Titel:
Rechtsschutzbedürfnis, Zurückstellung, Anrechnung von Zeiten faktischer Zurückstellung
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4, § 80 Abs. 5
BauGB § 15
BauGB (analog) § 17 Abs. 1 S. 2
Schlagworte:
Rechtsschutzbedürfnis, Zurückstellung, Anrechnung von Zeiten faktischer Zurückstellung
Fundstelle:
BeckRS 2025, 1246
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom … Mai 2024, Az. …, wird wiederhergestellt.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf EUR 2.500,- festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragstellerin wendet sich gegen die mit Bescheid vom … Mai 2024 ausgesprochene Zurückstellung der Bearbeitung der Frage 2 und 3a) ihres Antrags auf Vorbescheid vom … August 2022 für das Grundstück FlNr. 15465/8, Gemarkung … … G. straße 9 („Baugrundstück“).
2
Die Klägerin ist Eigentümerin des Baugrundstücks, für welches sie am … August 2022 einen Antrag auf Vorbescheid für den Neubau einer Wohnanlage mit Tiefgarage bei der Antragsgegnerin einreichte. Über den Vorbescheidsantrag wurde von der Antragsgegnerin mit Bescheid vom … Januar 2023 entschieden, wobei insbesondere die Fragen 2 und 3a) des Antrags negativ beantwortet wurden.
3
Kurz vor der Ablehnung des Antrags auf Vorbescheid fasste die Landeshauptstadt M. am … Dezember 2022 den Beschluss zur Aufstellung eines sektoralen Bebauungsplans für den Bereich R. straße (südlich), S. straße (östlich), G. straße (nördlich) und F. straße (westlich). Das Baugrundstück liegt innerhalb des von dem Aufstellungsbeschluss erfassten Gebiets. Der Aufstellungsbeschluss wurde im Amtsblatt der Landeshauptstadt M. vom … Dezember 2022 bekanntgemacht.
4
Gegen die negativ verbeschiedenen Teile des Vorbescheids vom … Januar 2023 ging die Antragstellerin mit Verpflichtungsklage vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht München vor. Diese Klage wurde bei dem erkennenden Gericht unter dem Aktenzeichen M 8 K 23.538 geführt. Das erkennende Gericht hob mit Urteil vom 18. März 2024 – soweit die Klage nicht übereinstimmend für erledigt erklärt wurde – den Vorbescheid vom … Januar 2023 hinsichtlich der Fragen 2 und 3a) auf und verpflichtete die Antragsgegnerin dazu, diese beiden Fragen positiv zu beantworten.
5
Gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil stellte die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 23. April 2024 Antrag auf Zulassung der Berufung. Das Berufungsverfahren ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof anhängig unter dem Aktenzeichen 2 ZB 24.795.
6
Am … Mai 2024 erließ die Antragsgegnerin einen als „Nachgangsbescheid und Verfügung“ bezeichneten Bescheid, mit dem folgende Anordnung getroffen wurde:
7
„1. Die Entscheidung über den Antrag auf Erteilung eines Vorbescheids vom …08.2022 nach Plan-Nr. … wird hinsichtlich der Fragen 2 und 3a auf die Dauer von 12 Monaten, gerechnet ab Zustellung dieses Bescheids, ausgesetzt, soweit eine dauerhafte Wohnnutzung im bauplanungsrechtlichen Sinn abgefragt ist.“
8
Ferner wurde in Ziff. 2 des Bescheids die sofortige Vollziehung der unter Ziff. 1 getroffenen Verfügung angeordnet.
9
Am ... Dezember 2024 wurde der sektorale Bebauungsplan für den vorstehend beschriebenen Bereich von der Landeshauptstadt M. beschlossen. Eine öffentliche Bekanntmachung im Amtsblatt erfolgte bis jetzt nicht.
10
Die Antragstellerin ließ durch ihren Bevollmächtigten mit Schriftsatz vom 17. Juni 2024, eingegangen bei Gericht am 18. Juni 2024 in der Hauptsache Klage gegen den Bescheid vom … Mai 2024 erheben. Die Klage in der Hauptsache wird bei dem erkennenden Gericht unter dem Aktenzeichen M 8 K 24.3616 geführt. Mit Schriftsatz vom 27. September 2024 ließ die Antragstellerin durch ihren Bevollmächtigten im hiesigen Verfahren einen Antrag im einstweiligen Rechtsschutz stellen.
11
Die Antragstellerin beantragt,
12
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den Zurückstellungsbescheid der Antragsgegnerin vom …05.2024, Az: … wird wiederhergestellt.
13
Eine Zurückstellung sei schon deshalb nicht mehr möglich gewesen, da der maximal zulässige Zeitraum für eine Zurückstellung zum Zeitpunkt des Bescheidserlasses bereits abgelaufen gewesen sei. Auch im Rahmen von § 15 Abs. 1 BauGB sei die Anrechnungsvorschrift von § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB (doppelt) entsprechend anzuwenden. Durch die ursprüngliche negative Beantwortung der Fragen 2 und 3a sei eine faktische Zurückstellung von bereits über einem Jahr bewirkt worden.
14
Die Antragsgegnerin beantragt,
15
Der Antrag wird abgelehnt.
16
Die Frist für eine Zurückstellung sei noch nicht abgelaufen. Es sei schon fraglich, ob § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB auf die Zurückstellung analog angewendet werden könne, da in § 15 BauGB eine entsprechende Regelung fehle. Es sei auch nicht von einer faktischen Zurückstellung auszugehen, da der Antrag nicht zögerlich oder fehlerhaft behandelt worden sei.
17
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakten in diesem und in den Verfahren M 8 K 24.3616 und M 8 K 23.538, sowie auf die dem Gericht vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
18
Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig und begründet.
19
1. Der Antrag ist zulässig, insbesondere fehlt es der Antragstellerin nicht am allgemeinen Rechtsschutzbedürfnis. Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis fehlt, wenn das prozessuale Vorgehen die Rechtsstellung des Antragstellers nicht verbessern kann und daher nutzlos ist (OVG Hamburg, B.v. 19. Mai 2015 – 4 Bs 56/15 – juris Rn. 3). Eine unnütze Inanspruchnahme des Gerichts findet auch im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nicht statt (Schoch in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Band VwGO, Werkstand: 46.EL August 2024, § 80 Rn. 492).
20
Im vorliegenden Fall könnte man Zweifel daran haben, ob ein Antrag im einstweiligen Rechtsschutz überhaupt geeignet ist, der Antragstellerin irgendeinen tatsächlichen oder rechtlichen Vorteil zu bringen, da die Antragstellerin ohnehin bis zur Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes über die Zulassung der Berufung nicht erreichen kann, dass ihr Antrag auf Vorbescheid vom … August 2022 von der Antragsgegnerin weiterbearbeitet wird. Denn das für die Antragstellerin günstige Urteil des erkennenden Gerichts vom 18. März 2024 im Verfahren M 8 K 23.538 ist derzeit noch nicht rechtskräftig und muss daher von der Antragsgegnerin bis zum Eintritt der Rechtskraft auch nicht befolgt werden.
21
Jedoch ist zu berücksichtigen, dass das Eintreten einer Sachverhaltskonstellation denkbar ist, in der die Antragstellerin ohne den Antrag im einstweiligen Rechtsschutz gegen die Zurückstellung rechtlich schlechter gestellt wäre. Käme es nämlich noch vor Ablauf des Zurückstellungszeitraumes und vor Inkrafttreten des von der Antragsgegnerin bereits beschlossenen Bebauungsplans zu einer ablehnenden Entscheidung im Verfahren über die Zulassung der Berufung, so könnte die Antragstellerin ihren Anspruch auf positive Neuverbescheidung ihres Vorbescheidsantrags wegen der sofortigen Vollziehbarkeit des Zurückstellungsbescheids nicht sofort durchsetzen.
22
Auch ein Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO vermag für diesen Fall keine Abhilfe zu schaffen, da es dennoch zu einem – wenn auch kurzen – Zeitraum kommt, in dem die Antragstellerin ihren Anspruch auf Neuverbescheidung nicht durchzusetzen vermag und ihr daraus Nachteile entstehen könnten.
23
2. Der Antrag ist begründet.
24
Im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO kann das Gericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung einer Anfechtungsklage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Hinsichtlich der Anordnung des Sofortvollzugs prüft das Gericht zuerst, ob diese Anordnung formell rechtmäßig war. Im Übrigen trifft das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung. Dabei nimmt das Gericht eine umfassende Interessenabwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers am Eintritt des Suspensiveffekts und dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der Maßnahmen vor.
25
Im Rahmen dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten der Klage in der Hauptsache als wesentliches, aber nicht einziges Indiz zu berücksichtigen (vgl. BayVGH, B.v. 26.7.2011 – 14 CS 11.535 – juris Rn. 18; Hoppe, in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Auflage 2022, § 80 Rn. 85 ff). Ergibt die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO allein mögliche, aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf in der Hauptsache offensichtlich ohne Erfolg bleiben wird, überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit. Ergibt sich nach summarischer Prüfung, dass der Rechtsbehelf offensichtlich erfolgreich sein wird, so überwiegt das Interesse des Antragstellers an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung. Sind die Erfolgsaussichten hingegen offen, so verbleibt es bei einer reinen Interessenabwägung (BayVGH, B.v. 26.7.2011 – 14 CS 11.535 – juris Rn. 18).
26
Daran gemessen ist der Antrag begründet. Aufgrund der im Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ergibt sich, dass der Zurückstellungsbescheid vom … Mai 2024 rechtswidrig ist und die Klage in der Hauptsache voraussichtlich Erfolg haben wird. Daher überwiegt das Interesse der Antragstellerin an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung.
27
Die unter Ziff. 1 des Bescheids vom … Mai 2024 angeordnete Zurückstellung des Vorbescheidsantrags der Antragstellerin vom … August 2022 erweist sich als rechtswidrig.
28
Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 BauGB hat die Bauaufsichtsbehörde die Entscheidung über die Zulässigkeit eines Vorhabens für einen Zeitraum von bis zu 12 Monaten auf Antrag der Gemeinde zurückzustellen, wenn zu befürchten ist, dass die Durchführung der Planung unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werden würde. Voraussetzung dafür ist zum einen, dass die Voraussetzungen für den Erlass einer Veränderungssperre nach § 14 BauGB vorliegen, unabhängig davon, ob eine solche bereits beschlossen wurde oder nicht. Ferner darf die Entscheidung über die Zulässigkeit eines Vorhabens nur für einen Zeitraum von maximal 12 Monaten zurückgestellt werden.
29
Es spricht schon viel dafür, dass eine Zurückstellung eines bereits ablehnend verbeschiedenen Baugesuchs nicht unter gleichzeitiger Aufrechterhaltung des ablehnenden Bescheids möglich ist (siehe dazu NdsOVG, U.v. 30.9.1992 – 6 L 3200/91 – juris Rn. 22; OVG RhPf, U.v. 23.8.2023 – 8 C 10877/22.OVG – juris Rn. 93). Diese Frage kann jedoch dahinstehen, da jedenfalls der Höchstzeitraum für eine Zurückstellung von 12 Monaten vorliegend überschritten wurde.
30
Die Berechnung des Zeitraums der Zurückstellung beginnt mit der Zustellung des Bescheids über die Zurückstellung (Mitschang in: Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, 15. Auflage 2022, § 15 Rn. 6). Es handelt sich bei den 12 Monaten um einen Höchstzeitraum, der nicht überschritten oder verlängert werden darf. Auf diesen Zeitraum sind auch die Zeiten der faktischen Zurückstellung in (doppelt) analoger Anwendung von § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB anzurechnen (NdsOVG, B.v. 28.3.2017 – 1 ME 7/17 – juris Rn. 42; NdsOVG, B.v. 28.11.2006 – 1 ME 147/06 – juris Rn. 48; NdsOVG, U.v. 30.9.1992 – 6 L 3200/91 – juris Rn. 23; BGH, U.v. 25.9.1980 – III ZR 18/79 – juris Rn. 31; SächsOVG, B.v. 24.5.2018 – 1 B 96/18 – juris Rn. 10; Stock in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Werkstand 155. EL August 2024, § 15 Rn. 49; Hornmann in: BeckOK BauGB, Spannowsky/Uechtritz, 63. Edition, Stand 1.8.2024, § 15 Rn. 25; Mitschang in: Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, 15. Auflage 2022, § 15 Rn. 6). Aus der von der Antragsgegnerin zitierten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. März 2013 (4 B 1.13) ergibt sich nichts Anderes. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Zweifel an der von der überwiegenden Meinung bejahten analogen Anwendung von § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB auf Zurückstellungen gemäß § 15 BauGB geäußert. Es bedurfte in dem Fall nur keiner Entscheidung über diese Frage.
31
Zeiten der faktischen Zurückstellung analog § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB sind solche, in denen es zu einer verzögerlichen Bearbeitung oder einer rechtswidrigen Ablehnung des Bauantrags – bzw. wie hier des Antrags auf Vorbescheid – gekommen und dadurch ein Zeitverlust entstanden ist (NdsOVG, U.v. 30.9.1992 – 6 L 3200/91 – juris Rn. 23; SächsOVG, B.v. 24.5.2018 – 1 B 96/18 –, juris Rn. 10; im Rahmen einer Veränderungssperre auch BVerwG, B.v. 5.5.2011 – 4 B 12/11 – juris Rn. 3).
32
Wie bereits aus dem Urteil des erkennenden Gerichts vom 18. März 2024 im Verfahren M 8 K 23.538 hervorgeht, war die negative Beantwortung der Fragen 2 und 3a) des Antrags auf Vorbescheid mit Bescheid vom … Januar 2023 rechtswidrig. Die seit der rechtswidrigen Ablehnung verstrichene Zeit von inzwischen knapp 2 Jahren überschreitet die Höchstfrist von 12 Monaten deutlich. Diese Höchstfrist war auch schon bei Erlass des streitgegenständlichen Bescheids vom … Mai 2024 überschritten.
33
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.