Inhalt

VGH München, Beschluss v. 23.05.2025 – 1 CS 25.528
Titel:

Nachbareilantrag, Erstreckung von Abstandsflächen auf angrenzende Verkehrsflächen, Anwendung des sog. 16-m-Privilegs

Normenketten:
VwGO § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5
BayBO Art. 6 Abs. 2 S. 2, Abs. 5 S. 2
Schlagworte:
Nachbareilantrag, Erstreckung von Abstandsflächen auf angrenzende Verkehrsflächen, Anwendung des sog. 16-m-Privilegs
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 03.03.2025 – M 1 SN 25.414
Fundstelle:
BeckRS 2025, 12422

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

1
Die Antragsteller wenden sich im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gegen die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Neubau eines Doppelhauses und eines Wohnhauses mit zwei Wohneinheiten und Garagen u.a. auf dem Grundstück FlNr. …, Gemarkung P… („Vorhabengrundstück“), soweit das Doppelhaus (Haus 1) betroffen ist.
2
Die Antragsteller sind Eigentümer des östlich an das Vorhabengrundstück angrenzenden Grundstücks, das mit einem Wohngebäude bebaut ist. Die Grundstücke liegen im Geltungsbereich der Satzung über abweichende Maße der Abstandsflächentiefe der Stadt K., zuletzt geändert mit Satzung vom 25. März 2021 („Abstandsflächensatzung“).
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Mit Bescheid vom 19. Dezember 2024 erteilte das Landratsamt nach Umplanung die beantragte Baugenehmigung. Über die dagegen gerichtete Anfechtungsklage der Antragsteller liegt noch keine Entscheidung vor. Im vorläufigen Rechtsschutzverfahren lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 3. März 2025 den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Klage gegen den Baugenehmigungsbescheid ab. Die Baugenehmigung verstoße nach summarischer Prüfung nicht gegen drittschützende Rechtsnormen. Die Anwendung des 16-m-Privilegs scheitere nicht daran, dass die vor der nördlichen Außenwand von Haus 1 einzuhaltende Abstandsflächentiefe über die Mitte der nördlich angrenzenden Straße hinausgehe. Bei den jeweils an die Straße angrenzenden Grundstücken handle es sich um ein Buchgrundstück. Damit stehe die Inanspruchnahme der gesamten Straßenbreite im Raum. Hinzu komme, dass der nördlich an die Straße angrenzende Grundstücksbereich aufgrund seiner geringen Größe jedenfalls in dem abstandsflächenrelevanten Bereich nicht bebaubar sei. Einer möglichen Abstandsflächenübernahme bedürfe es bei dem vorliegenden Buchgrundstück nicht. Künftige Entwicklungen, wie z.B. die beabsichtigte Grundstücksabtretung durch die Beigeladenen für eine Verbreiterung der Straße, seien zum maßgeblichen Zeitpunkt der Genehmigungserteilung nicht zu berücksichtigen gewesen. Ob die Voraussetzungen für eine Ablehnung des Antrags auf Erteilung der Baugenehmigung aufgrund fehlenden Sachbescheidungsinteresses gegeben wären, könne im nachbarrechtlichen Verfahren dahingestellt bleiben. Auch die Inanspruchnahme der verkürzten Abstandsflächentiefe von 0,4 H für einen Teil der 16 m überschreitenden Länge der ungegliederten südlichen Außenwand von Haus 1 und im Übrigen die volle Abstandstiefe von 0,8 H sei nach der Abstandsflächensatzung nicht zu beanstanden.
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Mit der Beschwerde verfolgen die Antragsteller ihr Rechtsschutzbegehren weiter.
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Der Antragsgegner tritt der Beschwerde entgegen, die Beigeladenen haben sich nicht geäußert.
6
Ergänzend wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegte elektronische Behördenakte Bezug genommen.
II.
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Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg.
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Die von den Antragstellern dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigen keine Abänderung oder Aufhebung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses. Bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung hat das Verwaltungsgericht den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zu Recht abgelehnt, da die Nachbarklage der Antragsteller im Hauptsacheverfahren voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, sodass das Interesse an der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegenüber dem Vollzugsinteresse der Beigeladenen nachrangig ist.
9
Die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung verstößt voraussichtlich nicht gegen im Baugenehmigungsverfahren zu prüfende Vorschriften, die zumindest auch dem Schutz der Interessen der Antragsteller als Nachbarn im Sinn des Baurechts zu dienen bestimmt sind. Gemäß § 2 Satz 1 der Abstandsflächensatzung der Stadt K., die auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 5 Satz 2 BayBO erlassen wurde, beträgt die Abstandsfläche im Gemeindegebiet außerhalb von Gewerbe-, Kern- und Industriegebieten, festgesetzten urbanen Gebieten, abweichend von Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO 0,8 H. Nach § 2 Satz 2 der Abstandsflächensatzung genügen vor bis zu zwei Außenwänden von nicht mehr als 16 m Länge 0,4 H, mindestens jedoch 3 m, wenn das Gebäude an mindestens zwei Außenwänden Satz 1 beachtet. Auch in dieser – nicht durch Gesetz geregelten – Konstellation findet die Vorschrift keine Anwendung, wenn die Abstandsflächentiefe des § 2 Satz 1 der Abstandsflächensatzung vor mehr als zwei Außenwänden unterschritten wird (vgl. BayVGH, B.v. 17.4.2000 – GrS 1/1999 – 14 BV 97.2901 – BayVBl 2000, 562 zu Art. 6 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 BayBO i.d.F. der Bekanntmachung vom 4. August 1997). Das Bauvorhaben nimmt an der östlichen – an das Grundstück der Antragsteller angrenzenden – Seite und an der Südseite das sog. 16-m-Privileg (teilweise) in Anspruch, auf der West- und Nordseite wird die Abstandsflächentiefe von 0,8 H in Anspruch genommen.
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Grundsätzlich kann eine Verkürzung der Abstandsflächentiefe nur den Nachbarn in seinen Rechten verletzen, dessen Grundstück der betreffenden Außenwand gegenüberliegt (vgl. BayVGH, U.v. 29.10.2015 – 2 B 15.1431 – BayVBl 2016, 414). Die Abstandsflächen werden zum Grundstück der Antragsteller mit der verkürzten Abstandsflächentiefe von 0,4 H unstreitig eingehalten. Wird dem Nachbarn gegenüber das 16-m-Privileg angewendet, kann er darüber hinaus auch geltend machen, dass das Erfordernis der Einhaltung der vollen Abstandsflächen an zwei weiteren Gebäudeseiten nicht erfüllt sei (vgl. BayVGH, B.v. 17.4.2000 a.a.O.).
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Soweit die Antragsteller im Hinblick auf die allein streitige Nordseite die fehlende Einhaltung der Abstandsflächen rügen, weil die Abstandsflächen teilweise über die nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO angeführte Mitte der Straßenbreite hinausgehen und das Bauvorhaben im Hinblick auf die fehlende Verweisung in Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO auf Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO jedenfalls nicht ohne Abstandsflächenübernahme die gesamte Straßenbreite in Anspruch nehmen könne, kann dahinstehen, ob eine dahingehende Abweichung erforderlich ist. Denn unabhängig davon, dass es sich nach den zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts bei den jeweils an die Straße angrenzenden Grundstücken um ein Buchgrundstück mit identischer Flurnummer und damit um ein Grundstück im Rechtssinn (vgl. Molodovsky/Famers/Waldmann, BayBO, Stand Februar 2022, Art. 4 Rn. 12) handelt, nicht aber um ein angrenzendes rechtlich selbständiges Grundstück der Beigeladenen bzw. eines Dritten und die Begünstigung sich bereits aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO ergibt, ist dieser nördliche Grundstücksteil im maßgeblichen Bereich nach der Darstellung in BayernAtlas aufgrund seiner geringen Größe tatsächlich nicht überbaubar im Sinn von Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO. Eine abstandsflächenrelevante Bebauung ist aufgrund des (auch) nach der Abstandsflächensatzung einzuhaltenden Mindestabstands von 3 m im Hinblick auf die geringe Breite im östlichen Bereich von nur ca. 2,60 m und der topografischen Besonderheit des nördlich angrenzenden Grabens nicht nur gegenwärtig, sondern auf absehbare Zeit nicht möglich (vgl. BayVGH, U.v. 15.5.2006 – 1 B 04.1893 – BayVBl 2007, 467). Es fehlt daher nicht an der an der Nordseite erforderlichen Abstandsfläche von 0,8 H. Schutzwürdige Interessen anderer stehen der Inanspruchnahme der gesamten Straßenbreite nicht entgegen.
12
Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aufgrund der Nichtberücksichtigung der von den Beigeladenen geplanten Grundstücksabtretung zur Straßenverbreiterung. Die Beschwerdebegründung wendet sich gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass keine Verletzung drittschützender Rechte der Antragsteller vorliege, weil sie als Nachbarn aus einem möglicherweise fehlenden allgemeinen oder besonderen Sachbescheidungsinteresse keine Rechte herleiten können (vgl. BVerwG, B.v. 28.2.1990 – 4 B 32.90 – juris Rn. 8; BayVGH, V.v. 11.2.2022 – 15 ZB 22.251 – juris Rn. 7) noch sich etwas anderes aus Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 BayBO ergebe (vgl. BayVGH, B.v. 20.5.2018 – 2 B 18.681 – BayVBl 2019, 416). Soweit die Beschwerdebegründung darauf abstellt, dass dabei unberücksichtigt geblieben sei, dass es vorliegend nicht um die Verletzung ihrer privaten Rechte gehe, die zutreffend im Baugenehmigungsverfahren nicht zu berücksichtigen seien, sondern darum, dass das Landratsamt, das sich wissentlich über drittschützende und absehbare künftige nachteilige Entwicklungen hinweggesetzt habe, zu ihren Gunsten verpflichtet gewesen wäre, das Sachbescheidungsinteresse zu verneinen, weil die Baugenehmigung für die Beigeladenen aufgrund vorhersehbarer Nachbarverletzung unbrauchbar werde, kann diese Frage in der vorliegenden Fallkonstellation offen bleiben. Denn auch bei einer Verschiebung der Grundstücksgrenze nach Süden erstrecken sich die erforderlichen Abstandsflächen weiterhin (teilweise) auf die öffentliche Verkehrsfläche; sie nehmen lediglich einen größeren Teil der Straßenfläche ein. Da nach den vorstehenden Ausführungen hier die Möglichkeit der Überschreitung der Straßenmitte besteht, ergibt sich auch bei dieser Fallgestaltung keine abweichende abstandsflächenrechtliche Beurteilung.
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Geht man weiter davon aus, dass die Antragsteller auch rügen können, dass an der zweiten Seite, an der das 16-m-Privileg in Anspruch genommen wird, eine erforderliche Abstandsflächentiefe von hier 0,8 H nicht eingehalten wird (für eine dort zugelassene Abweichung verneinend vgl. BayVGH, B.v. 10.7.2006 – 1 CS 06.983 – juris Rn. 16), können sich die Antragsteller nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die Abstandsflächentiefe nicht eingehalten wird, weil die (zweite) Anwendung des 16-m-Privilegs auf Außenwand(teil) strecken und damit die Aufspaltung einer durchgängigen Außenwand von mehr als 16 m nicht in Betracht komme.
14
In der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist geklärt, dass die Länge der Außenwand im Sinn von Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO a.F. nicht die „tatsächliche Länge“ meint, sondern die „abstandsrelevante Länge“ (vgl. BayVGH, B.v. 21.4.1986 – GrS 1/85 – 15 B 84 A.2534 – BayVBl 1986, 397; B.v. 15.3.2011 – 15 CS 11.9 – juris Rn. 30). Nicht geklärt hat der Große Senat, ob diese abstandsflächenrelevante Betrachtungsweise auch bei nicht gegliederten Außenwänden Anwendung findet. Allerdings kann der Bauherr nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs nicht nur frei entscheiden, auf welchen Gebäudeseiten das 16-m-Privileg zur Anwendung kommen soll, sondern auch, vor welchen Wandabschnitten einer mehr als 16 m langen Gebäudeseite die verkürzte Abstandsfläche liegen soll (BayVGH. B.v. 5.2.2009 – 1 ZB 08.910 – juris Leitsatz; B.v. 23.2.2007 – 1 CS 06.3219 – juris Rn. 33). Letzteres gilt nicht nur für eine Gebäudeseite, bei der die Wand durch Vor- und Rücksprünge bzw. durch unterschiedliche Wandhöhen gegliedert ist, sondern auch für eine ungegliederte Wand, die einer unregelmäßig, das heißt nicht parallel zur Wand verlaufenden Grundstücksgrenze gegenüberliegt. Entsprechendes gilt, wenn die Grenze zwar parallel zur Wand verläuft, aber infolge einer Abstandsflächenübernahme überschritten werden darf (vgl. BayVGH, B.v. 25.2.2021 – 15 CE 21.145 – juris Rn. 14; B.v. 5.2.2009 a.a.O.; B.v. 23.2.2007 a.a.O. m.w.N.; Hahn in Busse/Kraus, BayBO, Stand Dezember 2024, Art. 6 Rn. 351). Denn durch die Abstandsflächenübernahme wird erreicht, dass die Abstandsflächentiefe – anders als bei einer Abweichung – nicht bis zur Grundstücksgrenze verkürzt wird, sondern in ihrer vollen Tiefe erhalten bleibt. Nach der gebotenen summarischen Prüfung kann hier nichts Anderes gelten, weil die Verkürzung der Abstandsflächen nach dem Abstandsflächenplan für die ersten – von West nach Ost gemessenen – 16 m beansprucht wird, während für die verbleibenden 0,75 m die volle Abstandsflächentiefe von 0,8 H angesetzt wurde.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, dass die Beigeladenen, die keinen Antrag gestellt haben, ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr.1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Streitwert, gegen den keine Einwendungen erhoben wurde.
16
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.