Inhalt

OLG Nürnberg, Beschluss v. 08.05.2025 – 11 WF 402/25
Titel:

Übertragung der elterlichen Sorge, Verfahrenskostenhilfeantrag, Sorgerechtsvollmacht, Antragsgegner, Verfahrensbevollmächtigter, Elterliche Sorge, Häusliche Gewalt, Persönliche und wirtschaftliche Verhältnisse, Hinreichende Aussicht auf Erfolg, Sofortige Beschwerde, Rechtsverfolgung, Hinreichende Erfolgsaussicht, Istanbulkonvention, Sorgerechtsübertragung, Streitbeilegungsverfahren, Getrenntleben, Gemeinsame elterliche Sorge, Sorgerechtsregelung, getrenntlebender Ehegatten, Antragstellers

Leitsätze:
1. Ein Elternteil, der sich im Verfahren der elterlichen Sorge auf das Vorliegen von häuslicher Gewalt beruft, muss sich für die Frage, ob sein Antrag auf Verfahrenskostenhilfe hinreichende Aussicht auf Erfolg hat, nicht auf eine vom anderen Elternteil erteilte Sorgerechtsvollmacht verweisen lassen, wenn diese ohne seine Mitwirkung und ohne die Möglichkeit, die häusliche Gewalt einzuwenden, erteilt wurde.
2. Ohne Aufklärung der geschilderten häuslichen Gewalt kann eine verpflichtende Verweisung auf Beratungsverfahren zumindest im Stadium der Verfahrenskostenhilfe nicht erfolgen. In diesem Zusammenhang ist Art. 48 der Istanbul Konvention zu berücksichtigen, der alternative Streitbeilegungsverfahren jeder Art bei Vorliegen häuslicher Gewalt verbietet.
Schlagworte:
Verfahrenskostenhilfe, Elterliche Sorge, Häusliche Gewalt, Kindeswohl, Sorgerechtsvollmacht, Kommunikationsunfähigkeit, Vaterschaftszweifel
Vorinstanz:
AG Nürnberg, Beschluss vom 02.04.2025 – 105 F 937/25
Fundstelle:
BeckRS 2025, 12683

Tenor

1. Der Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Nürnberg vom 02.04.2025, Az.: 105 F 937/25, wird aufgehoben.
2. Der Antragstellerin wird für den ersten Rechtszug ab Antragstellung Verfahrenskostenhilfe bewilligt (§ 76 Abs. 1 FamFG, §§ 114, 119 Abs. 1 ZPO).
Rechtsanwältin S… O… wird als Verfahrensbevollmächtigte beigeordnet (§§ 76, 78 Abs. 2 FamFG).
Die Bewilligung erfolgt ohne Anordnung von Zahlungen.

Gründe

1
Die Beschwerdeführerin begehrt für ein Verfahren, in dem sie die Übertragung elterliche Sorge beantragt, Verfahrenskostenhilfe.
I.
2
Die Antragstellerin hat am 04.03.2025 beantragt, ihr für das am 22.11.2024 in der Ehe mit dem Antragsgegner geborene Kind K… A… die alleinige elterliche Sorge zu übertragen.
3
Sie begründet den Antrag damit, dass keine Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft der schon seit vor der Geburt des Kindes getrennt lebenden Ehegatten existiere. Dem Antragsgegner sei das Kind gleichgültig, er zweifele die Vaterschaft an. Er zahle keinen Kindesunterhalt. Er bemühe sich nicht um Kontakt mit dem Kind. Er habe auch die Geburtsanzeige für das Kind nur unter Druck eines gerichtlichen Verfahrens unterzeichnet. Außerdem sei sie Opfer häuslicher Gewalt geworden, weswegen ihr eine Kooperation mit dem Antragsgegner auch nicht zumutbar sei. Die Antragstellerin legt u.a. eine polizeiliche Dokumentation über einen Polizeieinsatz bei häuslicher Gewalt vom …2023 vor, aus der hervorgeht, dass sie gegenüber der Polizei angegeben hatte, immer wieder vom Antragsgegner geschlagen und getreten zu werden, wenn sie keinen Geschlechtsverkehr wolle. Sie werde regelmäßig vergewaltigt. Heute [also am …2023] sei es am heftigen gewesen, weswegen sie die Polizei gerufen habe. Sie legt auch ein ärztliches Attest vom …2023 vor, in dem Prellungen und Hämatome an den Armen, den Knien und Prellungen der Bauchdecke sowie des Kopfes diagnostiziert wurden. Außerdem beantragt sie, ihr für das Verfahren Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin Se… O… als Verfahrensbevollmächtigte zu gewähren.
4
Das Amtsgericht hat den Hinweis erteilt, dass die beantragte Verfahrensführung keine Aussicht auf Erfolg haben könnte, weil sich aus dem Vorverfahren 105 F 4923/24 ergebe, dass der Antragsgegner der Antragstellerin am 14.01.2025 eine umfassende Sorgerechtsvollmacht erteilt habe. Diese gebe ihr eine ausreichend verlässliche Handhabe zur Wahrnehmung der Belange des Kindes, so dass eine Sorgerechtsübertragung unverhältnismäßig sei.
5
Daraufhin hat die Antragstellerin erklärt, Ziel des Eilverfahrens 105 4923/24 sei nur die Unterschrift des Kindsvaters zur Geburtsanzeige gewesen, da er diese nicht freiwillig geleistet habe. In diesem Verfahren hätten ihre in der Ehe erlittenen Gewalterfahrungen keine Rolle gespielt. Ihr sei es nur um schnellen Rechtsschutz gegangen. Sie hat weiter ausgeführt, dass es am 09.12.2023 zwischen ihr und ihrem Mann eine gewalttätige Auseinandersetzung gegeben habe. Ihr Mann sei auf sie losgegangen, habe sie in den Bauch getreten und ihr Bein zerkratz. Nach einer Versöhnungsphase sei es immer wieder zu heftigen Streitigkeiten gekommen, bei denen sie angeschrien und bedroht worden sei, u.a. damit, ihre Bilder und Videos ins Netz zu stellen. Ihr Mann sei sehr eifersüchtig gewesen. Auf die Schilderungen der Antragstellerin im Schriftsatz vom 25.03.2025 wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.
6
Der Antragsgegner hat bisher im amtsgerichtlichen Verfahren noch keine Stellungnahme abgegeben und nur einen Verfahrenskostenhilfeantrag gestellt.
7
Das Amtsgericht hat die beantragte Verfahrenskostenhilfe mit Beschluss vom 02.04.2025 mangels Erfolgsaussichten abgewiesen. Der Antragsgegner habe eine umfassende Sorgerechtsvollmacht erteilt. Der elterliche Konflikt sei nicht mittels Beratung beim Jugendamt angegangen worden. Im Anschluss an die beschriebene Tätlichkeit im Dezember 2023 hätten sich die Ehegatten wieder versöhnt, weshalb eine Übertragung der elterlichen Sorge auch nach der Istanbul-Konvention nicht angezeigt sei. Der Eingriff in das Sorgerecht des Vaters sei unverhältnismäßig. Wegen der Einzelheiten wird auf den Beschluss vom 02.04.2025 Bezug genommen.
8
Die Antragstellerin legt gegen den ihrer Verfahrensbevollmächtigten am 03.04.2025 zugestellten Beschluss mit Schriftsatz ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 24.04.2025 sofortige Beschwerde ein. Das Desinteresse des Antragsgegners am Kind werfe Zweifel an seiner Mitwirkungsbereitschaft auf. Die widerrufliche Vollmacht ziele nicht auf eine stabile Sorgerechtsregelung ab. Die auch bei einer Vollmachtserteilung nötige Restkommunikation sei nicht zumutbar.
9
Das Amtsgericht hat der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen. Ergänzend hat es ausgeführt, dass der Eingriff in das Sorgerecht des Antragsgegners auch deswegen nicht gerechtfertigt sei, weil das Trennungsjahr nicht abgelaufen sei. Auf den Nichtabhilfebeschluss vom 29.04.2025 wird Bezug genommen.
10
Aus dem beigezogenen Verfahren 105 F 4923/24 des Amtsgerichts Nürnberg ergibt sich, dass der Antragsgegner am 14.01.2025 eine widerrufliche Vollmacht für die Gesundheitsfürsorge, Angelegenheiten des Kindergartens, der Schule und Ausbildung sowie Vereinssport und alle Behördenangelegenheiten erteilt hat. Diese war auf Anregung des Gerichts in Absprache mit dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners erteilt worden, nachdem der Antragsgegner zunächst beantragt hatte, den Antrag auf Unterzeichnung der Geburtsanzeige zurückzuweisen.
11
Die Antragstellerin hatte keine Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen.
II.
12
Die gemäß § 76 Abs. 2 FamFG, § 127 Abs. 2 S. 2 ZPO statthafte sofortige Beschwerde gegen den Verfahrenskostenhilfe versagenden Beschluss des Amtsgerichts ist gemäß §§ 567 ff. ZPO zulässig und führt in der Sache zur Abänderung des Beschlusses des Amtsgerichts.
13
Die beabsichtigte Rechtsverfolgung in dem Verfahren der elterlichen Sorge ist nicht mutwillig und bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 76 Abs. 1 FamFG, §§ 114, 119 Abs. 1 ZPO). Auch die Voraussetzungen der Beiordnung nach § 78 Abs. 2 FamFG liegen vor.
14
Nach § 1671 Abs. 1 BGB kann die elterliche Sorge für ein unter 14 Jahre altes Kind auf Antrag auf einen Elternteil übertragen werden, wenn die Eltern nicht nur vorübergehend getrennt leben und der andere Elternteil zustimmt oder zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge und die Übertragung auf den antragstellenden Elternteil dem Wohl des Kindes am besten entspricht.
15
Im vorliegenden Fall leben die Eltern nach dem Vortrag der Antragstellerin jedenfalls nicht nur vorübergehend getrennt, auch wenn das für die Ehescheidung erforderliche Trennungsjahr noch nicht abgelaufen ist.
16
Fraglich ist die Verneinung der Erfolgsaussichten für den Antrag schon deswegen, weil angesichts des von der Antragstellerin geschilderten Desinteresses am Kind und den Zweifeln an der Vaterschaft nicht ausgeschlossen werden, dass der Antragsgegner dem Antrag nicht doch zustimmt. Bislang hat er nicht Stellung genommen.
17
Auch ohne seine Zustimmung können die von der Antragstellerin vorgetragenen und durch Vorlage eines Polizeiberichts und eines ärztlichen Attestes belegten Anhaltspunkte für das Vorliegen von häuslicher Gewalt die Zumutbarkeit zur Kommunikation mit dem Antragsgegner soweit entfallen lassen, dass die Auflösung der gemeinsamen elterlichen Sorge und die Übertragung der elterlichen Sorge auf die Antragstellerin dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Das Amtsgericht verkennt die grundsätzlichen Mechanismen häuslicher Gewalt, für die gerade typisch ist, dass es nach gewalttätigen Vorfällen nicht selten auch zu Versöhnungen zwischen den Partnern kommen kann. Die Antragstellerin schildert zudem im Schriftsatz ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 27.03.2025, dass es auch nach der Versöhnungsphase im Januar 2024 immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Ehegatten kam, so dass die Antragstellerin zur Durchführung der Trennung die Polizei einschaltete. Ihre Schilderungen sind nicht von vornherein unglaubwürdig. Hinzukommt noch die von ihr aufgeführte Ablehnung des Kindes durch den Antragsteller und sein Desinteresse am Kind, das auch dadurch dokumentiert ist, dass er im Verfahren 105 F 4923/24 sogar den Antrag auf Unterzeichnung der Geburtsurkunde für das Kind zunächst zurückweisen ließ. Diese Umstände lassen tatsächliche Schwierigkeiten auf der Kommunikationsebene der Eltern befürchten.
18
Die Antragstellerin muss sich jedenfalls für die Frage der Beurteilung der Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung nicht auf die ereilte Sorgerechtsvollmacht verweisen lassen. Zum einen ist diese nicht umfassend (es wurde insbesondere keine Vollmacht für die Bestimmung des Aufenthaltsortes erteilt), zum anderen wurde diese ohne ihre Mitwirkung erteilt. Die Frage, ob angesichts der jetzt vorgetragenen häuslichen Gewalt die erteilte Vollmacht die Übertragung der elterlichen Sorge auf die Antragstellerin wirklich entbehrlich macht, muss im Verfahren geprüft werden. Auch eine Sorgerechtsvollmacht erfordert wegen des grundsätzlichen Fortbestands der gemeinsamen elterlichen Sorge eine weiter bestehende Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft der Eltern, weil auch bei einer bestehenden Vollmacht Mitwirkungspflichten bzw. Kontrollbefugnisse und -pflichten des vollmachtgebenden bzw. verpflichteten Elternteils bestehen (vgl. BGH NJW 2020, 2182, Rn. 26, 29). In Fällen häuslicher Gewalt kann es sein, dass dem gewaltbetroffenen Elternteil diese Restkooperation mit dem gewaltausübenden Elternteil nicht zugemutet werden kann (OLG Frankfurt, NZFam 2024, 1031; OLG Saarbrücken, FamRZ 2024, 1269).
19
Letztlich kann die Erfolgsaussicht des gestellten Sorgerechtsantrags auch nicht deswegen verneint werden, weil die Eltern noch keine Elternberatung beim Jugendamt vorgenommen haben. Ohne Aufklärung der geschilderten häuslichen Gewalt kann eine verpflichtende Verweisung auf Beratungsverfahren zumindest im Stadium der Verfahrenskostenhilfe nicht erfolgen. In diesem Zusammenhang ist Art. 48 der Istanbul Konvention zu berücksichtigen, der alternative Streitbeilegungsverfahren jeder Art bei Vorliegen häuslicher Gewalt verbietet. Vor diesem Hintergrund können der Antragstellerin auch gemeinsame Elterngespräche unzumutbar sein, wenn es häusliche Gewalt gegeben hat.
20
Anhaltspunkte für die Unzumutbarkeit des Verweises auf eine gemeinsame Elternberatung können sich zumindest für die Frage der Beurteilung der Erfolgsaussichten des Sorgerechtsantrags auch aus der Tatsache ergeben, dass der Antragsgegner die Vaterschaft zu dem Kind anzweifelt, der Antragstellerin also unterstellt, sie schöbe ihm ein fremdes Kind unter.
III.
21
Es liegen auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung der Verfahrenskostenhilfe vor.
22
Die Antragstellerin legte eine Erklärung zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen vor, nach der sie Bürgergeld und Kindergeld für das Kind bezieht. Ebenso wurde ein Bescheid des Jobcenters vom 13.02.2025 und Kontoauszüge vorgelegt. Auf die Erklärung zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen und den Bescheid des Jobcenters vom 13.02.2025 wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.
23
Die Antragstellerin ist aufgrund ihrer Einkommens- und Vermögenssituation nicht in der Lage, die Kosten des Verfahrens zu tragen.
IV.
24
Eine Kostenentscheidung ist gemäß § 76 Abs. 1 FamFG, § 127 Abs. 4 ZPO nicht veranlasst.
25
Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.