Inhalt

VGH München, Beschluss v. 16.05.2025 – 4 CS 25.564
Titel:

Verpflichtung zum Ausgleich von Unterdeckungen bei der Bemessung von Benutzungsgebühren

Normenketten:
BayKAG Art. 8 Abs. 6 S. 2
BayGO Art. 112 S. 1
Leitsatz:
Die grundsätzliche Verpflichtung zum Ausgleich von Unterdeckungen gem. Art. 8 Abs. 6 Satz 2 Hs. 2 KAG setzt voraus, dass die Gemeinde oder der sonstige kommunale Einrichtungsträger für den Zeitraum, in dem die Kostenunterdeckung eingetreten ist, eine Kalkulation durchgeführt hat. (Rn. 8)
Schlagworte:
kommunalaufsichtliche Beanstandung, Benutzungsgebühren, Ausgleich von Kostenunterdeckungen, Bemessungszeitraum, Beanstandung, Gemeinde, Gemeinderatsbeschluss, Gebührenbemessung, Kalkulation, Kostenunterdeckung
Vorinstanz:
VG Ansbach, Beschluss vom 03.03.2025 – AN 4 S 25.248
Fundstelle:
BeckRS 2025, 12437

Tenor

I. Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird Nr. 1 des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 3. März 2025 – AN 4 S 25.248 – geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen Nrn. 1, 2 und 3 des Bescheids des Landratsamts F. vom 30. Dezember 2024 (Az. 211-027.2024/006738) wird wiederhergestellt.
II. Nr. 2 des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 3. März 2025 wird aufgehoben. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 7.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen einen Bescheid des Landratsamts F. vom 30. Dezember 2024. Mit dem Bescheid beanstandet das Landratsamt einen Beschluss des Gemeinderats der Antragstellerin vom 11. November 2024, mit dem dieser unter „TOP 7 Kalkulation der Gebührensätze der gesplitteten Abwassergebühr; Neufestsetzung“ einstimmig einen Vorschlag der Verwaltung der Antragstellerin ablehnte, „bei den kostendeckenden Gebühren die Ergebnisse der Vorjahre einzubeziehen“ (Nr. 1). Das Landratsamt verpflichtet die Antragstellerin, den Beschluss vom 11. November 2024 und einen Beschluss vom 2. Dezember 2024, mit dem die Aufhebung des Beschlusses vom 11. November 2024 einstimmig abgelehnt worden ist, aufzuheben und „einen neuen Beschluss über die Neufestsetzung der Gebührensätze der gesplitteten Abwassergebühr und der Änderungssatzung zur Beitrags- und Gebührensatzung zu fassen, der die Ergebnisse aus den Vorjahren mit in die Gebührenhöhe einbezieht“ (Nr. 2); hierzu wird die Ersatzvornahme angedroht (Nr. 3). Ferner ordnet das Landratsamt die sofortige Vollziehung der Beanstandung, der Verpflichtung und der Androhung an (Nr. 4).
2
Die Antragstellerin hat Klage gegen den Bescheid vom 30. Dezember 2024 erhoben und einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt. Letzteren lehnte das Verwaltungsgericht Ansbach mit Beschluss vom 3. März 2025 (4 S 25.248 – juris) ab. Gegen den ihr am 4. März 2025 zustellten Beschluss hat die Antragstellerin am 17. März 2025 Beschwerde eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 4. April 2025 begründet.
II.
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1. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 3. März 2025 ist zulässig. Insbesondere entspricht die Beschwerdebegründung auch, soweit sie sich gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts wendet, der beanstandete Beschluss des Gemeinderats der Antragstellerin vom 11. November 2024 sei rechtswidrig, den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO. Die Antragstellerin legt noch hinreichend dar, dass und weshalb sie die Auffassung des Verwaltungsgerichts, der Anwendung des Art. 8 Abs. 6 Satz 2 Hs. 2 KAG stehe die Gebührenbemessung ohne eine zugrundeliegende Vorkalkulation nicht entgegen (vgl. VG Ansbach, B.v. 3.3.2025 – 4 S 25.248 – juris Rn. 43), für unzutreffend hält.
4
2. Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.
5
a) Das Verwaltungsgericht hat es zu Unrecht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen Nr. 1 des Bescheids des Landratsamts vom 30. Dezember 2024 nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO wiederherzustellen. Die Klage wird insoweit aller Voraussicht nach Erfolg haben (dazu aa)); und es besteht kein Anlass zu der Annahme, dass dennoch das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung von Nr. 1 des Bescheids das Interesse der Antragstellerin, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens vor Vollzugsmaßnahmen verschont zu bleiben, überwiegt (dazu bb)).
6
aa) Auf die Klage der Antragstellerin wird Nr. 1 des Bescheids des Landratsamts vom 30. Dezember 2024 voraussichtlich aufzuheben sein. Die tatbestandliche Voraussetzung für die Ausübung des Beanstandungsrechts nach § 112 Satz 1 GO, das Vorliegen eines rechtswidrigen Beschlusses bzw. einer rechtswidrigen Verfügung der Gemeinde, dürfte nicht erfüllt sein. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts dürfte der Beschluss des Gemeinderats der Antragstellerin vom 11. November 2024 nicht gegen Art. 8 Abs. 6 Satz 2 Hs. 2 KAG verstoßen.
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(1) Gemeinden, Landkreise und Bezirke können für die Benutzung ihrer öffentlichen Einrichtungen und ihres Eigentums Benutzungsgebühren erheben (Art. 8 Abs. 1 Satz 1 KAG). Diese sollen erhoben werden, wenn und soweit eine Einrichtung überwiegend dem Vorteil einzelner Personen oder Personengruppen dient, sofern nicht ein privatrechtliches Entgelt gefordert wird (Art. 8 Abs. 1 Satz 2 KAG). Das Gebührenaufkommen soll die nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen ansatzfähigen Kosten einschließlich der Kosten für die Ermittlung und Anforderung von einrichtungsbezogenen Abgaben decken (Art. 8 Abs. 2 Satz 1 KAG). Bei der Bemessung der Gebühren kann der kommunale Einrichtungsträger Kosten für einen mehrjährigen Zeitraum berücksichtigen, der jedoch höchstens vier Jahre umfassen soll (Art. 8 Abs. 6 Satz 1 KAG). Kostenüberdeckungen, die sich am Ende des Bemessungszeitraums ergeben, sind innerhalb des folgenden Bemessungszeitraums auszugleichen; Kostenunterdeckungen sollen in diesem Zeitraum ausgeglichen werden (Art. 8 Abs. 6 Satz 2 KAG).
8
(2) Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts setzt die grundsätzliche Verpflichtung zum Ausgleich von Unterdeckungen gem. Art. 8 Abs. 6 Satz 2 Hs. 2 KAG voraus, dass die Gemeinde oder der sonstige kommunale Einrichtungsträger für den Zeitraum, in dem die Kostenunterdeckung eingetreten ist, eine Kalkulation durchgeführt hat.
9
Das Kommunalabgabengesetz sieht keine Verpflichtung der kommunalen Einrichtungsträger vor, Benutzungsgebühren aufgrund einer Kalkulation zu bemessen (vgl. BayVGH, U.v. 17.6.1998 – 23 B 95.4088 – juris Rn. 41; Wernsmann/Geiß in BeckOK Kommunalabgabenrecht Bayern, Stand 1.2.2025, Art. 8 Rn. 49). Insbesondere ergibt sich eine solche nicht aus Art. 8 Abs. 6 Satz 1 KAG. Diese Vorschrift stellt lediglich klar, dass in dem Fall, dass eine (Vor-)Kalkulation erstellt und der Gebührenbemessung zugrunde gelegt wird, diese einen mehrjährigen, allerdings vier Jahre nicht übersteigenden Zeitraum betreffen kann (LT-Drs. 12/8082 S. 9).
10
Die sich aus Art. 8 Abs. 6 Satz 2 KAG ergebende Pflicht, Kostenüberdeckungen auszugleichen (Hs. 1), und die in der Vorschrift enthaltene Vorgabe, dass Kostenunterdeckungen ausgeglichen werden sollen (Hs. 2), besteht nach dem eindeutigen Wortlaut („die sich am Ende des Bemessungszeitraums ergeben“) nur, wenn es einen Bemessungszeitraum gibt. Im Hinblick auf die systematische Stellung des Art. 8 Abs. 6 Satz 2 KAG im Anschluss an Art. 8 Abs. 6 Satz 1 KAG ist insoweit ein ein- oder mehrjähriger Zeitraum gemeint, bezogen auf den (voraussichtlich) anfallende Kosten veranschlagt werden. Führt die Gemeinde oder der sonstige Einrichtungsträger keine (Vor-)Kalkulation durch, so gibt es keinen Bemessungszeitraum, an dessen Ende sich eine Über- oder Unterdeckung ergeben könnte (vgl. Wernsmann/Geiß a.a.O. Art. 8 Rn. 113 [„Überdeckung oder Unterdeckung trotz sorgfältiger Kostenveranschlagung“]; Brüning NVwZ 2020, 563/564 f.; vgl. zu Kostenüberdeckungen bereits BayVGH, U.v. 15.3.2005 – 23 B 04.2579 – juris Rn. 33 [keine Sanktionierung von Kostenüberdeckungen, „die sich aus einer vom Einrichtungsträger unterlassenen oder den Anforderungen des Art. 8 KAG nicht entsprechenden Gebührenkalkulation ergeben oder die bewusst herbeigeführt wurden“]; a.A. (wohl) Hölzlwimmer in Thimet, Kommunalabgaben- und Ortsrecht in Bayern, Stand Januar 2025, Art. 8 KAG Frage 14 unter 3.). Eine gegebenenfalls auszugleichende Unterdeckung kann dementsprechend nur dann eintreten, wenn die tatsächlichen Kosten von den kalkulierten oder die tatsächliche Inanspruchnahme der Einrichtung von der kalkulierten abgewichen sind (vgl. Brüning a.a.O.; zu Überdeckungen BayVGH a.a.O.).
11
Für dieses Auslegungsergebnis spricht neben dem Wortlaut auch die Entstehungsgeschichte des Art. 8 Abs. 6 Satz 2 KAG. In dem Gesetzentwurf der Staatsregierung zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes LT-Drs. 12/8082 verwendet diese die Begriffe „Bemessungszeitraum“ und „Kalkulationszeitraum“ synonym („Den einmal gewählten Bemessungszeitraum kann die Kommune im allgemeinen nicht nachträglich ändern, ebensowenig wie die Vorkalkulation selbst. Innerhalb eines solchen Kalkulationszeitraums wird es regelmäßig Schwankungen in der Kostenrechnung geben – ohne daß die Kostendeckung insgesamt vorkalkulatorisch in Frage gestellt ist.“ [a.a.O. S. 9]).
12
Der vom Landratsamt in seinem Bescheid betonte Aspekt, dass die Kreditaufnahme durch eine Gemeinde die „letzte Einnahmebeschaffungsmöglichkeit“ darstellt (vgl. Art. 62 Abs. 3 GO), rechtfertigt keine abweichende Auslegung des Art. 8 Abs. 6 Satz 2 Hs. 2 KAG. Die Vorschrift betrifft zwar die gemeindliche Einnahmebeschaffung, was sich auch aus dem bereits angesprochenen Gesetzentwurf der Staatsregierung ergibt („wegen Art. 8 Abs. 2 KAG beziehungsweise Art. 62 Abs. 2 GO geboten …, Kostenüberdeckungen beziehungsweise Kostenunterdeckungen innerhalb des folgenden Bemessungszeitraums auszugleichen“ [a.a.O.]). Bei ihrer Auslegung ist indes zu berücksichtigten, dass ein Ausgleich nach Art. 8 Abs. 6 Satz 2 Hs. 2 KAG dazu führt, dass für in der Vergangenheit entstandene Kostenunterdeckungen teilweise Gebührenschuldner herangezogen werden, die zum Zeitpunkt des Entstehens der Unterdeckungen noch nicht solche waren (vgl. Stadlöder in Schieder/Happ, KAG, Stand Juni 2023, Art. 8 Rn. 18). Diesem – den Ausgleich einem besonderen Rechtfertigungsdruck aussetzenden – Umstand trägt der Gesetzgeber sowohl durch die zeitliche Begrenzung des Ausgleichs als auch durch die Forderung eines Bemessungs- bzw. Kalkulationszeitraums Rechnung. Hätte der Gesetzgeber gewollt, dass auch im Fall einer fehlenden Kalkulation ein Ausgleich zumindest möglich sein soll, hätte er einen solchen nicht an die Situation am „Ende des Bemessungszeitraums“ anknüpfen dürfen; ob eine solche gesetzliche Regelung (verfassungsrechtlich) zulässig wäre, kann dahingestellt bleiben.
13
(3) Im Fall der Antragstellerin ist davon ausgehend der Anwendungsbereich des Art. 8 Abs. 6 Satz 2 Hs. 2 KAG nicht eröffnet. Die Antragstellerin hat die Abwassergebühren für den Zeitraum 2021 bis 2024 nicht aufgrund einer diesen betreffenden (Vor-)Kalkulation bemessen, sondern bei der Bemessung auf die zuletzt für die Jahre 2015 bis 2018 kalkulierten Gebührensätze zurückgegriffen und diese lediglich fortgeschrieben (vgl. Bl. 7 der Behördenakte).
14
(4) Ob Art. 8 Abs. 6 Satz 2 Hs. 2 KAG Anwendung findet, wenn bei der Gebührenbemessung, der eine (Vor-)Kalkulation zugrunde lag, eine Unterdeckung „politisch gewollt“ war bzw. „bewusst in Kauf genommen“ wurde (vgl. Hölzlwimmer a.a.O.; Stadlöder a.a.O.; Vetter in Christ/Oebbecke, Handbuch Kommunalabgabenrecht, 2. Aufl. 2022, D Rn. 182), bedarf im vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung.
15
bb) Es besteht kein Anlass zu der Annahme, dass trotz des voraussichtlichen Erfolgs der Klage der Antragstellerin das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung von Nr. 1 des Bescheids vom 30. Dezember 2024 das Interesse der Antragstellerin, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens vor Vollzugsmaßnahmen verschont zu bleiben, überwiegt.
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b) Auch in Bezug auf Nrn. 2 und 3 des Bescheids vom 30. Dezember 2024 überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin das Interesse an der sofortigen Vollziehung. Wird Nr. 1 des Bescheids vom 30. Dezember 2024 voraussichtlich aufzuheben sein, so gilt dies auch für die Nrn. 2 und 3 des Bescheids, denen ebenfalls die Annahme der Rechtswidrigkeit des Beschlusses des Gemeinderats der Antragstellerin vom 11. November 2024 zugrunde liegt.
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c) Nach Vorstehendem bedarf es keiner Entscheidung, ob das Landratsamt entgegen der Auffassung der Antragstellerin das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung der getroffenen Regelungen in einer den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügenden Weise begründet hat.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG. Der Senat folgt dem von den Beteiligten nicht beanstandeten Ansatz des Verwaltungsgerichts.
20
Der Beschluss ist unanfechtbar.