16, BStBl II 2017, 1237).
64
b) Im Streitfall handelt es sich beim Kläger in den Streitmonaten um einen von Ungarn nach Deutschland entsandten Arbeitnehmer.
65
aa) Für die Zeit von 01.09.2022 bis zum 31.08.2024 lag für den Kläger eine A1-Bescheinigung seines Arbeitgebers D vor.
66
Mit der „Bescheinigung über die Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit, die auf den/die Inhaber/in anzuwenden sind A1“ wird für einen einzelnen Arbeitnehmer dokumentiert, welches Recht welchen Staats während seiner Tätigkeit auf ihn anwendbar ist. Der entsendende Mitgliedstaat bzw. Ansässigkeitsstaat erteilt gemäß Art. 15 Abs. 1 i. V. m. Art. 19 Abs. 2 der VO Nr. 987/2009 eine Bescheinigung über die weitere Anwendung seiner Rechtsvorschriften. Gelten die Rechtsvorschriften des Entsendestaates weiter, wird der Vordruck A1 verwendet.
67
Da die Bescheinigung A1 eine Vermutung dafür begründet, dass der Anschluss der entsandten Arbeitnehmer an das System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen, das die Arbeitnehmer entsendet, seine Betriebsstätte hat, ordnungsgemäß ist, bindet sie folglich grundsätzlich den zuständigen Träger des Mitgliedstaats, in den die Arbeitnehmer entsandt sind. Solange sie nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird, gilt die Bescheinigung A1 deshalb grundsätzlich in der Rechtsordnung des Mitgliedstaats, in den die Arbeitnehmer entsandt worden sind, und bindet daher seine Träger (vgl. EuGH-Urteil vom 11.07.2018 – C-356/15 –, Rn. 87 und Leitsatz 4, juris, m. w. N.).
68
Der Senat hat keinen Anlass, an der Richtigkeit der Angaben in der Bescheinigung zu zweifeln und geht ab Beginn des Streitzeitraums (September 2022) von einer Entsendung des Klägers durch seinen ungarischen Arbeitgeber nach Deutschland aus.
69
bb) Mit seinem Wechsel zu E, einem ebenfalls ungarischen Arbeitgeber, legte der Kläger eine A1-Bescheinigung vom 07.02.2023 für die Zeit von 16.01.2023 bis 15.01.2025 vor.
70
Der Senat geht unter Zugrundlegung der obigen Ausführungen zur A1-Bescheinigung davon aus, dass der Kläger im gesamten Streitzeitraum, somit bis einschließlich Juli 2023, von einem ungarischen Arbeitgeber nach Deutschland entsandt ist.
71
Auch wenn eine Entsendung i.S. des Art. 11 Abs. 3 Buchst. a, Art. 12 der VO Nr. 883/2004 insgesamt länger andauert als 24 Monate, bleibt es bei der Anwendbarkeit des Rechts des sog. Entsendestaates, wenn die Entsendung auf zwei „hintereinander geschalteten Entsendungen“ beruht, deren jeweilige voraussichtliche Dauer 24 Monate nicht überschreiten sollen (vgl. FG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.09.2023 12 K 1355/23, juris). Dies gilt nach Auffassung des Senats auch im Streitfall bei zwei hintereinander geschalteten, sich zeitlich teils überschneidenden Entsendungen, die jeweils für sich genommen „die voraussichtliche Dauer“ von 24 Monaten nicht überschritten haben bzw. nicht überschreiten werden.
72
cc) Als entsandter Arbeitnehmer unterlag der Kläger nach Art. 12 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 weiterhin den Rechtsvorschriften des Entsendestaats Ungarn.
73
c) Für die Frage, was die Ansprüche i. S. des Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 auslöst, ist darauf abzustellen, aufgrund welchen Tatbestands die berechtigte Person den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats nach Art. 11 bis 16 der VO Nr. 883/2004 unterstellt ist (vgl. BFH-Urteile vom 26.07.2017 III R 18/16, BStBl II 2017, 1237, Rn. 25; jeweils vom 01.07.2020 III R 22/19, BFH/NV 2021, 134, Rz. 18; III R 39/18, BFH/NV 2021, 451, Rn. 18 und III R 13/19, BFH/NV 2021, 453, Rn. 19). Insoweit unterscheidet das EU-Recht in Art. 68 der VO Nr. 883/2004 nur zwischen den vier Anknüpfungspunkten Beschäftigung, selbständige Erwerbstätigkeit, Rente und Wohnsitz (vgl. BFH-Urteile vom 22.02.2018 III R 10/17, BStBl II 2018, 717, Rz. 30; vom 25.07.2019 III R 34/18, BStBl II 2021, 20, Rn. 21).
74
Als in den Streitmonaten von Ungarn nach Deutschland entsandter Arbeitnehmer unterlag der Kläger nach Art. 12 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats Ungarn, weshalb bei europarechtlicher Betrachtung der Kindergeldanspruch des Klägers in Deutschland nicht durch die Beschäftigung ausgelöst worden ist. Auch ein Rentenbezug in Deutschland ist nicht ersichtlich. In unionsrechtlicher Hinsicht kommt eine Anspruchsauslösung der deutschen Rechtsvorschriften nur durch den Wohnort in Betracht (vgl. BFH-Urteil vom 25.07.2019 III R 34/18, BStBl II 2021, 20, Rz. 22), so dass – der Rangfolge des Art. 68 Abs. 1 Buchst. a) der VO Nr. 883/2004 entsprechend – der Anspruch als durch den Wohnort ausgelöst angesehen wird (vgl. auch BFH-Urteile vom 01.07.2020 III R 13/19, BFH/NV 2021, 453, Rn. 19, und vom 20.04.2023 III R 4/20, BFH/NV 2023, 953; Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 21.09.2023 12 K 1355/23, juris).
75
Der gewöhnliche Aufenthalt des Klägers i.S.v. § 9 AO ist dem Wohnsitz (§ 8 Abgabenordnung – AO) im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 nach der Begriffsdefinition des Art. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 gleichgestellt (vgl. zuletzt BFH-Urteil vom 20.04.2023 III R 4/20, BFH/NV 2023, 953 m. w. N.).
76
d) Weiter ist zu prüfen, ob dem Kläger selbst oder der Kindsmutter in Ungarn oder einem anderen Mitgliedstaat für dasselbe Kind und denselben Zeitraum Ansprüche auf Familienleistungen zustehen.
77
Es bestand nach Angabe des Klägers Anspruch auf Familienleistungen in Ungarn für die Kinder A und B in den Streitmonaten; die Kindsmutter bezog die Familienleistungen in Ungarn.
78
Nach Art. 67 der VO Nr. 883/2004 findet eine familienbezogene Betrachtung statt (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 31.08.2021 III R 10/20, BStBl II 2022, 186, Rn. 15). Das ungarische Kindergeld ist wie das deutsche Kindergeld Familienleistung im Sinn von Art. 1 z) der VO Nr. 883/2004.
79
e) Besteht ein solcher Anspruch in einem anderen Mitgliedstaat – wie im Streitfall in Ungarn –, ist der durch den Wohnort ausgelöste Kindergeldanspruch in Deutschland gemäß Art. 68 Abs. 1 Buchst. a) der VO Nr. 883/2004 nachrangig, wenn der Familienleistungsanspruch im anderen Mitgliedstaat durch eine Beschäftigung, eine Erwerbstätigkeit oder durch den Bezug einer Rente ausgelöst wird (vgl. BFH-Urteile jeweils vom 01.07.2020 III R 22/19, BFH/NV 2021, 143, Rn. 20; III R 39/18, BFH/NV 2021, 451, Rn. 20 und III R 13/19, BFH/NV 2021, 451, nz. 21). Das ist vorliegend der Fall, da der Kläger und die Kindsmutter im Streitzeitraum in Ungarn erwerbstätig waren. Während seiner Entsendung werden die Kindergeldansprüche des Klägers in Ungarn durch die Beschäftigung ausgelöst.
80
Im Falle der Nachrangigkeit des Kindergeldanspruchs in Deutschland wird dieser nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 der VO Nr. 883/2004 bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt. Der an sich nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der VO Nr. 883/2004 vorgesehene Differenzbetrag muss gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 allerdings nicht für Kinder gewährt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird (vgl. BFH-Urteile vom 22.02.2018 III R 10/17, BStBl II 2018, 717, Rn. 28 f.; jeweils vom 01.07.2020 III R 22/19, BFH/NV 2021, 134; III R 39/18, BFH/NV 2021, 451, Rn. 21 und III R 13/19, BFH/NV 2021, 453, Rn. 22; vom 18.02.2021 III R 71/18, BFH/NV 2021, 884, Rn. 31; Wendl in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 324. Lieferung 3/2024, Vorbemerkungen vor §§ 62-78 EStG, Rn. 27; Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Fach D, 119. Lieferung Mai 2024, Art. 68 VO Nr. 883/2004, Rn. 6, 35 ff.).
81
f) Nicht zuzustimmen ist der vom Klägervertreter vorgetragenen Auffassung, dass ein Anspruch auf Familienleistungen nur dann allein durch den Wohnort ausgelöst ist im Sinn von Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004, wenn die anspruchsberechtigte Person weder auf Grund einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats unterliegt noch eine Rente aus diesem Mitgliedstaat bezieht, aber nach Art. 11 Abs. 3 Buchst. e) der VO Nr. 883/2004 den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliegt (kritisch BeckOK EStG/Mutschler, 19. Ed. 15.3.2024, EStG § 65 Rn. 71.2; a. A. Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, 119. Lieferung Mai 2024, Artikel 68 VO Nr. 883/2004, Rn. 35).
82
Vielmehr sind, in Anwendung der BFH-Rechtsprechung, die Priorisierungs- und Kollisionsregeln aus der Verordnung heraus auszulegen und Auslösungsgründe der nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zusammentreffenden Ansprüche unter die Begriffe nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a) der VO Nr. 883/2004 zu subsumieren. In den Entsendungsfällen wird der deutsche Kindergeldanspruch mangels Beschäftigung bzw. selbständiger Tätigkeit oder Rentenbezug in Deutschland regelmäßig durch den Wohnort als einzig verbleibenden vierten möglichen Anknüpfungspunkt ausgelöst. Der Senat schließt sich insoweit der Rechtsprechung des BFH an (vgl. BFH-Urteile vom 26.07.2017 III R 18/16, BStBl II 2017, 1237; vom 25.07.2019 III R 34/18, BStBl II 2021, 20, und vom 20.04.2023 III R 4/20, BFH/NV 2023, 953).
83
g) Zusammenfassend gilt, dass der Kläger nach Art. 12 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 weiterhin den ungarischen Rechtsvorschriften unterliegt.
84
Der in Ungarn durch die Erwerbstätigkeit des Klägers und der Kindsmutter ausgelöste Anspruch auf Familienleistungen ist vorrangig, der in Deutschland durch den Wohnort des Klägers ausgelöste Kindergeldanspruch ist nachrangig gemäß Art. 68 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 2 Satz 1 der VO Nr. 883/2004.
85
Die Kinder A und B wohnen in Ungarn; für die Kinder muss Differenzkindergeld (Art. 68 Abs. 2 Satz 2 der VO Nr. 883/2004) nicht gewährt werden, da der Anspruch auf deutsches Kindergeld ausschließlich durch den Wohnort des Klägers in Deutschland ausgelöst wird (Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004).
86
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
87
Die Voraussetzungen der Zulassung der Revision liegen nicht vor. Die Entscheidung legt die Grundsätze der jüngeren BFH-Rechtsprechung in Entsendungsfällen zugrunde, in denen die Qualifikation der anspruchsauslösenden Gründe im Rahmen der Konkurrenzregel des Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 aus der Begrifflichkeit der Verordnungen selbst und ohne Rückgriff auf nationale Rechtsvorschriften erfolgt.
88
Insbesondere vermag der Senat angesichts der genannten BFH-Rechtsprechung nicht zum Vorhandensein von Auslegungszweifeln in Bezug auf das anzuwendende Unionsrecht und zu einer voraussichtlichen Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH nach Art. 267 AEUV durch den BFH (in einem Revisionsverfahren) kommen (vgl. BFH-Beschluss vom 03.12.2010 V B 29/10, BFH/NV 2011, 563).