Titel:
Zustellungsurkunde als Beweis, isolierte Anfechtungsklage, unterbliebene Anhörung
Normenketten:
VwZG § 8
AsylG § 10
AsylG § 25
AsylG § 33
ZPO § 418
Schlagworte:
Zustellungsurkunde als Beweis, isolierte Anfechtungsklage, unterbliebene Anhörung
Fundstelle:
BeckRS 2025, 1297
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14.11.2022 (Gesch.-Z. 7701646-475) wird aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich u. a. gegen einen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt), mit dem sein Asylantrag vollumfänglich abgelehnt wurde.
2
Der Kläger gibt an, syrischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens zu sein. Er reiste nach seinen Angaben am 01.01.2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 18.01.2019 einen förmlichen Asylantrag.
3
Mit Bescheid vom 22.07.2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers u. a. als unzulässig ab, stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen und drohte die Abschiebung nach Griechenland an. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 06.08.2019 Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg (RO 11 K 19.31625). Mit Urteil vom 19.10.2021 wurde der Bescheid aufgehoben. Am 01.06.2022 erhob die damalige Bevollmächtigte des Klägers Untätigkeitsklage (RO 11 K 22.30887). Das Klageverfahren wurde durch Beschluss vom 19.07.2022 eingestellt.
4
Das Bundesamt erstellte ein auf den 20.06.2022 datiertes und an die damalige Rechtsanwältin des Klägers adressiertes Schreiben, mit dem zur persönlichen Anhörung am 05.07.2022 geladen wurde. Laut Vermerk des Bundesamts vom 20.06.2022 wurde diese Ladung am 20.06.2022 per Einschreiben an die anwaltliche Vertretung des Klägers versendet. Zur Anhörung erschienen der Kläger bzw. seine damalige Anwältin ausweislich eines Vermerks des Bundesamts vom 05.07.2022 nicht.
5
Mit Schreiben vom 13.07.2022, beim Bundesamt eingegangen am 15.07.2022, teilte der Kläger mit, dass sein bisheriger Rechtsbeistand, …, seine Vertretung ab sofort nicht mehr übernehme. Er bat darum, die schriftliche Korrespondenz ab sofort nur noch mit dem Kläger selbst zu führen.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 14.11.2022 erkannte das Bundesamt die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Auf den Inhalt des Bescheids wird Bezug genommen. Der Bescheid wurde per Postzustellungsurkunde an die Adresse …, …, versandt. Die Postzustellungsurkunde kam mit dem angekreuzten Vermerk „Adressat unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln“ an das Bundesamt zurück. Als Datum des Zustellungsversuchs ist der 22.11.2022 auf der Postzustellungsurkunde eingetragen.
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Mit Schreiben vom 10.07.2023 zeigte der neue Bevollmächtigte dem Bundesamt die Mandatierung des Klägers an. Am 13.07.2023 wurde dem Bevollmächtigten des Klägers Einsicht in die Bundesamtsakte gewährt.
8
Mit Schriftsatz vom 19.07.2023 ließ der Kläger Klage erheben. Die Klage sei zulässig und begründet. Der Kläger habe im maßgeblichen Zeitpunkt, in welchem ihm der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts zugestellt hätte werden sollen, in der Gemeinschaftsunterkunft …, …, … gewohnt und dort ununterbrochen einen Briefkasten besessen, welcher dem Kläger eindeutig zugeordnet werden könnte. Dies ergebe sich aus einer Bestätigung der Unterkunftsverwaltung vom 01.08.2023. Es könne nicht nachvollzogen werden, weshalb der streitgegenständliche Bescheid, welcher auch an die richtige Adresse des Klägers adressiert gewesen sei, nicht zugestellt habe werden können. Die Zustellfiktion gemäß § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG sei nicht eingetreten. Ausweislich der Akte sei der Bescheid dem Kläger auch im weiteren Verlauf nicht zugestellt worden. Auf Nachfrage des Gerichts habe der Kläger den streitgegenständlichen Bescheid vom 14.11.2022 erst von seinem neuen Bevollmächtigten erhalten. In der Behördenakte habe sich der streitgegenständliche Bescheid befunden, gegen welchen sodann Klage erhoben wurde.
9
Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts sei ferner rechtswidrig und verletze den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger habe vorliegend einen Anspruch auf Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids aufgrund eines Verfahrensmangels. Weder dem Kläger, noch seiner vormaligen Rechtsanwältin seien das Ladungsschreiben des Bundesamts zugegangen. Ein Zustellungsnachweis befinde sich in der Bundesamtsakte nicht. Darüber hinaus habe das Ladungsschreiben nicht an die Rechtsanwältin zugestellt werden dürfen, da sie sich nur gegenüber dem Verwaltungsgericht im Verfahren hinsichtlich der Untätigkeitsklage als Bevollmächtigte angezeigt habe. Eine Vertretungsanzeige gegenüber dem Bundesamt sei dagegen nicht erfolgt. Unabhängig davon sei das Bundesamt nicht berechtigt gewesen, eine negative Sachentscheidung zu treffen. Zur alten Rechtslage habe das BVerwG ausgeführt, dass in dem Fall, dass ein Ausländer unentschuldigt nicht zur Anhörung erscheine, das Bundesamt kein Wahlrecht zwischen der Einstellung des Verfahrens und der Entscheidung nach Aktenlage habe. Die zwingende Folge der fingierten Antragsrücknahme bei Nichtbetreiben des Verfahrens begründe bei Vorliegen der Voraussetzungen eine Pflicht zur Einstellung des Verfahrens. Habe das Bundesamt eine Sachentscheidung getroffen, obwohl es das Asylverfahren hätte einstellen müssen, bestehe ein Rechtsschutzbedürfnis für eine isolierte Anfechtung der Sachentscheidung. An diesem Ergebnis habe sich auch im Hinblick auf die neue Gesetzeslage nichts geändert. Ausweislich der neuen Fassung des § 33 Abs. 1 AsylG stelle das Bundesamt das Verfahren ein oder lehne den Antrag nach angemessener inhaltlicher Prüfung ab, wenn der Ausländer das Verfahren nicht betreibe. Auch in dem Fall, dass die neue Rechtslage zugrunde zu legen wäre, hätte vorliegend nur eine Einstellung des Asylverfahrens erfolgen dürfen, denn eine angemessene inhaltliche Prüfung des Asylantrags des Klägers sei mangels erfolgter Anhörung nicht möglich gewesen. Im Hinblick darauf, dass dem Kläger mangels persönlicher Anhörung die Verfahrensgarantien der Art. 14 ff. Asylverfahrens-RL nicht zuteil geworden seien sowie im Hinblick auf die Rechtsprechung des BVerwG, wonach das Recht auf persönliche Anhörung durch das Bundesamt nicht ohne weiteres durch eine gerichtliche Anhörung im Rahmen eines öffentlichen Verfahrens ersetzt werden könne, habe der Kläger einen Anspruch auf Aufhebung des formell rechtswidrigen Bescheids, § 113 Abs. 1, 3 VwGO. Hilfsweise habe der Kläger aber einen Anspruch auf Zuerkennung eines (internationalen) Schutzstatus, zumindest aber einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG.
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Der Kläger lässt beantragen,
- 1.
-
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14.11.2022, Az. 7701646-475, wird aufgehoben.
- 2.
-
Hilfsweise: Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14.11.2022, Az. 7701646-475, verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG im Hinblick auf Syrien vorliegen.
Hilfsweise: Dem Kläger wird wegen der Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewährt.
11
Die Beklagte beantragt,
die verfristete Klage abzuweisen.
12
Nach Auffassung der Beklagten sei die Klage mangels Einhaltung der Klagefrist unzulässig. Die Klagefrist habe am 21.11.2022 zu laufen begonnen, weil die Zustellung an diesem Tag als bewirkt gelte. Das Bundesamt habe den angefochtenen Bescheid an diesem Tag mit einer Zustellungsurkunde auf die Post gegeben. Nach § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG müsse ein Ausländer Zustellungen unter der letzten Anschrift, die der jeweiligen Stelle auf Grund seines Asylantrags oder seiner Mitteilung bekannt sei, gegen sich gelten lassen, wenn er für das Verfahren weder einen Bevollmächtigten bestellt noch einen Empfangsberechtigten benannt habe oder diesen nicht zugestellt werden könne. Der Kläger habe im Verwaltungsverfahren keinen Bevollmächtigten bestellt. Der Zustellversuch sei unter der – zutreffenden – Anschrift, die dem Bundesamt bekannt gewesen sei, erfolgt. Schließlich beruhe die Erfolglosigkeit der Zustellung auch auf einer Obliegenheitsverletzung des Klägers im Sinn des § 10 Abs. 1 AsylG. Dass der Kläger unter seiner zutreffenden Anschrift nicht zu ermitteln gewesen sei, folge aus der Feststellung des Postbediensteten, die er mit Postzustellungsurkunde vom 22.11.2022 erklärt habe. Diese Feststellung begründe vollen Beweis für die in der Urkunde bezeugte Tatsache, weil die Postzustellungsurkunde eine öffentliche Urkunde sei (§ 98 VwGO, §§ 418 Abs. 1, 182 Abs. 1 Satz 2 ZPO, § 33 Abs. 1 PostG). Die Beweiswirkung sei durch das bisherige Klagevorbringen nicht erschüttert. Ein derartiger Beweisantritt verlange seinerseits den vollen Nachweis eines anderen Geschehensablaufs. Aus diesem Grund müsse ein Beweisantritt substantiiert ein, ein bloßes Bestreiten genüge hierfür nicht. Hier hätten deshalb Umstände dargelegt werden müssen, die ein Fehlverhalten des Postzustellers bei der Zustellung und damit eine Falschbeurkundung in der Postzustellungsurkunde zu belegen geeignet seien. Bei Anwendung dieser Vorgaben sei nicht ersichtlich, dass die Feststellung des Postbediensteten unrichtig sei. Gründe irgendwelcher Art, warum den Kläger die Post nicht erreicht habe, trage er nicht vor. Die Behauptung, dass behördliche Schreiben den Kläger bisher und auch nach dem erfolglosen Zustellversuch des streitgegenständlichen Bescheids immer problemlos erreicht hätten, würden nicht den Anforderungen an die Substantiierungspflicht genügen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf die Akte des Bundesamts Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
14
Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da die Beteiligten ihr Einverständnis hierzu erteilt haben, § 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
15
Die Klage ist zulässig und begründet. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts vom 14.11.2022 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Die Klage ist zulässig.
17
1. Die zweiwöchige Klagefrist nach § 74 Abs. 1 Halbsatz 1 des Asylgesetzes (AsylG) wurde mit Klageeingang bei Gericht am 19.07.2023 gewahrt. Der Bescheid des Bundesamts vom 14.11.2022 gilt gemäß § 8 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) dem Kläger als im Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs beim Empfangsberechtigten zugestellt. Davon ist frühestens ab 13.07.2023 auszugehen, als dem neuen Bevollmächtigten des Klägers Einsicht in die Behördenakte gewährt wurde und der Kläger infolgedessen den Bescheid von seinem Bevollmächtigten erhielt (vgl. Schriftsatz des Klägervertreters vom 02.10.2024). Selbst, wenn man vom 13.07.2023 als frühestmöglichen Tag des tatsächlichen Zugangs ausginge, ist die zweiwöchige Klagefrist gewahrt worden.
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a) Der Zustellversuch des streitgegenständlichen Bescheids, der am 22.11.2022 erfolgte, hat die Zustellfiktion des § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG nicht ausgelöst.
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Zwar regelt § 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 AsylG, dass ein Ausländer, der für das Verfahren weder einen Bevollmächtigten bestellt noch einen Empfangsberechtigten benannt hat, unter anderem Zustellungen des Bundesamts an die letzte bekannte Anschrift, unter der der Ausländer wohnt oder zu wohnen verpflichtet ist und die durch eine öffentliche Stelle mitgeteilt worden ist, gegen sich gelten lassen muss. Kann eine solche Sendung dem Ausländer nicht zugestellt werden, so gilt die Zustellung gemäß § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG mit der Aufgabe zur Post als bewirkt, selbst wenn die Sendung als unzustellbar zurückkommt.
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Auch sind diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall dem ersten Anschein nach erfüllt: Der Kläger hatte für das Verfahren weder einen Bevollmächtigten bestellt, noch einen Empfangsberechtigten benannt. Die Frage, ob die frühere Rechtsanwältin des Klägers im Zeitpunkt des Zustellungsversuchs für das Verwaltungs(asyl) verfahren wirksam bevollmächtigt war, bedarf dabei keiner Entscheidung, da jedenfalls mit beim Bundesamt am 15.07.2022 eingegangenen Schreiben des Klägers vom 13.07.2022 (Bl. 447 der Behördenakte) diesem ein Widerruf der Vollmacht gemäß § 14 Abs. 1 Satz 4 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) zuging und dieser dadurch am 15.07.2022 wirksam wurde. Zum Zeitpunkt des Zustellungsversuchs des Bundesamts bestand daher keine Bevollmächtigung der früheren Anwältin des Klägers (mehr).
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Auch konnte versucht werden, dem Kläger den Bescheid vom 14.11.2022 persönlich mit Zustellungsurkunde (§ 3 VwZG) zuzustellen, weil der Bescheid nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 VwZG der Klägerbevollmächtigten zuzustellen war. Die damalige Bevollmächtigte hatte dem Bundesamt nämlich keine schriftliche Vollmacht vorgelegt. Im Übrigen wäre eine solche durch den Kläger wirksam widerrufen worden (s. o.).
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Der Zustellungsversuch erfolgte an die Adresse „…, …“ und damit an die letzte bekannte Anschrift, unter der der Kläger wohnte. Auch war diese Anschrift dem Bundesamt durch Mitteilung des Klägers (spätestens) vom 13.07.2022, als er die Vollmacht widerrief, bekannt, § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG. Die Sendung konnte dem Kläger auch nicht zugestellt werden. Dies ergibt sich aus der Zustellungsurkunde (Bl. 503 f. der Behördenakte), in der dokumentiert ist, dass der Zustellversuch am 22.11.2022 erfolglos geblieben ist, weil der Adressat unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln war. Insoweit kommt der Zustellungsurkunde als öffentliche Urkunde im Ausgangspunkt die sich aus § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG i. V. m. § 182 Abs. 1 Satz 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 418 Abs. 1 ZPO ergebende volle Beweiskraft zu, die gemäß § 98 VwGO auch im Verwaltungsprozess zu beachten ist (vgl. Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 98 Rn. 44 u. 48). Diese Beweiskraft erstreckt sich auf alle in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen und somit auch darauf, dass die Sendung dem Kläger nicht zugestellt werden konnte, weil dieser unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln gewesen war (vgl. BayVGH, U. v. 04.12.2023 – 13a B 22.30839 –, juris Rn. 26 m. w. N.).
23
Allerdings ist gemäß § 98 VwGO i. V. m. § 418 Abs. 2 ZPO der Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen zulässig. Dieser Gegenbeweis lässt sich zwar nicht durch bloße Behauptungen führen. Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit der in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen erfordert vielmehr den Beweis eines anderen als des beurkundeten Geschehensablaufs, der damit ein Fehlverhalten des Zustellers und eine Falschbeurkundung in der Zustellungsurkunde belegt. Hierfür bedarf es einer substantiierten Darlegung der Umstände, die gegen die Richtigkeit des Inhalts der öffentlichen Urkunde sprechen. Der Gegenbeweis ist erbracht, wenn die Unrichtigkeit zur vollen Überzeugung des Gerichts feststeht, bloße Zweifel an der Richtigkeit des Inhalts der öffentlichen Urkunde genügen nicht (BVerfG, B.v. 9.1.2023 – 2 BvR 2697/18 – NStZ-RR 2023, 86 – juris Rn. 9; BVerwG, B.v. 27.9.2017 – 10 B 11.17 – juris Rn. 4 m.w.N.; BGH, B.v. 22.8.2023 – AnwZ (BrfG) 14/23 – FamRZ 2023, 1803 – juris Rn. 7 m.w.N.; BayVGH, U.v. 4.12.2023 – 13a B 22.30839 –, juris Rn. 27; BayVGH, B.v. 12.5.2023 – 15 CS 23.606 – NVwZ-RR 2023, 781 – juris Rn. 19 m.w.N.; BayVGH, B.v. 19.7.2021 – 11 CS 21.1280 – juris Rn. 28 m.w.N.; VGH BW, B.v. 18.8.2023 – A 12 S 567/22 – juris Rn. 36 m.w.N.; NdsOVG, B.v. 2.11.2021 – 11 OB 252/21 – juris Rn. 17 m.w.N.; OVG NW, B.v. 3.9.2020 – 4 A 2461/19 – juris Rn. 23 f. m.w.N.).
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Vorliegend steht zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass die Zustellungsurkunde unrichtig ist, soweit in dieser dokumentiert ist, dass der Zustellversuch erfolglos geblieben sei, weil der Adressat unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln gewesen sei. Denn der Kläger hat den Nachweis erbracht, dass er zum Zeitpunkt des Zustellversuchs tatsächlich unter der angegebenen Anschrift gewohnt hat. Er hat diesbezüglich nicht nur Behauptungen aufgestellt, sondern substantiiert Umstände dargelegt, die gegen die Richtigkeit des Inhalts der Zustellungsurkunde sprechen. Die Aussage, der Kläger habe zum maßgeblichen Zeitpunkt der Zustellung in der Gemeinschaftsunterkunft …, …, gewohnt, ist nicht nur unsubstantiiert behauptet, sondern bestätigt durch das Schreiben der Unterkunftsverwaltung vom 01.08.2023. Das Gericht misst diesem Schreiben angesichts dessen, dass es von der Verwaltung einer Gemeinschaftsunterkunft, die nach Art. 4 Abs. 2 des Aufnahmegesetzes (AufnG) von der Regierung als staatliche Einrichtung betrieben wird, ausgestellt ist, einen hohen Beweiswert zu. Durch dieses Schreiben ist der Beweis hinreichend geführt, dass der Kläger zum Zeitpunkt des Zustellversuchs tatsächlich in der Unterkunft …, … gewohnt hat. Damit steht zugleich fest, dass die Zustellungsurkunde unrichtig ist, soweit in ihr bezeugt ist, der Zustellversuch sei erfolglos geblieben, weil der Kläger unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln gewesen sei. Selbst, wenn der Kläger vom Zusteller jeweils nicht angetroffen worden sein sollte, hätte ihm der Bescheid im Wege der Ersatzzustellung nach §§ 178, 180, 181 ZPO zugestellt werden können (§ 10 Abs. 5 AsylG). Dabei kann dahingestellt bleiben, ob es sich um eine Gemeinschaftseinrichtung gehandelt hat und deshalb eine Ersatzzustellung an den Leiter der Einrichtung oder einem dazu ermächtigten Vertreter (§ 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO) oder – soweit nicht ausführbar – durch Niederlegung (§ 181 ZPO) möglich gewesen wäre. Denn andernfalls wäre zumindest eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten (§ 180 ZPO) oder – soweit nicht ausführbar – durch Niederlegung (§ 181 ZPO) in Betracht gekommen (vgl. insoweit BayVGH, U. v. 04.12.2023 – 13a B 22.30839 –, juris Rn. 28).
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b) Der Bescheid des Bundesamts vom 14.11.2022 gilt als im Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs beim Kläger zugestellt. Dieser erfolgte frühestens am 13.07.2023.
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Lässt sich – wie vorliegend hinsichtlich des Bescheids vom 14.11.2022 – die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist es unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, gilt es gemäß § 8 VwZG als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist. Dass das Bundesamt insoweit Zustellungswillen hatte, ergibt sich ohne weiteres aus dem missglückten Zustellungsversuch (vgl. BVerwG, U.v. 18.4.1997 – 8 C 43.95 – BVerwGE 104, 301 – NVwZ 1999, 178 – juris Rn. 29 m.w.N.; BayVGH, B.v. 22.2.2018 – 5 ZB 17.31905 – juris Rn. 9; OVG LSA, B.v. 19.6.2018 – 3 M 227/18 – NVwZ-RR 2018, 714 – juris Rn. 7).
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Vorliegend hat der Klägerbevollmächtigte vorgetragen, dass der Kläger den streitgegenständlichen Bescheid von seinem Bevollmächtigten nach dessen Akteneinsicht erhalten habe. Zweifel an der Glaubhaftigkeit dieser Einlassung bestehen nicht. Auch ist nicht ersichtlich, dass der Kläger bereits zuvor Kenntnis vom Bescheid erlangt hätte. Die Frage, an welchem Tag der Kläger genau Kenntnis vom Bescheid erhalten hat, ist nicht entscheidungserheblich, da selbst bei einer Kenntnis bereits am 13.07.2022 der Bescheid gemäß § 8 VwZG als dem Kläger an diesem Tag zugestellt gilt und die Klagefrist mit Klageerhebung vom 19.07.2022 gewahrt wäre. Auch die Frage, ob der Bescheid dem Kläger in Papier- oder anderer, z. B. elektronischer, Form zugegangen ist, ist nicht entscheidungserheblich, da der Zweck der Bekanntgabe erreicht wird, wenn dem Adressaten eine zuverlässige Kenntnis des Inhalts des Bescheids verschafft wird, was nach dem Vortrag des Klägerbevollmächtigten erfolgt ist. Die Heilung von Zustellungsmängeln ist gem. § 8 VwZG somit durch die nachträgliche Übermittlung einer Kopie möglich (L. Ronellenfitsch in BeckOK VwVfG, 65. Edition 01.10.2023, VwZG § 8 Rn. 12).
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2. Die im Hauptantrag erhobene isolierte Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO, gerichtet auf Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids, ist statthaft.
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a) Der Klageantrag zu 1. konnte dabei nicht als Verpflichtungsantrag ausgelegt werden. Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden; es hat vielmehr das tatsächliche Rechtsschutzbegehren zu ermitteln. Maßgebend für den Umfang des Klagebegehrens ist das aus dem gesamten Parteivorbringen, insbesondere der Klagebegründung, zu entnehmende wirkliche Rechtsschutzziel. Insoweit sind die für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätze (§§ 133, 157 BGB) heranzuziehen. Maßgebend ist der geäußerte Parteiwille, wie er sich aus der prozessualen Erklärung und den sonstigen Umständen ergibt; der Wortlaut der Erklärung tritt hinter deren Sinn und Zweck zurück.
30
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ergibt sich aus dem Vorbringen des anwaltlich vertretenen Klägers, dass dieser bewusst die unter dem Klageantrag zu 1. isolierte Aufhebung des Bescheids begehrt. Dies gilt insbesondere deshalb, da der entsprechende Verpflichtungsantrag hilfsweise und explizit als Klageantrag zu 2. gestellt wurde.
31
b) Grundsätzlich besteht für eine isolierte Anfechtungsklage in der vorliegenden Fallkonstellation – Ablehnung eines Asylantrags durch das Bundesamt als inhaltlich unbegründet – kein Rechtsschutzbedürfnis (vgl. VG München, U. v. 14.07.2022 – M 2 K 17.39531 – Rn. 18). Wegen ihrer Verpflichtung zur Herstellung der Spruchreife nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO und zur Sachaufklärung nach § 86 Abs. 1 VwGO sind die Gerichte auch in Asylverfahren grundsätzlich verpflichtet, zur Sache durchzuentscheiden.
32
Die besondere Ausgestaltung des Asylverfahrens mit der hervorgehobenen Stellung des behördlichen Verfahrens und den daran anknüpfenden Verfahrensgarantien kann in besonderen Fallkonstellationen eine Ausnahme rechtfertigen. Dies kann etwa bei einer Bescheidungsuntätigkeitsklage der Fall sein, wenn noch keine Anhörung beim Bundesamt stattgefunden hat (BVerwG, U. v. 11.07.2018 – 1 C 18.17 – NVwZ 2018, 1875 Rn. 37 ff.), oder bei Klagen gegen Bescheide, in denen das Bundesamt ohne Prüfung der materiell-rechtlichen Anerkennungsvoraussetzungen den Asylantrag nach § 29 AsylG als unzulässig abgelehnt (vgl. BVerwG, U. v. 01.06.2017 – 1 C 9.17 – Buchholz 402.251 § 29 AsylG Nr. 3 Rn. 14 f. m. w. N.) oder das Asylverfahren nach §§ 32, 33 AsylG eingestellt hat (BVerwG, U. v. 05.09.2013 – 10 C 1.13 – BVerwGE 147, 329 Rn. 14). Auch bei einer Sachentscheidung über einen fingierten Asylantrag ist eine – unter bewusstem Verzicht auf eine weitergehende gerichtliche Prüfung der behördlichen Sachentscheidung – inhaltlich auf die Unanwendbarkeit des § 14a Abs. 2 AsylG beschränkte isolierte Anfechtungsklage zulässig (BVerwG, Urteil vom 21. November 2006 – 1 C 10.06 – BVerwGE 127, 161 Rn. 15 ff.). In Fortentwicklung dieser Rechtsprechung kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein Rechtsschutzbedürfnis für eine (isolierte) Anfechtungsklage auch in Fällen bestehen, in denen das Bundesamt zu Unrecht ohne Anhörung in der Sache über einen Asylantrag entschieden hat (BVerwG, U. v. 15.04.2019 – 1 C 46.18 – Rn. 20). Dies folgt aus den Besonderheiten des behördlichen Asylverfahrens und seinen spezifischen, im Zusammenhang mit der persönlichen Anhörung des Antragstellers stehenden Verfahrensgarantien (vgl. auch OVG Bautzen, U. v. 25.05.2020 – 5 A 461/16, BeckRS 2020, 18268). Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu im Urteil vom 11.07.2018 – 1 C 18.17 –, BVerwGE 162, 331, juris Rn. 37 ff., Folgendes ausgeführt:
„a) Das Flüchtlingsrecht ist in besonderem Maß auf eine sorgsame verfahrensrechtliche Ausgestaltung angewiesen (BVerfG, Beschluss vom 25. Februar 1981 – 1 BvR 413/80 – BVerfGE 56, 216 <236>). Sie zielt nicht allein auf eine möglichst rasche Entscheidung über Asylanträge, die sowohl im öffentlichen Interesse als auch im Interesse der Asylbewerber liegt (Erwägungsgrund 11 RL 2005/85/EG; Erwägungsgrund 18 RL 2013/32/EU). Diese Verfahrensgarantien dienen zugleich der effektiven Durchsetzung des materiellen Rechts, indem sie jedem Antragsteller die Gelegenheit verschaffen, mit den zuständigen Behörden zu kooperieren und effektiv mit ihnen zu kommunizieren, um ihnen den ihn betreffenden Sachverhalt darlegen zu können (Erwägungsgrund 13 RL 2005/85/EG; Erwägungsgrund 25 RL 2013/32/EU). Wegen der sachtypischen Beweisnot, in der sich viele Asylbewerber wegen des Fehlens von Beweismitteln zum Beleg des geltend gemachten Verfolgungsschicksals befinden, ist dem persönlichen Vorbringen des Asylsuchenden größere Bedeutung beizumessen als dies sonst in der Prozesspraxis bei Parteibekundungen der Fall ist (BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109.84 – BVerwGE 71, 180 <181 f.>; Beschluss vom 29. November 1996 – 9 B 293.96 – juris). Bei der Prüfung von Asylanträgen misst auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU den Angaben der Antragsteller ein besonderes Gewicht bei, wenn diese unter den dort bezeichneten Voraussetzungen es kompensieren können, dass Unterlagen oder sonstige Nachweise für die Aussagen fehlen. Dies setzt in besonderem Maße nicht nur die Möglichkeit einer auch mündlich möglichen Darlegung der Asylgründe voraus. Es fordert auch die Herstellung und Wahrung einer Kommunikationssituation, in der die besonderen Schwierigkeiten einer umfassenden Darlegung der Asylgründe überwunden werden können, und Möglichkeiten, in Fällen unzureichender Darlegung tatsächlich vorhandener Asylgründe das Vorbringen zu ergänzen und Missverständnisse auszuräumen.
b) Das Asylgesetz und das Unionsrecht (RL 2005/85/EG; RL 2013/32/EU) enthalten besondere Verfahrensgarantien und Vorkehrungen für das behördliche Asylverfahren, um eine gelingende Kommunikation zwischen Asylantragsteller und Behörde sicherzustellen.
aa) Nach Art. 13 Abs. 3 RL 2005/85/EG ergreifen die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen, damit die persönliche Anhörung unter Bedingungen durchgeführt wird, die dem Antragsteller eine zusammenhängende Darlegung der Gründe seines Asylantrags gestatten. Sie haben u.a. zu gewährleisten, dass die anhörende Person ausreichend befähigt ist, um die persönlichen oder allgemeinen Umstände des Antrags einschließlich der kulturellen Herkunft oder der Verletzlichkeit des Antragstellers zu berücksichtigen (Buchst. a). Die angemessenen Kenntnisse in Asyl- und Flüchtlingsangelegenheiten, deren entscheidende Bedeutung Erwägungsgrund 10 RL 2005/85/EG für die Bediensteten der erstinstanzlich entscheidenden Behörde betont, erstreckt sich nicht allein auf die Fachkenntnisse des materiellen Flüchtlingsrechts oder zu den tatsächlichen Verhältnissen des Herkunftsstaates; sie umfassen auch die Fähigkeiten, die erforderlich sind, um die komplexe Kommunikationssituation der Anhörung angemessen zu bewältigen. Soweit Art. 15 Abs. 3 Buchst. b RL 2013/32/EU künftig fordert, dass die Mitgliedstaaten, soweit möglich, vorsehen, dass die Anhörung des Asylantragstellers von einer Person gleichen Geschlechts durchgeführt wird, wenn der Antragsteller darum ersucht, soweit nicht die Asylbehörde Grund zu der Annahme hat, dass das Ersuchen auf Gründen beruht, die nicht mit den Schwierigkeiten des Antragstellers in Verbindung stehen, die Gründe für seinen Antrag umfassend darzulegen, trägt dies dem Gedanken Rechnung, dass nicht zuletzt aus kulturellen oder religiösen Gründen insbesondere Frauen erhebliche Schwierigkeiten haben können, sich männlichen Anhörpersonen gegenüber zu offenbaren. Entsprechendes gilt für das Uniformverbot für Anhörpersonen (Art. 15 Abs. 3 Buchst. d RL 2013/32/EU) und das Gebot kindgerechter Anhörung (Art. 15 Abs. 3 Buchst. e RL 2013/32/EU) (s.a. Art. 17 Abs. 4 Buchst. b RL 2005/85/EG).
bb) Nach § 25 Abs. 6 Satz 1 AsylG ist die Anhörung des Asylantragstellers nicht öffentlich (s.a. Art. 13 Abs. 2 RL 2005/85/EG: „Eine persönliche Anhörung erfolgt unter Bedingungen, die eine angemessene Vertraulichkeit gewährleisten.“); an ihr können neben Vertretern des Bundes, eines Landes oder des UNHCR andere Personen nur nach Maßgabe einer besonderen Gestattungsentscheidung teilnehmen. Für den Regelfall schreibt Art. 13 Abs. 1 RL 2005/85/EG eine persönliche Anhörung ohne die Anwesenheit von Familienangehörigen vor, soweit nicht die Asylbehörde die Anwesenheit solcher Angehörigen zwecks einer angemessenen Prüfung für erforderlich hält.
cc) Nach Art. 14 Abs. 2 RL 2005/85/EG stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass ein Antragsteller rechtzeitig Zugang zu dem Bericht über die persönliche Anhörung hat; in Fällen, in denen der Zugang erst nach der Entscheidung der Asylbehörde gewährt wird, haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass der Zugang so frühzeitig ermöglicht wird, dass fristgerecht ein Rechtsbehelf vorbereitet und eingelegt werden kann. Der Zugang zu diesem „Bericht über die persönliche Anhörung im Verfahren“ hat erkennbar den nunmehr in Art. 17 Abs. 3 RL 2013/32/EU ausdrücklich geregelten Sinn, dem Antragsteller Gelegenheit zu geben, sich mündlich und/oder schriftlich zu Übersetzungsfehlern oder missverständlichen Formulierungen in der Niederschrift zu äußern und/oder diese zu klären.
dd) § 25 Abs. 3 AsylG erlaubt zwar die Nichtberücksichtigung eines der Anhörung nachfolgenden, späteren Vorbringens des Ausländers, wenn andernfalls die Entscheidung des Bundesamtes verzögert würde. Die Regelung schließt aber ergänzendes Vorbringen nicht strikt aus und lässt es somit zu, noch im Laufe des weiteren behördlichen Asylverfahrens das bisherige Vorbringen zu ergänzen, vermeintliche Widersprüche auszuräumen oder sonst Missverständnisse aufzuklären. Die Möglichkeit solcher Missverständnisse oder (vermeintlicher) Widersprüche im Rahmen der Anhörung unterscheidet das behördliche Asylverfahren typischerweise wesentlich von nahezu allen weiteren inländischen Verwaltungsverfahren, in denen für die Kommunikation zwischen Antragsteller und Behörden zwar in Einzelfällen, aber nicht im Regelfall ein Sprachmittler erforderlich ist.
ee) Der Sicherung einer angemessenen Verständigung zwischen dem Antragsteller und der anhörenden Person dient auch die Vorgabe, die Auswahl eines hierfür tauglichen Dolmetschers sicherzustellen (Art. 13 Abs. 3 Buchst. b RL 2005/85/EG; s.a. Art. 15 Abs. 3 Buchst. c RL 2013/32/EU). Dies entspricht der hervorgehobenen Bedeutung der Anhörung für ein rechtsstaatliches Asylverfahren, bei der nur bei gelingender sprachlicher Verständigung eine umfassende Verständigung möglich ist (s.a. Jaber, ZAR 2017, 318). Auch bei qualifizierten Dolmetschern besteht indes allein durch die Mediatisierung der Verständigung die Gefahr von Verständigungsmängeln; diese müssen durch einen wirksamen Rechtsbehelf beseitigt werden können.
ff) Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 39 Abs. 1 RL 2005/85/EG gewährleisten dem Asylbewerber das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf; Art. 46 Abs. 3 RL 2013/32/EU stellt klar, dass sich die Prüfung neben Rechtsfragen auch auf Tatsachen erstreckt. Unionsrecht wie nationales Recht gehen von zumindest einer Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung einer behördlichen Entscheidung über den Asylantrag aus, und treffen so Vorsorge für Fälle, in denen ungeachtet der Wahrung aller Verfahrensgarantien und -standards des Asylverfahrens behördliche Asylentscheidungen fehlerhaft sind. Diese im gewaltenteilenden Rechtsstaat generell vorzusehende gerichtliche Kontrolle hat wegen der spezifischen Fehlerquellen, die sich im behördlichen Asylverfahren ergeben können, eine besondere Bedeutung.
gg) Der besonderen Bedeutung der persönlichen Anhörung durch die Asylbehörde steht entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten hier auch nicht entgegen, dass nach Art. 12 Abs. 4 RL 2005/85/EG bzw. Art. 14 Abs. 3 RL 2013/32/EU die Tatsache, dass keine persönliche Anhörung stattfindet, die Asylbehörde nicht daran hindert, über den Asylantrag zu entscheiden. Diese Regelung ist bezogen auf jene Fälle, in denen nach Maßgabe des Art. 12 Abs. 2 RL 2005/85/EG bzw. Art. 14 Abs. 2 RL 2013/32/EU auf eine persönliche Anhörung verzichtet werden kann; sie stellt die Anhörung nicht insgesamt zur Disposition. Dass ein solcher Ausnahmefall hier vorgelegen haben könnte, ist tatrichterlich nicht festgestellt und wird von der Beklagten auch nicht geltend gemacht.
hh) Die Möglichkeit, dass ein Gericht im Rahmen der Überprüfung einer nach Anhörung des Schutzsuchenden ergangenen behördlichen Entscheidung nach Art. 47 GRC gehalten sein kann, einen Asylantragsteller zu einem Unzulässigkeitsgrund anzuhören, der von der Asylbehörde nicht geprüft worden ist (so das nach der Entscheidungsfindung ergangene Urteil des EuGH vom 25. Juli 2018 – C-585/16 [ECLI:ECLI:ECLI:EU:C:2018:584], Alheto – Rn. 125, 127, 130), lässt keine direkten Rückschlüsse auf die hier vorliegende Konstellation einer reinen Bescheidungsklage nach vollständigem Anhörungs- und Entscheidungsausfall durch das Bundesamt zu und nimmt auch sonst der Anhörung durch die Asylbehörde nicht ihr Gewicht, zumal der Gerichtshof an anderer Stelle des Urteils ausführt (Rn. 116), dass „die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz durch eine Verwaltungsstelle oder eine gerichtsähnliche Behörde, die mit besonderen Mitteln und Fachpersonal ausgestattet ist, eine wesentliche Phase der mit dieser Richtlinie eingeführten gemeinsamen Verfahren ist.“
33
c) Diese besondere Ausgestaltung des behördlichen Asylverfahrens begründet in ihrer Gesamtschau ein berechtigtes Interesse eines Asylantragstellers an der Durchführung des behördlichen Verfahrens. Damit nicht verbunden ist die Bewertung, dass bereits einzelne Verfahrensrechte dieses Ergebnis begründen und selbständig durchsetzbar seien, oder dass damit ein weitergehendes Rechtsschutzbedürfnis für eine Untätigkeitsvornahmeklage ausgeschlossen wäre.
34
aa) Das gerichtliche Asylverfahren kann die Durchführung des behördlichen Asylverfahrens nicht insgesamt gleichwertig ersetzen.
35
Das gerichtliche Verfahrensrecht ist insgesamt auf Kontrolle einer behördlichen Entscheidung in einem transparenten, vom Grundsatz der Öffentlichkeit geprägten kontradiktorischen Verfahren durch den gesetzlichen Richter angelegt. Die Funktion des Grundsatzes der Nichtöffentlichkeit des behördlichen Verfahrens kann auch bei einer erweiternden Auslegung des § 171b GVG im gerichtlichen Verfahren, wie sie zum Schutz der Privatsphäre von Asylbewerbern angezeigt sein kann, die aber den Grundsatz der Öffentlichkeit nicht generell aufheben darf, im gerichtlichen Verfahren nicht verwirklicht werden; denn er zielt auf die Gestaltung einer offenen Kommunikationssituation insgesamt. Der Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 GG) schließt es aus, im Rahmen der Bestimmung der Anhörperson gezielt Besonderheiten der kulturellen Herkunft oder der Verletzlichkeit des Antragstellers Rechnung zu tragen, und zwar ungeachtet dessen, dass Fähigkeit und Bereitschaft zur problemsensiblen, von interkultureller Kompetenz getragenen Durchführung einer mündlichen Verhandlung allen in Asylverfahren tätigen Verwaltungsrichterinnen und -richtern abverlangt sind. Mit Blick auf die Amtsermittlungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) ist namentlich bei einer Untätigkeitsklage indes der ergänzenden Erwägung des Berufungsgerichts nicht beizutreten, dass eine den Anforderungen der Asylverfahrensrichtlinie genügende Anhörung mit Dolmetscher einen Zeitrahmen erfordere, der im gerichtlichen Verfahren nicht ohne Weiteres zur Verfügung stehe. Die Pflicht zur hinreichenden Ausstattung der staatlichen Organe gilt auch für die Gerichte.
36
Der Konzentrationsgrundsatz des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens (§ 87 Abs. 1 VwGO) und die eingeschränkte prozessuale Überprüfbarkeit gerichtlicher Entscheidungen stehen ebenfalls in einem unaufgelösten Spannungsverhältnis zur Pflicht, den „Bericht über die persönliche Anhörung im Verfahren“ rechtzeitig oder doch so frühzeitig zu übermitteln, dass ein Rechtsbehelf vorbereitet und eingelegt werden kann (Art. 14 Abs. 2 RL 2005/85/EG). Entsprechendes gilt für die im gerichtlichen Verfahren strikteren Präklusionsvorschriften.
37
Die besonderen Fehlerquellen, die die Möglichkeit der Überprüfung einer getroffenen Entscheidung durch eine weitere (gerichtliche) Instanz erfordern, bestehen vor allem auch im gerichtlichen Asylverfahren. Art. 19 Abs. 4 GG oder Art. 39 Abs. 1 RL 2005/85/EG gebieten zwar kein Rechtsmittel gegen eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung in Asylverfahren, so dass der nationale Gesetzgeber auch die Rechtsmittelbeschränkungen in § 78 AsylG vornehmen durfte. Die spezifischen Kommunikationsprobleme im (behördlichen wie gerichtlichen) Asylverfahren vermitteln dann aber ein besonderes schutzwürdiges Interesse des Asylantragstellers an der Durchführung des behördlichen Erstverfahrens und der Möglichkeit einer daran erst anschließenden gerichtlichen Kontrolle.
38
bb) Der Beschleunigungsgrundsatz, der im behördlichen wie im gerichtlichen Asylverfahren gilt, steht einem Rechtsschutzinteresse für die reine Bescheidungsklage nicht entgegen. In der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist allerdings eine umfassende Pflicht des Gerichts zur Herstellung der Spruchreife auch aus dem Interesse des Einzelnen wie der Allgemeinheit an einer beschleunigten Durchführung des Asylverfahrens hergeleitet worden (BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1998 – 9 C 28.97 – BVerwGE 106, 171 <174>). Diese Rechtsprechung ist indes unter dem Eindruck der Entwicklung des Asylverfahrensrechts und der Möglichkeiten der Asylbehörden zur Verfahrensbeschleunigung u.a. für die Zulässigkeitsentscheidungen nach § 29 AsylG modifiziert worden (BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 4.16 – BVerwGE 157, 18 Rn. 20). Ob die Klägerin mit einer gerichtlichen Untätigkeitsvornahmeklage tatsächlich schneller und einfacher zu dem von ihr angestrebten Ziel der Zuerkennung internationalen Schutzes gelangen kann, kann unter den obwaltenden Umständen einer hohen Belastung der Verwaltungsgerichte mit Asylverfahren nicht festgestellt werden.
39
cc) Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten fordert Unionsrecht jedenfalls nicht, dass im gerichtlichen Verfahren auf Untätigkeitsklage hin „durchzuentscheiden“ ist. Art. 39 RL 2005/85/EG bzw. Art. 46 RL 2013/32/EU setzen erkennbar voraus, dass eine behördliche Erstentscheidung ergangen ist, und verhalten sich nicht zum gerichtlichen Rechtsschutz in Fällen der Untätigkeit. Dessen Ausgestaltung ist Sache der nationalen Gesetzgeber. Dem unionsrechtlichen Gebot eines wirksamen Rechtsbehelfs mit einer umfassenden Ex-Nunc-Prüfung, die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt, kann daher in Fällen, in denen es – wie hier – an einer zu überprüfenden behördlichen Entscheidung bislang fehlt, keine unionsrechtliche Pflicht des Gerichts zum „Durchentscheiden“ entnommen werden.
40
Die Gleichwertigkeit der Anhörung im gerichtlichen Verfahren ergibt sich entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten auch nicht daraus, dass nach unionsrechtlichem Sprachgebrauch mit der Bezeichnung „Asylbehörde“ auch die Gerichte erfasst seien. Dies ist bereits nach den Begriffsbestimmungen ausgeschlossen, die „Asylbehörde“ definieren als „jede gerichtsähnliche Behörde bzw. jede Verwaltungsstelle eines Mitgliedstaats, die für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz (bzw. Asylanträgen) zuständig und befugt ist, erstinstanzliche Entscheidungen über diese Anträge zu erlassen“ (Art. 2 Buchst. e RL 2005/85/EG bzw. Art. 2 Buchst. f RL 2013/32/EU). Dies umfasst gerade nicht die Gerichte, bei denen ein „wirksamer Rechtsbehelf“ möglich sein muss (Art. 39 Abs. 1 RL 2005/85/EG bzw. Art. 46 Abs. 1 RL 2013/32/EU; so nunmehr auch das nach der Entscheidungsfindung ergangene Urteil des EuGH vom 25. Juli 2018 – C-585/16 – Rn. 103).“
41
Diesen Erwägungen schließt sich das Gericht an. Sie gelten für die hier vorliegende Konstellation der zu Unrecht völlig unterbliebenen persönlichen Anhörung (OVG Bautzen, a. a. O.; siehe sogleich c)) und rechtfertigen die isolierte Anfechtung des streitgegenständlichen Bescheids.
42
c) Das Bundesamt hat vorliegend zu Unrecht ohne Anhörung in der Sache über den Asylantrag des Klägers entschieden. Weder eine Einstellung des Verfahrens noch eine Ablehnung des Asylantrags nach angemessener inhaltlicher Prüfung wären nach der im Zeitpunkt der Entscheidungsfindung gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage möglich gewesen.
43
aa) Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 AsylG stellt das Bundesamt das Verfahren ein oder lehnt den Asylantrag nach angemessener inhaltlicher Prüfung ab, wenn der Ausländer das Verfahren nicht betreibt. Nach § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Alt. 2 AsylG wird vermutet, dass der Ausländer das Verfahren nicht betreibt, wenn er einer Aufforderung zur Anhörung gemäß § 25 nicht nachgekommen ist. Schon nach dem Wortlaut der Bestimmung setzt der Vermutungstatbestand der Nr. 1 Alt. 2 voraus, dass der Betroffene ordnungsgemäß zur Anhörung geladen bzw. über den Anhörungstermin informiert wurde („Aufforderung zur Anhörung gemäß § 25“). Mängel der Aufforderung zur Anhörung begründen daher systematisch gesehen keine – vom Betroffenen unverzüglich geltend zu machenden – Exkulpationsgründe i. S. d. Abs. 2 Satz 2, sondern hindern bereits den Eintritt der Nichtbetreibensvermutung. Das Bundesamt trifft grundsätzlich die Pflicht zum Nachweis einer wirksamen Ladung; gelingt dieser Nachweis nicht, ist die Einstellung wegen Nichterscheinen zur Anhörung rechtswidrig (VG München, Gerichtsbescheid v. 06.07.2017 – M 21 K 16.35587; B. v. 03.08.2016 – M 4 S 16.31854). Eine Zustellung der Ladung ist zwar nicht vorgeschrieben, werden an das Nichterscheinen zur Anhörung aber derart weitreichende Konsequenzen wie die Einstellung des Asylverfahrens geknüpft, erscheint dies mit dem Rechtsstaatsgebot nur dann als vereinbar, wenn seitens des Bundesamts der Nachweis geführt werden kann, dass dem Ausländer die Ladung zugegangen ist (vgl. Broscheit/Lehnert in Huber/Mantel, 4. Auflage 2025, AsylG § 33 Rn. 8; VG München, B. v. 03.05.2017 – 6 S 17.35642; B. v. 03.08.2016 – M 4 S 16.31854).
44
bb) Daran fehlt es hier. In der Bundesamtsakte befindet sich – unabhängig von der Frage, ob die Ladung an den Kläger persönlich oder seine ehemalige Bevollmächtigte zu richten gewesen wäre – kein Nachweis über die Zustellung des Ladungsschreibens vom 20.06.2022. Der Vermerk des Bundesamts vom 20.06.2022 über die Aufgabe zur Post ist hierfür nicht ausreichend. Nach § 4 Abs. 2 Satz 3 VwZG hat die Behörde den Zugang und dessen Zeitpunkt nachzuweisen. Ist das Dokument – wie vorliegend unwidersprochen vorgetragen – nicht zugegangen, greift auch die Zustellungsfiktion nach § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG nicht ein.
45
cc) Demnach lag mangels Zustellungsnachweises keine „Aufforderung zur Anhörung gemäß § 25“ vor, die der Kläger hätte befolgen können. Die Vermutungswirkung nach § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Alt. 2 AsylG konnte nicht ausgelöst und damit das Verfahren weder eingestellt, noch nach angemessener inhaltlicher Prüfung der Asylantrag nach der zugrunde zu legenden Gesetzeslage abgelehnt werden. Die bis 31.12.2022 in § 25 Abs. 5 Satz 3 AsylG vorgesehene Möglichkeit, im Falle des unentschuldigten Verbleibens von der Anhörung und nach Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme nach Aktenlage zu entscheiden, besteht nach der seit 01.01.2023 geltenden Fassung des § 25 Abs. 5 AsylG nicht mehr. Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 20/4327, Seite 36) regelt § 33 AsylG nun vielmehr abschließend die Rechtsfolgen, wenn der Ausländer der Aufforderung zur Anhörung nicht nachgekommen ist. Auch konnte nicht gemäß § 25 Abs. 5 Satz 1 AsylG – da der Ausländer nach den Angaben des Bundesamts nicht mehr verpflichtet war, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen – von der persönlichen Anhörung abgesehen werden. Denn der Kläger ist nicht „einer Ladung zur Anhörung ohne genügende Entschuldigung nicht“ gefolgt in diesem Sinne, da kein Ladungsnachweis vorliegt. Diesbezüglich gilt das unter aa) und bb) Gesagte entsprechend.
46
Die Klage ist auch begründet, da der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts vom 14.11.2022 rechtswidrig ist und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
47
1. Der Bescheid ist wegen der unterbliebenen Anhörung des Klägers nach § 25 AsylG rechtswidrig (vgl. BVerwG, U. v. 15.04.2019 – 1 C 46.18 –, juris Rn. 22; OVG Bautzen a. a. O.; VGH BW, U. v. 22.02.2021 – 12 S 2583/18, BeckRS 2021, 3511). Eine Entscheidung ohne Anhörung des Klägers hätte nicht ergehen dürfen. Die Beklagte ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Kläger einer Ladung zur Anhörung ohne genügende Entschuldigung nicht gefolgt ist. Tatsächlich kann nicht nachgewiesen werden, dass dem Kläger bzw. seiner Anwältin das Ladungsschreiben zur persönlichen Anhörung zugestellt worden ist.
48
Der Verfahrensfehler ist nicht nach § 45 Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. Abs. 2 VwVfG im asylgerichtlichen Verfahren geheilt worden. Eine solche Heilung kann nach nationalem Recht – auch während des gerichtlichen Verfahrens – nur durch die Behörde selbst erfolgen; diese muss die Anhörung nachträglich durchführen und ihre getroffene Entscheidung im Lichte des Ergebnisses der Anhörung kritisch überdenken (BVerwG, U. v. 30.03.2021 – 1 C 41/20 – Rn. 19). Dies ist hier schon deshalb nicht erfolgt, weil sich die Beklagte in ihren Schriftsätzen im gerichtlichen Verfahren nur zur Zulässigkeit der Klage geäußert hat.
49
Eine Unbeachtlichkeit nach § 46 VwVfG scheidet schon deshalb aus, da nicht offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Die Annahme der Offensichtlichkeit ist ausgeschlossen, wenn nach den Umständen des Falles die konkrete Möglichkeit besteht, dass ohne den Verfahrensfehler eine andere Entscheidung getroffen worden wäre (Schemmer in BeckOK VwVfG, 65. Edition 01.10.2024, § 46 Rn. 42 m. w. N.). Hier hätte – den Anhörungsmangel weggedacht – durchaus die Möglichkeit bestanden, dass sich der Kläger (möglicherweise nach erneuter Ladung) zu den Fluchtgründen geäußert hätte mit der Folge, dass die Beklagte inhaltlich anders über den Asylantrag entschieden hätte.
50
2. Der angegriffene Bescheid ist aufzuheben und dem Bundesamt Gelegenheit zu geben, nach ordnungsgemäßer Anhörung über den Asylantrag des Klägers erneut zu entscheiden. Das Asylverfahren ist somit ab dem Zeitpunkt vor Eintritt des Fehlers erneut durchzuführen.
51
Denn es ist in das weite, nur eingeschränkt nachprüfbare Verfahrensermessen des Tatsachengerichts gestellt, ob es entweder dem Bundesamt innerhalb des asylgerichtlichen Verfahrens aufgibt, den Kläger persönlich anzuhören, eine Entscheidung über die Aufrechterhaltung der angegriffenen Entscheidung zu treffen und diese in das Verfahren einzuführen, die persönliche Anhörung des Klägers selbst nachholt oder – wie vorliegend – den angegriffenen Bescheid des Bundesamts aufhebt und dem Bundesamt dadurch Gelegenheit gibt, nach Durchführung einer persönlichen Anhörung im Verwaltungsverfahren eine neuerliche Entscheidung über den Asylantrag zu treffen (BVerwG, U. v. 30.03.2021 – 1 C 41/20 – Rn. 26).
52
Bei der pflichtgemäßen Ausübung seines Ermessens berücksichtigt das Gericht, dass das Asylverfahren des Klägers bereits seit längerer Zeit läuft. Vor dem Hintergrund der aktuell volatilen Lage in Syrien sieht es das Gericht jedoch als sachgerecht an, dem Bundesamt, das nach eigenen Angaben die Situation vor Ort fortlaufend und unter Einbeziehung aller hierfür relevanter Quellen beobachtet, Gelegenheit zu geben, eine neuerliche Entscheidung über den Asylantrag des Klägers unter Berücksichtigung seines etwaigen Vorbringens in einer neu durchzuführenden Anhörung und der veränderten Lage in Syrien zu treffen. Insoweit wird auf die oben genannten Besonderheiten des behördlichen Asylverfahrens und seine spezifischen, im Zusammenhang mit der persönlichen Anhörung des Klägers stehenden Verfahrensgarantien (siehe oben I. 2. b)) verwiesen.
53
Da die Klage bereits im Hauptantrag Erfolg hat, war über den Hilfsantrag nicht mehr zu entscheiden.
54
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
55
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
56
Die Höhe des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 30 Abs. 1 des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG).