Titel:
Rechtsmißbrauch, Rechtsmissbräuchliches Verhalten, Widerspruchsbescheid, Änderungsbescheid, Unerlaubter Aufenthalt, Zuständige Ausländerbehörde, Vollziehbar Ausreisepflichtige, Aufhebung eines Verwaltungsaktes, Begünstigender Verwaltungsakt, Reisepass, Nichtöffentliche Sitzung, Klageabweisung, Leistungsbescheid, Wesentliche Unterbrechung, Asylbewerberleistungsgesetz, Bewilligungsbescheid, Passbeschaffung, Ausreisefrist, Abschiebungsversuch, Abschiebungsverbot
Leitsatz:
Zur rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts i.S.d. § 2 Abs. 1 AsylbLG durch Nichtbeschaffung eines iranischen Reisepasses.
Schlagworte:
Rechtsmissbrauch, Aufenthaltsbeendigung, Passpflicht, Leistungsbewilligung, Rücknahme von Bescheiden, Verhältnismäßigkeit, Abschiebung
Fundstelle:
BeckRS 2025, 13033
Tenor
I. Die Klage gegen die Bescheide vom 09.12.2022, 27.12.2022, 30.01.2023, 27.02.2023, 27.03.2023, 27.04.2023, 07.06.2023 und 25.07.2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2023 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt von der Beklagten für den Zeitraum Januar 2021 bis Oktober 2023 Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) anstatt nach § 3 AsylbLG.
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Die 1953 geborene Klägerin ist iranische Staatsangehörige. Sie reiste zusammen mit ihrem Ehemann am 07.10.2014 erstmals nach Deutschland ein. Zuvor war sie auf dem Luftweg von Teheran nach Italien gelangt.
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Ein erster Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) am 16.03.2016 abgelehnt. Die Flüchtlingseigenschaft und der subsidiäre Schutzstatus wurden der Klägerin nicht zuerkannt. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen. Die Klägerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Im Falle der Klageerhebung ende die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens. Im Falle der Nichteinhaltung der Ausreisefrist werde die Klägerin in den Iran abgeschoben. Die hiergegen erhobene Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht A-Stadt (VG) blieb ohne Erfolg (Urteil vom 14.11.2017 – Az. AN 1 K 16.30356). Auch ein weiterer Asylantrag der Klägerin wurde vom BAMF mit Bescheid vom 25.02.2019 abgelehnt. Die anschließende Klage wurde durch das VG mit Urteil vom 11.01.2024 (Az. AN 1 K 19.30315) abgewiesen. Seit dem 20.01.2018 ist die Klägerin vollziehbar zur Ausreise verpflichtet, da die Rechtskraft des Urteils des VG vom 14.11.2017 am 21.12.2017 eingetreten ist.
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Gegen die Klägerin liegen ein rechtskräftiger Strafbefehl vom 12.12.2018 wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass seit 20.01.2018 gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1, § 48 Abs. 2 AufenthG sowie ein weiteres rechtskräftiges Strafurteil vom 16.01.20202 wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass vom 05.03.2019 bis 23.07.2019 gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1, § 48 Abs. 2 AufenthG vor.
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Am 08.05.2019 reiste der Ehemann der Klägerin freiwillig aus Deutschland aus. Die Klägerin beantragte am 23.07.2019 beim iranischen Generalkonsulat in M-Stadt einen Reisepass, der noch am gleichen Tag ausgestellt und versandt wurde.
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Die Klägerin steht bei der Beklagten seit längerem im Bezug von Leistungen nach dem AsylbLG. Diese bewilligte der Klägerin mit Bescheiden vom 28.12.2020, 02.02.2021, 02.03.2021, 22.03.2021, 30.04.2021, 08.06.2021, 01.07.2021, 05.08.2021, 31.08.2021, 07.10.2021, 02.11.2021, 26.11.2021, 27.12.2021, 01.02.2022, 25.02.2022, 29.03.2022, 06.05.2022, 29.06.2022, 02.08.2022, 29.08.2022, 23.09.2022 und 31.10.2022 für den Zeitraum Januar 2021 bis November 2022 Leistungen nach § 3 AsylbLG.
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Mit Bescheid vom 09.12.2022 bewilligte die Beklagte der Klägerin für Dezember 2022 und mit Bescheid vom 27.12.2022 für Januar 2023 wiederum Leistungen nach § 3 AsylbLG. Gegen die Bescheide legte die Klägerin, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigte, Widerspruch ein und machte einen Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG geltend. Zudem beantragte sie, die für den Zeitraum Januar 2021 bis November 2022 ergangenen Bewilligungsbescheide der Beklagten nach § 44 Zehntes Buch (SGB X) zu überprüfen und ihr für diesen Zeitraum ebenfalls Leistungen nach § 2 AsylbLG zu gewähren. Den Überprüfungsantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27.03.2023 ab. Hiergegen legte die Klägerin ebenfalls Widerspruch ein.
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Auch gegen die nachfolgenden Bescheide der Beklagten über die Bewilligung von Leistungen nach § 3 AsylbLG vom 30.01.2023 (für Februar 2023), vom 27.02.2023 (für März 2023), vom 27.03.2023 (für April 2023), vom 27.04.2023 (für Mai bis Juli 2023) und vom 25.07.2023 (für August bis Oktober 2023) legte die Klägerin Widerspruch ein. Zudem erging am 07.06.2023 ein Änderungsbescheid der Beklagten für den Zeitraum November bis Dezember 2022.
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Ihren Widerspruch begründete die Klägerin damit, dass sie sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalte und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst habe. Mangels Rückführungsabkommen seien zwangsweise Rückführungen in den Iran gegen den erklärten Willen des Abzuschiebenden nicht möglich. Das Verhalten des Ausländers bei der Passbeschaffung sei in diesem Zusammenhang somit ohne Relevanz und nicht kausal für die Verlängerung der Aufenthaltsdauer. Allein der Umstand, dass der Ausländer nicht freiwillig ausreise, stelle kein rechtsmissbräuchliches Verhalten dar. Somit stünden ihr Leistungen nach § 2 AsylbLG zu.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 22.08.2023 wies die Regierung von M. die Widersprüche der Klägerin zurück. Die angefochtenen bzw. zu überprüfenden Bescheide der Beklagten würden sich auf § 3 AsylbLG in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 stützen. Die Klägerin sei leistungsberechtigt nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG. Bei der Unterkunft der Klägerin in der R-Str. N-Stadt, handele es sich um eine Gemeinschaftsunterkunft i.S.d. § 53 Abs. 1 AsylG. Die Ausführungen der Bevollmächtigten der Klägerin könnten die ergangenen Entscheidungen nicht zu deren Gunsten beeinflussen. Zum Erhalt von Leistungen nach § 2 AsylbLG seien nur Personen berechtigt, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflussen. Zwar habe sich die Klägerin zum Zeitpunkt des Erlasses der betreffenden Bescheide seit über 18 Monaten im Bundesgebiet aufgehalten, jedoch habe sie ihren Aufenthalt auf rechtsmissbräuchliche Weise selbst beeinflusst. Dies gehe aus der Niederschrift der Ausländerbehörde vom 17.07.2018 hervor. Zudem habe die Klägerin am 05.07.2018 bei der Ausländerbehörde erklärt, nicht freiwillig in den Iran zurückkehren und deshalb bereits nicht bei der Botschaft vorsprechen zu wollen. Es sei nicht entscheidend, ob der Missbrauchstatbestand aktuell noch andauere. Maßgebend sei allein der Zusammenhang zwischen der gesamten Dauer des Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland und dem Fehlverhalten des Ausländers, gleichgültig, ob dieses Fehlverhalten einmalig oder auf Dauer angelegt sei bzw. gewesen wäre oder ob es sich wiederholt habe. Es könne nach dem Wortlaut des Gesetzes weder durch Zeitablauf noch durch späteres Wohlverhalten des Ausländers bewirkt werden, dass Analogleistungen zu gewähren seien. Da die Klägerin durch die Nichtmitwirkung auf die Dauer des Aufenthalts selbst rechtsmissbräuchlich Einfluss genommen habe, seien die Voraussetzungen für die von der Bevollmächtigten geforderte Gewährung von Leistungen nach § 2 AsylbLG nicht gegeben Da das rechtsmissbräuchliche Verhalten der Klägerin mehr als ein Jahr lang angedauert habe, sei der Verstoß gegen die Mitwirkungspflichten im Übrigen nicht als geringfügig einzustufen Die Gewährung der Leistungen für die Klägerin nach § 3 in Hohe der Regelbedarfsstufe 1 sei somit rechtmäßig gewesen.
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Hiergegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben. Zur Klagebegründung trägt sie vor, sie wolle nicht freiwillig in den Iran zurückkehren und bereue ihre Ausreise nicht. Ihre Söhne würden mit Familie in Deutschland leben. Sie selbst sei über 70 Jahre alt und schwer krank. Im Heimatland habe sie niemanden, der sich um sie kümmern würde. Außerdem sei sie dort nach der Konvertierung ihres Sohnes B. zum Christentum regelmäßig bedroht worden. Der Iran verlange vor Bearbeitung eines Passantrages die Unterzeichnung einer Reueerklärung. Die Unterzeichnung einer solchen Reueerklärung käme einer Lüge gleich, da sie nicht bereue, in Deutschland Asyl beantragt zu haben. Sie könne ihr daher nicht abverlangt werden. Im Übrigen sei eine Nichtmitwirkung der Klägerin bei der Passbeschaffung aber ohnehin irrelevant, da eine gegen ihren Willen durchzuführende Rückführung bzw. Abschiebung ohnehin nicht möglich gewesen wäre. Ein Rückführungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Iran bestünde nicht. Der Iran akzeptiere nur freiwillige Rückkehrer. Dass die Klägerin nicht freiwillig ausgereist sei, stelle kein missbräuchliches Verhalten dar. Außerdem sei es nicht rechtmäßig, einen dauerhaften Ausschluss von Analogieleistungen bei einem inzwischen 9-jährigen Aufenthalt auszusprechen, selbst wenn vormals Verfehlungen begangen worden sein sollten.
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Das Gericht hat im Verfahren Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin beigezogen sowie die Leistungsakte von der Beklagten, die Ausländerakte der Klägerin von den Ausländerbehörden sowie die Akten der Staatsanwaltschaft N-F Stadt zu den Strafverfahren 454 Js 65272/18 (1454) und 454 Js 59417/19 (1454).
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Des Weiteren hat das Gericht Auskünfte zur Durchführung von Rückführungen in den Iran im Zeitraum ab 2018 beim Bayerischen Landesamt für Asyl und Rückführungen sowie beim Bundespolizeipräsidiu. in Berlin eingeholt.
14
Am 19.11.2024 hat das Gericht den Rechtsstreit mit den Beteiligten in einer nichtöffentlichen Sitzung erörtert und die Klägerin unter Hinzuziehung eines Dolmetschers befragt.
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Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung der Bescheide vom 09.12.2022, 27.12.2022, 30.01.2023, 27.02.2023, 27.03.2023, 27.04.2023 und vom 25.07.2023 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 07.06.2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2023 zu verurteilen, ihr für den Zeitraum Dezember 2022 bis Oktober 2023 Leistungen nach § 2 AsylbLG zu bewilligen, sowie den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 27.03.2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2023 zu verurteilen, die Bescheide vom 28.12.2020, 02.02.2021, 02.03.2021, 22.03.2021, 30.04.2021, 08.06.2021, 01.07.2021, 05.08.2021, 31.08.2021, 07.10.2021, 02.11.2021, 26.11.2021, 27.12.2021, 01.02.2022, 25.02.2022, 29.03.2022, 06.05.2022, 29.06.2022, 02.08.2022, 29.08.2022, 23.09.2022 und 31.10.2022 zurückzunehmen und ihr für den Zeitraum Januar 2021 bis November 2022 Leistungen nach § 2 AsylbLG zu bewilligen.
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Die Beklagte beantragt,
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Die Beklagte vertritt die Auffassung, die Klägerin habe die Dauer ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland rechtsmissbräuchlich beeinflusst. Sie habe sich trotz wiederholter Aufforderung durch die Ausländerbehörde geweigert, einen Pass zu beschaffen und damit gegen ihre Passpflicht nach § 3 AufenthG verstoßen. Sie sei deshalb auch zweimal wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass zu Geldstrafen verurteilt worden. Entgegen den Ausführungen der Klägerin habe die Ausländerbehörde der Stadt A-Stadt bestätigt, dass Abschiebungen in den Iran in den Jahren 2018 bis 2020 möglich gewesen und auch durchgeführt worden seien. Im Übrigen habe die Klägerin ihren Reisepass auch innerhalb einer Woche nach Antragstellung problemlos vom iranischen Generalkonsulat in M-Stadt erhalten. Eine Freiwilligkeitserklärung habe die Klägerin nicht abgeben müssen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, der von der Ausländerbehörde beigezogenen Ausländerakte der Klägerin, der Akten der Staatsanwaltschaft N-F Stadt zu den Strafverfahren 454 Js 65272/18 (1454) und 454 Js 59417/19 (1454) sowie der Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
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Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist auch im Übrigen zulässig (vgl. §§ 87 ff. Sozialgerichtsgesetz – SGG).
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Gegenstand des Klageverfahrens sind zum einen die Bescheide der Beklagten vom 09.12.2022, 27.12.2022, 30.01.2023, 27.02.2023, 27.03.2023, 27.04.2023 und vom 25.07.2023 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 07.06.2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2023, mit denen die Beklagte über die Bewilligung von Leistungen nach dem AsylbLG an die Klägerin für den Zeitraum Dezember 2022 bis Oktober 2023 entschieden hat. Der Änderungsbescheid vom 07.06.2023 ist dabei nach § 86 SGG Gegenstand des Vorverfahrens geworden. Zum anderen sind verfahrensgegenständlich der Bescheid vom 27.03.2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2023, mit denen es die Beklagte abgelehnt hat, ihre Bescheide vom 28.12.2020, 02.02.2021, 02.03.2021, 22.03.2021, 30.04.2021, 08.06.2021, 01.07.2021, 05.08.2021, 31.08.2021, 07.10.2021, 02.11.2021, 26.11.2021, 27.12.2021, 01.02.2022, 25.02.2022, 29.03.2022, 06.05.2022, 29.06.2022, 02.08.2022, 29.08.2022, 23.09.2022 und 31.10.2022 zurückzunehmen und der Klägerin für den Zeitraum Januar 2021 bis November 2022 Leistungen nach § 2 AsylbLG zu bewilligen. Für den Monat Juni 2022 ist in der beigezogenen Leistungsakte der Beklagten zwar kein Bescheid enthalten. Allerdings ist für diesen Monat, was zwischen den Beteiligten unstrittig ist, ebenfalls eine Leistungsgewährung nach dem AsylbLG erfolgt. Dieser Leistungsmonat war vom Überprüfungsantrag der Klägerin umfasst und wurde von der Beklagten auch im Bescheid vom 27.03.2023 mitverbeschieden (vgl. Seite 2 des Bescheids).
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Streitgegenständlich ist zwischen den Beteiligten, ob die Klägerin für den Zeitraum Januar 2021 bis Oktober 2023 einen Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG hat.
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Die Klage ist unbegründet. Zurecht hat es die Beklagte abgelehnt, der Klägerin für den Zeitraum Dezember 2022 bis Oktober 2023 Leistungen nach § 2 AsylbLG zu bewilligen. Zurecht hat es die Beklagte auch mit den angefochtenen Bescheiden vom 27.03.2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2023 abgelehnt, die Bescheide für den Zeitraum Januar 2021 bis November 2022 zurückzunehmen und der Klägerin Leistungen nach § 2 AsylbLG zu bewilligen. Die Klägerin ist daher durch die angefochtenen Bescheide nicht in ihren Rechten verletzt.
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1. Der Klägerin steht für den Zeitraum Dezember 2022 bis Oktober 2023 kein Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG zu.
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Nach § 2 Abs. 1 S. 1 AsylbLG – in der im streitgegenständlichen Zeitraum gültigen Fassung – sind abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch und Teil 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.
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a. Hierzu stellt das Gericht fest, dass die Klägerin am 07.10.2014 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist und sich seit diesem Zeitpunkt ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten hat. Somit lag im Dezember 2022 – und auch bereits ab Januar 2021 – ein mindestens 18-monatiger Aufenthalt ohne wesentliche Unterbrechung der Klägerin im Bundesgebiet vor.
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b. Allerdings hat die Klägerin die Dauer des Aufenthalts rechtsmissbräuchlich beeinflusst. Sie hat sich vorsätzlich ohne Pass im Bundesgebiet aufgehalten und damit eine mögliche Beendigung ihres unerlaubten Aufenthalts verhindert.
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aa. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) beinhaltet der Begriff des Rechtsmissbrauchs als vorwerfbares Fehlverhalten eine objektive – den Missbrauchstatbestand – und eine subjektive Komponente – das Verschulden. In objektiver Hinsicht setzt der Rechtsmissbrauch ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Dabei muss der Pflichtverletzung vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommen. Rechtsmissbräuchlich ist ein Verhalten danach nur, wenn es unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar im Sinne von Sozialwidrigkeit ist (vgl BSG vom 24.06.2021 – B 7 AY 4/20 R, juris Rn. 15 f.; vom 17.6.2008 – B 8/9b AY 1/07 R, BSGE 101, 49). Eine Beeinflussung der Aufenthaltsdauer liegt dabei schon dann vor, wenn bei generell abstrakter Betrachtungsweise das rechtsmissbräuchliche Verhalten typischerweise die Aufenthaltsdauer verlängern kann (vgl. u.a. BSG vom 30.10.2013 – B 7 AY 7/12 R, juris Rn. 29; vom 02.02.2010 – B 8 AY 1/08 R, juris Rn. 12).
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Zur Überzeugung der Kammer steht aufgrund der Angaben der Klägerin im Termin vom 14.11.2024 fest, dass die Klägerin bei ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland am 07.10.2014 ihren Pass, mit dem sie zuvor auf dem Luftweg nach Italien eingereist war, freiwillig an ihren Schleuser übergeben hat. Dies geschah offenkundig, um die spätere Durchsetzung einer Ausreise aus Deutschland zu vereiteln. Der Klägerin wäre es zweifellos auch möglich gewesen, jederzeit ihren Reisepass zurückzuerlangen, da sie ihren Schleuser kannte und jederzeit Kontakt zu ihm aufnehmen konnte. So hat sie diesen letztlich auch im Jahr 2019 zurückerhalten und konnte damit einen neuen Reisepass beim iranischen Generalkonsulat in M-Stadt beantragen.
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Für die Beschaffung des Reisepasses war die Abgabe einer sogenannten Freiwilligkeitserklärung, also einer Erklärung der Klägerin, freiwillig in den Iran zurückkehren zu wollen, nicht erforderlich. Das Gericht hat keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin im vorliegenden Fall eine solche Freiwilligkeitserklärung, insbesondere bei ihrer Vorsprache im iranischen Generalkonsulat am 23.07.2019, hätte abgeben müssen. Die Klägerin hat dies in der nichtöffentlichen Sitzung vom 14.11.2024 auch nicht angegeben. Vielmehr wurde ihr nach Vorlage ihres alten Reisepasses ohne Weiteres ein neuer Reisepass ausgestellt. Diese Verfahrensweise steht im Übrigen im Einklang mit der Auskunft des Bayerischen Landesamtes für Asyl und Rückführungen vom 06.08.2020 (siehe dazu Blatt 55 der Gerichtsakte) und vom 17.07.2024 (Blatt 176 der Gerichtsakte) sowie der Auskunft des Bundespolizeipräsidium vom September 2024 (Blatt 196 der Gerichtsakte). Danach ist bei der Beantragung eines iranischen Reisepasses die Abgabe einer Freiwilligkeitserklärung nicht notwendig. Dies deckt sich auch mit der Auskunft des iranischen Generalkonsulats in M-Stadt vom 05.11.2018 im Rahmen des Strafverfahrens 454 Js 59417/19 (1454).
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Die Klägerin wurde über ihre Pflicht zum Besitz eines gültigen Nationalpasses und zur Beschaffung eines solchen Passes mehrfach durch die Ausländerbehörden belehrt (siehe dazu u.a. das Schreiben der Stadt A-Stadt vom 19.02.2018, die Belehrungen vom 05.06.2018, vom 05.07.2018, vom 06.08.2018). Die Unterdrückung des Reisepasses durch die Klägerin bzw. ihre Weigerung, in den Besitz eines gültigen Reisepasses zu gelangen, stellen ein erhebliches rechtsmissbräuchliches Verhalten im oben genannten Sinne dar, jedenfalls wenn es wie hier über mehrere Monate erfolgt (vgl. Cantzler, Asylbewerberleistungsgesetz, 1. Auflage 2019, § 2 Rn. 41 m.w.N.; Leopold in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 8. Auflage 2024, § 2 AsylbLG Rn. 21). Dies ergibt sich nicht zuletzt bereits daraus, dass dieses Verhalten nach § 95 Abs. 1 AufenthG als unerlaubte Einreise bzw. als unerlaubter Aufenthalt ohne Pass strafbewehrt ist. Die Klägerin ist deshalb zweifach rechtskräftig wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass verurteilt worden.
32
Das Verhalten der Klägerin war auch (abstrakt) geeignet, einen Vollzug ihrer Ausreisepflicht zu verhindern, damit die Dauer ihres Aufenthalts im Bundesgebiet zu verlängern und sich damit im Bezug von Leistungen nach dem AsylbLG zu halten. Die strafrechtliche Verurteilung der Klägerin setzte ein schuldhaftes Handeln voraus. Dass die Klägerin schuldhaft gehandelt hat, ergibt sich überdies zur Überzeugung des Gerichts auch aus ihren Angaben in der nichtöffentlichen Sitzung vom 14.11.2024. Danach hat sie ihren Reisepass nach der Ankunft in Italien ihrem Schleuser gegeben und dieser hat ihn ihr nach der Ankunft in Deutschland zunächst nicht zurückgegeben. Erst ein paar Jahre später habe er ihr den Reisepass übersandt. Sie habe den Schleuser persönlich gekannt, ihn angerufen und ausdrücklich um die Übersendung ihres Reisepasses gebeten. Somit steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sich die Klägerin bewusst jahrelang nicht darum bemüht hat, ihren Reisepass wiederzuerlangen, obwohl ihr das ohne Weiteres möglich gewesen wäre. Die Klägerin war auch seit dem 20.01.2018 vollziehbar zur Ausreise verpflichtet; eine Abschiebung war angedroht. Das Verhalten der Klägerin war somit geeignet, den Vollzug der Ausreisepflicht zu verhindern, da eine Abschiebung in den Iran ohne gültigen Reisepass nicht möglich ist.
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bb. Das Gericht kann sich im vorliegenden Fall hingegen nicht davon überzeugen, dass die Ausreisepflicht der Klägerin unabhängig von ihrem Verhalten ohnehin im gesamten Zeitraum ab dem Zeitpunkt des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens nicht vollzogen worden wäre. In diesem Fall wäre nach der Rechtsprechung des BSG trotz der grundsätzlich maßgeblichen general-abstrakten Betrachtungsweise eine Beeinflussung der Aufenthaltsdauer zu verneinen (vgl. u.a. BSG vom 02.02.2010 – B 8 AY 1/08 R, juris Rn. 12; 17.06.2008 – B 8/9b AY 1/07 R, juris Rn. 44).
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Die Klägerin war ab 20.01.2018 vollziehbar ausreisepflichtig. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten der Klägerin lag – unabhängig von der vorangegangenen Passunterdrückung zum Zeitpunkt der Einreise nach Deutschland – wie ausgeführt jedenfalls ab Februar 2018 vor. Ab diesem Zeitpunkt wurde die Klägerin wiederholt über die Notwendigkeit eines gültigen Reisepasses und das Erfordernis, sich einen solchen zu besorgen, belehrt. Das rechtsmissbräuchliche Verhalten der Klägerin endete am 23.07.2019 mit der Beantragung und dem Erhalt eines neuen Reisepasses beim iranischen Generalkonsulat in M-Stadt.
35
In diesem Zeitraum waren Abschiebungen in den Iran möglich und wurden auch durchgeführt. Dies ergibt sich aus der Auskunft der Stadt A-Stadt – Amt für Migration und Integration – Abteilung Aufenthaltsbeendigung/Asyl vom 25.07.2023 (Blatt 269 der Leistungsakte) und des Bundespolizeipräsidiums vom 16.09.2024 (Blatt 196 der Gerichtsakte). Dafür, dass die zuständigen Ausländerbehörden nicht den Willen gehabt hätten, die Ausreisepflicht der Klägerin zu vollziehen, hat das Gericht keine Anhaltspunkte. Gegen eine solche Annahme spricht im Übrigen auch, dass, nachdem ein gültiger Reisepass der Klägerin vorlag, in den Jahren 2020 und 2021 jeweils ein, wenn auch im Ergebnis erfolgloser, Abschiebeversuch unternommen wurde.
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Letztlich kann sich das Gericht auch nicht davon überzeugen, dass im Zeitraum 2018-2019 gesundheitliche Gründe einer Abschiebung der Klägerin entgegengestanden haben. Das Gericht stützt sich hierbei auf das amtsärztliche Gutachten des Dr. S. vom 28.04.2021 (Blatt 623 ff. der elektronischen Ausländerakte). Dr. S. ist in diesem Gutachten unter Berücksichtigung der vorliegenden Befunde und Befundberichte der behandelnden Ärzte sowie nach persönlicher Befragung der Klägerin unter Hinzuziehung eines Dolmetschers zu dem Ergebnis gekommen, dass bei der Klägerin ein Depressives Syndrom im Rahmen einer Anpassungsstörung (ICD-10: F43.2) vorliegt. Das Risiko einer Eigengefährdung war aber nicht wesentlich erhöht und hätte durch eine fachliche Begleitung weiter reduziert werden können. Für das Risiko einer Fremdgefährdung bestanden keine Anhaltspunkte. Flug- und Reisetauglichkeit waren gegeben.
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In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass nach ständiger Rechtsprechung des BSG bei der Beurteilung eines Fehlverhaltens des Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG stets die Tatbestandswirkung der ausländerrechtlichen Entscheidungen zu beachten ist (vgl. u.a. BSG v. 27.02.2019 – B 7 AY 1/17 R, juris Rn. 26). Die von der Klägerin geltend gemachten gesundheitlichen Beschwerden waren aber – ebenso wie ihre familiäre Situation – bereits Gegenstand der ablehnenden Entscheidungen des BAMF vom 16.03.2016 und vom 25.02.2019.
38
c. Das Gericht sieht die Rechtsfolge, wonach der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum nur Leistungen nach § 3 AsylbLG zugestanden haben, unter Berücksichtigung des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens der Klägerin auch nicht als unverhältnismäßig an. Letztendlich führte das rechtsmissbräuchliche Verhalten der Klägerin, das sich jedenfalls über einen Zeitraum von ca. 1 1/2 Jahre erstreckt hat, nur zu einer geringfügigen monatlichen Leistungsdifferenz von 18,64 € (Unterschied zwischen § 2 AsylbLG Regelbedarfstufe 1 und § 3 AsylbLG Regelbedarfstufe 1; siehe dazu den Schriftsatz der Beklagten vom 21.11.2024). Auch stand der geringere Leistungsanspruch der Klägerin im Zeitraum Dezember 2022 bis Oktober 2023 noch in einem engen zeitlichen Zusammenhang zu ihrem rechtsmissbräuchlichen Verhalten, das bis Juli 2019 angedauert hatte.
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2. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Rücknahme der für den Zeitraum Januar 2021 bis November 2022 ergangenen Leistungsbescheide und Bewilligung von Leistungen nach § 2 AsylbLG.
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Nach § 9 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 AsylbLG sind die §§ 44 bis 50 SGB X über die Rücknahme, den Widerruf und die Aufhebung eines Verwaltungsakts sowie über die Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen entsprechend anzuwenden. Dabei gilt nach § 9 Abs. 4 S. 2 AsylbLG § 44 SGB X jedoch nur mit der Maßgabe, dass rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte nach den Absätzen 1 und 2 nicht später als vier Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem der Verwaltungsakt bekanntgegeben wurde, zurückzunehmen sind, wobei ausreichend ist, wenn die Rücknahme innerhalb dieses Zeitraums beantragt wird, und dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren nach Absatz 4 Satz 1 ein Zeitraum von einem Jahr tritt.
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Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nach Satz 2 nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Gemäß § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB X ist im Übrigen ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
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Die Voraussetzungen für eine Rücknahme nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) liegen nicht vor. Die Beklagte ist bei Erlass der Bescheide vom 28.12.2020, 02.02.2021, 02.03.2021, 22.03.2021, 30.04.2021, 08.06.2021, 01.07.2021, 05.08.2021, 31.08.2021, 07.10.2021, 02.11.2021, 26.11.2021, 27.12.2021, 01.02.2022, 25.02.2022, 29.03.2022, 06.05.2022, 29.06.2022, 02.08.2022, 29.08.2022, 23.09.2022 und 31.10.2022 weder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen noch hat sie das Recht unrichtig angewandt. Der Klägerin standen im Zeitraum Januar 2021 bis November 2022 keine Leistungen nach dem § 2 AsylbLG zu.
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Das Gericht nimmt insoweit vollumfänglich Bezug auf die Ausführungen unter II. 1.
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Nach alledem war die Klage abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und trägt dem Umstand Rechnung, dass die Klage keinen Erfolg hatte.