Titel:
Notwendige Verteidigung, Sofortige Beschwerde, Gesamtstrafenbildung, Freiheitsstrafen, Kosten des Beschwerdeverfahrens, Staatsanwaltschaft, Beiordnung eines Pflichtverteidigers, Pflichtverteidigerbestellung, Schwere der Tat, Gesamtfreiheitsstrafe, Rechtskräftige, Strafverfahren, Kostenentscheidung, Aufklärungspflicht, Rechtsfolgenentscheidung, Anhängiges Verfahren, Getrennte Verfahren, Berufungshauptverhandlung, Gelegenheit zur Stellungnahme, Parallelverfahren
Normenkette:
StPO § 140 Abs. 2
Leitsatz:
Drohen dem Angeklagten in mehreren Verfahren Strafen, die gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der „Schwere der Tat“ im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig. Nicht erst und ausschließlich das (möglicherweise letzte von mehreren) Verfahren, durch das die (Gesamt-)Strafe schließlich zum Überschreiten der maßgeblichen Grenze führt, löst für den Beschuldigten die aus einer Verurteilung drohenden Nachteile aus; vielmehr hat jede Einzelstrafe, die voraussichtlich zum Bestandteil einer die Grenze überschreitenden Gesamtfreiheitsstrafe werden wird, diese potenzielle Bedeutung, gleich, ob sie in einem verbundenen oder in getrennten Verfahren ausgesprochen wird.
Schlagworte:
Pflichtverteidigerbestellung, Schwere der Tat, Gesamtstrafenbildung, Notwendige Verteidigung, Parallelverfahren, Freiheitsstrafe, Rechtsstaatsprinzip
Vorinstanz:
LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 18.03.2025 – 15 NBs 403 Js 64945/22
Fundstelle:
BeckRS 2025, 12697
Tenor
1. Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft N.-F. gegen den Beschluss der 15. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 18.03.2025 wird als unbegründet verworfen.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse.
Gründe
1
Die Staatsanwaltschaft N.-F. führt gegen den Angeklagten ein Strafverfahren wegen Nötigung. Ihm wird vorgeworfen, als sog. Klimakleber am 16.08.2022 in N. Verkehrsteilnehmer durch eine Straßenblockade an deren Weiterkommen gehindert zu haben. Mit Urteil des Amtsgerichts Nürnberg vom 01.03.2024 wurde er wegen Nötigung in 13 tateinheitlichen Fällen zu einer Geldstrafe von 75 Tagessätzen zu je 15,00 € verurteilt. Die Staatsanwaltschaft, die die Verhängung einer Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen beantragt hatte, legte dagegen Berufung ein. Auch der Angeklagte, der in erster Instanz einen Freispruch beantragt hatte, legte Rechtsmittel ein.
2
Mit Schreiben seines Verteidigers vom 19.02.2025 beantragte der Angeklagte, ihm Rechtsanwalt D. W. gemäß § 140 Abs. 2 StPO als Pflichtverteidiger zu bestellen. Die Mitwirkung eines Verteidigers sei wegen der Schwere der Tat oder der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen geboten. Unter Aufzählung von weiteren, gegen den Angeklagten im Rahmen seiner Aktivitäten als sog. Klimakleber für den Klimaschutz geführter Strafverfahren im ganzen Bundesgebiet und der dem Angeklagten deshalb drohenden Strafen, die gesamtstrafenfähig seien und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreiche, die das Merkmal „Schwere der Tat“ im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründe, sei auch im vorliegenden Verfahren die Verteidigung eine notwendige.
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Dieser Argumentation schloss sich das Landgericht Nürnberg-Fürth, wie sich aus der Verfügung vom 31.03.2025 ergibt, an und bestellte mit Beschluss vom 18.03.2025, Rechtsanwalt D. W. gemäß § 140 Abs. 2 StPO als Pflichtverteidiger des Angeklagten.
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Termin zur Durchführung der Berufungshauptverhandlung ist auf den 23.06.2025 bestimmt.
5
Gegen den Beschluss hat die Staatsanwaltschaft N.-F. mit Schreiben vom 20.03.2025, eingegangen bei Gericht am 24.03.2025, sofortige Beschwerde eingelegt und diese damit begründet, dass die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO nicht vorliegen.
6
Die Generalstaatsanwaltschaft N. beantragt, auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft den Beschluss der 15. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 18.03.2025 aufzuheben und dem Angeklagten die Kosten des Beschwerdeverfahrens aufzuerlegen.
7
Der Angeklagte hatte Gelegenheit zur Stellungnahme und mit Schreiben seines Verteidigers vom 23.04.2025 darauf erwidert. In dem Schreiben legt er zudem dar, in welchen Fällen derzeit noch Strafverfahren gegen den Angeklagten in diesem Zusammenhang anhängig sind und welche Strafen, rechtskräftig oder noch nicht rechtskräftig, gegen den Angeklagten bereits verhängt wurden.
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Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist statthaft (§ 142 Abs. 7 S. 1 StPO), form- und fristgerecht (§§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO) eingelegt und damit zulässig.
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Die sofortige Beschwerde ist allerdings unbegründet. Das Landgericht ist zu Recht vom Vorliegen eines Falls der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO wegen der „Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge“ ausgegangen. Insoweit wird auf die zutreffende Gründe im angegangenen Beschluss i.V.m. der Verfügung vom 31.03.2025 verwiesen.
10
Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung rechtfertigt nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung die Beiordnung eines Pflichtverteidigers in der Regel, wenn dem Angeklagten die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe droht, die mindestens im Bereich von einem Jahr liegt (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 140 Rn. 23/23a).
11
Neben der dem Angeklagten in diesem Verfahren drohenden Strafe sind wegen der bei § 140 Abs. 2 StPO stets erforderlichen Gesamtbewertung auch sonstige schwerwiegende Nachteile zu berücksichtigen, die er infolge der drohenden Verurteilung zu gewärtigen hat. Die Grenze der Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe ist deshalb auch dann zu beachten, wenn ihr Erreichen oder Überschreiten erst infolge einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt. Voraussetzung dieser Berücksichtigungspflicht ist dabei, dass das andere Verfahren dem über die Pflichtverteidigerbestellung entscheidenden Gericht bekannt ist. Eine Aufklärungspflicht besteht insoweit nicht (vgl. KG, Beschluss vom 06.01.2017, 4 Ws 212/16, 161 AR 1960/16, BeckRS 2017, 106064).
12
Drohen dem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der „Schwere der Tat“ im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig. Anderenfalls hinge es von bloßen Zufälligkeiten, nämlich der Frage, ob die Verfahren verbunden werden oder nicht, ab, ob dem Angeklagten ein Verteidiger beizuordnen ist (OLG Naumburg Urt. v. 22.5.2013 – 2 Ss 65/13, BeckRS 2013, 10548, beck-online).
13
Zwar ist gegen den Angeklagten erstinstanzlich eine solche Freiheitsstrafe nicht verhängt worden, und damit ist auch in der Berufungsinstanz, obwohl auch die Staatsanwaltschaft zu Lasten des Angeklagten Berufung eingelegt hat und damit eine Verschlechterung möglich ist, nicht zu rechnen.
14
Der Auszug aus dem Bundeszentralregister vom 06.03.2025 weist bereits drei Eintragungen auf, wobei mit zweien sicher eine nachträgliche Gesamtstrafe gebildet werden kann, die allerdings auch nicht in den Bereich von Freiheitsstrafe von einem Jahr kommt.
15
Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft ist aber bei der Betrachtung der Gesamtwirkung der drohenden Strafe der Blick nicht auf solche Verfahren beschränkt, in denen eine gesamtstrafenfähige andere Strafe bereits rechtskräftig geworden ist. Diese Auffassung, die von der Bewertung getragen ist, die Berücksichtigung nur zu erwartender (also noch nicht rechtskräftig verhängter) gesamtstrafenfähiger Strafen führe zu „einem bei Mehrfachtätern – auch aus fiskalischer Sicht – nicht hinnehmbaren Ausufern des Instituts der notwendigen Verteidigung“, wird dem Grund und Wesen der notwendigen Verteidigung nicht gerecht. Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die Bestellung eines Verteidigers konkretisieren das Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verhandlungsführung. Der Beschuldigte muss die Möglichkeit haben, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Dazu gehört auch, dass ein Beschuldigter, der die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufzubringen vermag, in schwerwiegenden Fällen von Amts wegen und auf Staatskosten einen rechtskundigen Beistand erhält. Mit dem Institut der notwendigen Verteidigung und mit der Bestellung eines Verteidigers ohne Rücksicht auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Angeklagten sichert der Gesetzgeber das Interesse, das der Rechtsstaat an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren und zu diesem Zweck nicht zuletzt an einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten hat. Ebenso wenig, wie das Institut der notwendigen Verteidigung der finanziellen Versorgung von Rechtsanwälten dient, darf sich das Strafgericht bei der Anwendung der entsprechenden Vorschriften der Strafprozessordnung in erster Linie von fiskalischen Erwägungen leiten lassen. Auch kommt nach der gesetzlichen Konzeption des § 140 Abs. 2 StPO eine einschränkende Rechtsanwendung unter unmittelbarer Anknüpfung an die strafrechtliche „Karriere“ eines Beschuldigten nicht in Betracht. Die Beschwerdeführerin verkennt, dass nicht erst und ausschließlich dasjenige (möglicherweise letzte von mehreren) Verfahren, in dem die (Gesamt-)Strafe schließlich zum Überschreiten der maßgeblichen Grenze führt, für den Beschuldigten die aus einer Verurteilung drohenden Nachteile auslöst; vielmehr hat jede Einzelstrafe, die voraussichtlich zum Bestandteil einer die Grenze überschreitenden Gesamtfreiheitsstrafe werden wird, diese potenzielle Bedeutung, gleich, ob sie in einem verbundenen oder in getrennten Verfahren ausgesprochen wird.
16
Der Senat teilt deshalb die in Rechtsprechung und Literatur überwiegend vertretene Auffassung, dass der Gerichtsvorsitzende bei der Beurteilung der Schwere der Tat bzw. der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO weitere gegen den Angeklagten anhängige Verfahren, hinsichtlich derer eine Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt, zu berücksichtigen hat (KG, ebenda, mit weiteren Nachweisen).
17
Insoweit wird auf die Aufzählung der Strafverfahren gegen den Angeklagten in der Verfügung des Landgerichts vom 31.03.2025 und in dem Schreiben des Verteidigers vom 23.04.2025 verwiesen. Darunter finden sich auch bereits Verurteilungen (noch nicht rechtskräftig) zu Freiheitsstrafen, die höchste Einzelstrafe wäre eine solche von sechs Monaten. Zudem gibt der Verteidiger an, dass gegen den Angeklagten bei der Staatsanwaltschaft Neuruppin ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts einer Bildung einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB geführt werde.
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Damit sind aber die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung gegeben.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus der entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.