Titel:
Chancen-Aufenthaltsrecht, Dublin-Verfahren, Überstellungsfrist, Recht auf Verbleib
Normenketten:
AufenthG § 104c Abs. 1
AsylG § 67 Abs. 1 S. 1 Nr. 5
Asylverfahrens-RL 2013/32/EU Art. 9
Aufnahme-RL 2013/33/EU Art. 6
Schlagworte:
Chancen-Aufenthaltsrecht, Dublin-Verfahren, Überstellungsfrist, Recht auf Verbleib
Vorinstanz:
VG Regensburg vom 04.11.2024 – RN 9 K 24.1310
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstelle:
BeckRS 2025, 12421
Tenor
I.Das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 4. November 2024 wird abgeändert. Der Bescheid des Landratsamts ****** vom 6. Mai 2024 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG zu erteilen.
II.Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III.Die Entscheidung ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV.Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1
In der Sache geht es um die Erteilung eines Chancenaufenthaltsrechts für den 1998 geborenen Kläger. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger den stichtagsbezogenen ununterbrochenen fünfjährigen Voraufenthalt erfüllt.
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Der Kläger ist ein ehemaliger Asylbewerber aus Sierra Leone, dessen am 3. August 2017 in Deutschland gestellter Asylantrag mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 8. September 2017 im sogenannten Dublin-Verfahren als unzulässig abgelehnt wurde. Zugleich wurde die Abschiebung nach Italien angeordnet. Nach Eintritt der Bestandskraft dieses Bescheids stellte die damals zuständige Ausländerbehörde am 12. Oktober 2017 einen Antrag auf Luftabschiebung nach Italien. Am 4. Dezember 2017 wurde die Luftabschiebung für den 23. Februar 2018 genehmigt und am 18. Januar 2018 ein Laissezpasser für den Kläger ausgestellt. Die geplante Abschiebung musste jedoch wegen einer im AnkERzentrum … verhängten Windpockensperre (bis 26.2.2018) storniert werden. Dasselbe passierte mit einer nach erneuter Stellung eines Schubantrags vom 8. Februar 2018 am 13. Februar 2018 genehmigten und für den 27. Februar 2018 geplanten Abschiebung, da die Windpockensperre bis zum 2. März verlängert wurde. Wegen Ablaufs der Überstellungsfrist am 28. Februar 2018 wurde die Abschiebung anschließend nicht weiter betrieben, der Dublin-Bescheid aufgehoben, der Kläger ins nationale Verfahren übernommen und ihm erneut eine Aufenthaltsgestattung ausgestellt. Seit rechtskräftig negativem Abschluss des nationalen Asylverfahrens am 5. Februar 2020 wurde dem Kläger erstmals am 12. Juni 2020 eine Duldung gem. § 60b AufenthG für Personen mit ungeklärter Identität erteilt und fortlaufend verlängert.
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Der am 11. Januar 2023 gestellte Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG wurde mit Bescheid des Landratsamts … vom 6. Mai 2024 mit der Begründung abgelehnt, dass die (erste, am 3.8.2017 erteilte) Aufenthaltsgestattung mit der Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung (§ 34a AsylG) gemäß § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG erloschen sei, die Abschiebung möglich gewesen und auch versucht worden sei. Die für den 23. Februar 2018 vorgesehene Luftabschiebung hätte zeitnah abgeschlossen werden können und habe nur wegen des Windpockenausbruchs in der Unterkunft des Klägers nicht durchgeführt werden können. Vom Zeitpunkt der Stellung des Schubantrags vom 12. Oktober 2017 bis zum letzten Stornierungszeitpunkt wegen Ablaufs der Überstellungsfrist am 28 Februar 2018 habe damit kein Duldungsanspruch bestanden, sodass das Erfordernis des fünfjährigen ununterbrochenen Aufenthalts mit Duldung, Aufenthaltsgestattung oder Erlaubnis zum Stichtag 31. Oktober 2022 nicht erfüllt sei.
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Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Klage erhoben und diese im Wesentlichen damit begründet, dass sein Duldungsanspruch nicht durch die geplanten Abschiebungsversuche erloschen sei. Die für den 23. und 27. Februar 2018 geplanten Abschiebungen seien wegen der Windpockensperre in der Unterkunft tatsächlich nicht möglich gewesen, sodass sich die Überstellungsversuche des Beklagten im Nachhinein als „untauglich“ dargestellt hätten und ein Vollstreckungshindernis vorgelegen hätte. In der Rückschau wäre eigentlich eine Duldung zu erteilen gewesen, die gescheiterte Rückführung wegen der Windpockensperre habe der Kläger nicht zu verschulden gehabt. Auch ohne das Innehaben einer Duldungsbescheinigung hätte der Kläger den Status „geduldet“ gehabt.
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Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 4. November 2024 abgewiesen. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, dass der Kläger die erforderliche Aufenthaltszeit von fünf Jahren zum maßgeblichen Stichtag des 31. Oktober 2022 nicht erfülle, da mit der ab 17. September 2017 vollziehbaren Abschiebungsandrohung im Dublin-Verfahren seine Aufenthaltsgestattung gem. § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG erloschen sei und er – bis zur Wiedererteilung einer Aufenthaltsgestattung nach Übernahme ins nationale Verfahren – in der Folge nicht durchgängig geduldet gewesen sei bzw. einen materiellen Duldungsanspruch wegen tatsächlicher oder rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gehabt habe. Im Zeitraum 12. Oktober 2017 (Stellung des ersten Schubantrags) bis 8. Februar 2018 (1. Stornierung aufgrund Windpockensperre) sei ein materieller Duldungsanspruch zu verneinen. Jedenfalls ab Ausstellung des Laissezpasser am 18. Januar 2018 wäre eine Überstellung des Klägers auch möglich gewesen, sodass es dem Kläger schon aus diesem Grund nicht möglich gewesen wäre, die notwendige Voraufenthaltszeit zum 31. Oktober 2022 zu erfüllten. Auf den Umstand, dass eine Abschiebung wegen der Windpockensperre vom 8. Februar 2018 bis zum Ablauf der Überstellungsfrist tatsächlich nicht möglich gewesen sei, komme es daneben nicht an. Die Unterbrechung des Aufenthaltsstatus sei für § 104c AufenthG von maßgeblicher Relevanz.
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Zur Begründung seiner vom Senat mit Beschluss vom 28. Januar 2025 wegen besonderer rechtlicher Schwierigkeiten zugelassenen Berufung führt der Kläger in erster Linie aus, seine ununterbrochene Aufenthaltszeit ergebe sich aus einem europäischen Bleiberecht, welches er als Antragsteller im Rahmen des Dublin-Verfahrens habe. Dies ergebe sich zwar nicht unmittelbar aus der Dublin-III-Verordnung, aber aus Art. 9 der Asylverfahrens-RL 2013/32 (Asylverfahrens-RL). Die Richtlinie gehe von einem Recht auf Verbleib aus, bis materiell über den Asylantrag entschieden worden sei. Dabei gehe es also nicht um eine Entscheidung in der Frage der Zuständigkeit, wie aus dem Wortlaut der Regelung des Art. 9 Abs. 1 der Asylverfahrens-RL mit seinem Bezug auf das Kapitel III deutlich werde. Hierzu verweist er auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 14. Januar 2021 (C-322/19 – juris Rn. 63 bis 67).
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Davon ausgehend stellt der Kläger fest, dass der Zeitraum zwischen der Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung und dem Ablauf der Überstellungsfrist nicht europarechtskonform geregelt sei. In Art. 9 Abs. 1 der Asylverfahrens-RL sei nicht geregelt, welche Ausgestaltung das Bleiberecht haben solle. Es werde lediglich bestimmt, dass es sich nicht um eine Aufenthaltserlaubnis handeln müsse. Aufgrund des Bleiberechts bis zu einer materiellen Entscheidung im Asylverfahren sei es deshalb naheliegend, sich im nationalen Recht in solchen Fällen der Aufenthaltsgestattung zu bedienen.
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den Beklagten unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Regensburg und unter Aufhebung des Bescheids des Landratsamts … vom 6. Mai 2024 zu verpflichten, ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG zu erteilen; hilfsweise über den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu entscheiden.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er verteidigt das angefochtene Urteil. Zur Begründung verweist er zunächst auf sein Vorbringen im Zulassungsverfahren.
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Die Beteiligten haben übereinstimmend auf eine mündliche Verhandlung verzichtet.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen sowie die vorgelegten Behördenakten.
Entscheidungsgründe
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Über die Berufung entscheidet der Senat mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 125 Abs. 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung.
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Die zulässige Berufung ist begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104c Abs. 1 AufenthG. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 6. Mai 2024 ist daher rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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1. Gemäß § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG soll einem geduldeten Ausländer abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1, 1a und 4 sowie § 5 Abs. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich am 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat, er sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennt und nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, oder Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht, die nicht auf Jugendstrafe lauten, grundsätzlich außer Betracht bleiben.
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Streitig ist von den tatbestandlichen Voraussetzungen allein, ob der Kläger die erforderliche Voraufenthaltszeit eines fünfjährigen, ununterbrochen geduldeten, gestatteten oder erlaubten Aufenthaltes im Bundesgebiet zum Stichtag 31. Oktober 2022 erfüllt. Konkret geht es um den Zeitraum vom 1. November 2017 bis zum 28. Februar 2018, in dem der Kläger nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, einer Duldungsbescheinigung oder einer Bescheinigung über die Aufenthaltsgestattung war.
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Der Kläger konnte sich in diesem Zeitraum (1.11.2017 – 28.2.2018) jedoch auf das unionsrechtliche Bleiberecht nach Art. 9 Abs. 1 Satz 1 der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (künftig: Asylverfahrens-RL) berufen (1.1). Damit kollidiert die nationale Bestimmung des § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG, wonach die Aufenthaltsgestattung mit der Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG (also der Ziffer 3 des Dublin-Bescheids) erlischt. Infolge dessen ist § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unanwendbar. In der Konsequenz dessen war der Aufenthalt des Klägers damit über den Zeitpunkt der Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung hinaus bis zum Ablauf der Überstellungsfrist und Übergang der Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens auf Deutschland weiter gestattet (1.2). Die entsprechende Aufenthaltszeit ist als Voraufenthalt im Rahmen des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG anzurechnen (1.3). Des Weiteren liegt kein atypischer Fall im Sinne des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG vor, weshalb eine Verpflichtung des Beklagten lediglich zur Verbescheidung des klägerischen Antrags und Klageabweisung im Übrigen nicht in Betracht kommt (1.4).
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1.1 Dem Kläger stand im fraglichen Zeitraum ein unionsrechtliches Bleiberecht zu, welches infolge des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts (vgl. schon EuGH, U.v. 15.7.1964 – Rs. 6/64, Costa/E.N.E.L. – juris) dazu führte, dass die Aufenthaltsgestattung bis zum Ablauf der Überstellungsfrist fortbestand.
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Der Senat hat berücksichtigt, dass § 104c AufenthG nicht unionsrechtlich determiniert ist. Das Chancen-Aufenthaltsrecht soll Menschen, die sich seit längerem in Deutschland aufgehalten und hier ihr Lebensumfeld gefunden haben, eine aufenthaltsrechtliche Perspektive eröffnen, indem ihr Aufenthalt „auf Bewährung“ legalisiert und ihnen die Chance eingeräumt wird, in der „Bewährungszeit“ die notwendigen Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland entweder auf Grundlage von § 25a oder § 25b zu schaffen (BT-Drs. 20/3717, 1). Letztlich baut § 104c AufenthG die Brücke für solche Personen, die die Voraussetzungen der §§ 25a, 25b noch nicht erfüllen, sie aber prognostisch innerhalb von 18 Monaten erfüllen können (Kabis in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 104c AufenthG Rn. 3). Ein unmittelbarer Bezug zu Unionsrecht besteht nicht.
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Aber auch wenn § 104c AufenthG nicht unionsrechtlich determiniert ist, wird die tatbestandliche Voraussetzung „Aufenthaltsgestattung“ durch unionsrechtliche Vorgaben – hier in erster Linie durch Art. 9 Abs. 1 Satz 1 der Asylverfahrens-RL – beeinflusst bzw. bestimmt. In solchen Fällen ist die Auslegung des nationalen Rechts im Einklang mit den Zielen und Vorgaben des Unionsrechts vorzunehmen, auch wenn – wie hier – § 104c AufenthG nur mittelbar durch Unionsrecht beeinflusst ist.
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Danach gilt Folgendes:
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1.1.1 Die Asylverfahrens-RL findet grundsätzlich auch auf das Verfahren nach der Dublin-III-Verordnung Anwendung, weil in deren Erwägungsgrund 12 bestimmt ist, dass die Verfahrensregelungen der Asylverfahrens-RL „zusätzlich und unbeschadet“ der Verfahrensgrundsätze der Verordnung, aber „vorbehaltlich der Beschränkungen ihrer Anwendung“ anwendbar sind.
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1.1.2 Gemäß Art. 9 Abs. 1 Satz 1 der Asylverfahrens-RL dürfen Antragsteller ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens so lange im Mitgliedstaat verbleiben, bis die Asylbehörde auf der Grundlage der in Kapitel III der Asylverfahrens-RL genannten erstinstanzlichen Verfahren über den Antrag entschieden hat.
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Die Begriffe „Antragsteller“ und „Verbleib im Mitgliedstaat“ sind in der Asylverfahrens-RL definiert. „Antragsteller“ ist ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch keine bestandskräftige Entscheidung ergangen ist (Art. 2 Buchst. c) der Asylverfahrens-RL). „Verbleib im Mitgliedstaat“ ist der „Verbleib im Hoheitsgebiet … des Mitgliedstaates, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde oder geprüft wird“ (Art. 2 Buchst. p) der Asylverfahrens-RL).
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Die im Rahmen des Begriffs „Antragsteller“ genannte „bestandskräftige Entscheidung“ ist nach Art. 2 Buchst. e) der Asylverfahrens-RL die „Entscheidung darüber, ob einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gemäß der RL 2011/95/EU die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, und gegen die kein Rechtsbehelf nach Kapitel V der vorliegenden Richtlinie mehr eingelegt werden kann, unabhängig davon, ob ein solcher Rechtsbehelf zur Folge hat, dass Antragsteller sich bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten dürfe“.
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1.1.3 Aus diesen Begriffsbestimmungen ergibt sich zunächst einmal, dass das Recht auf Verbleib sowohl im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats besteht, in dem der Asylantrag geprüft wird, als auch im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem dieser Antrag gestellt wurde (s. Art. 2 Buchst. c) der Asylverfahrens-RL: „gestellt wurde oder überprüft wird“; siehe auch: EuGH, U.v. 27.9.2012 – C-179/11, Cimade und GISTI – juris LS 1 und Rn. 40 ff., insb. 47, 48).
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1.1.4 Weiter ergibt sich aus der Begriffsbestimmung des Art. 2 Buchst. e) der Asylverfahrens-RL, dass es sich bei dem Dublin-Bescheid nicht um eine bestandskräftige Entscheidung im Sinne der Asylverfahrens-RL handeln kann.
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Art. 2 Buchst. e) der Asylverfahrens-RL bezieht sich offensichtlich nur auf Entscheidungen über die Begründetheit des Antrags auf internationalen Schutz. Bei unzulässigen Anträgen gemäß Art. 33 Abs. 1 und 2 der Asylverfahrens-RL müssen die Mitgliedstaaten „nicht prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der RL 2011/95/EU zuzuerkennen ist“. Folglich erfasst der Begriff der „bestandskräftigen Entscheidung“ nach Art. 2 Buchst. e) Asylverfahrens-RL nicht die Fälle der Ablehnung eines Antrags als unzulässig ohne Sachentscheidung, wenngleich diese nach deutschem Verwaltungsverfahrensrecht der Bestandskraft fähig sind. Des Weiteren stellt die Entscheidung, mit der sich ein Mitgliedstaat gem. der Dublin-III-Verordnung für unzuständig erklärt (d.h. im nationalen Recht die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Buchst. a) AsylG), keine Unzulässigkeitsentscheidung im Sinne des Art. 33 Abs. 1 Asylverfahrens-RL dar. Die Unzuständigkeit nach der Dublin-III-Verordnung bildet insoweit keinen Unterfall der Unzulässigkeit des Asylantrags im Sinne des Art. 33 Abs. 1 Asylverfahrens-RL. Vielmehr kommt in der Regelung zum Ausdruck, dass die Unzuständigkeit des Mitgliedstaats neben den genannten Fällen der Unzulässigkeit eines Antrags einen weiteren Anwendungsfall darstellt, in welchem der Mitgliedstaat die Begründetheit des Antrags nicht prüfen muss.
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1.1.5 Des Weiteren handelt es sich bei der Überstellungsentscheidung, mithin der Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG, nicht um eine „erstinstanzliche Entscheidung“, mit der das Bleiberecht gemäß Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrens-RL endet. Es handelt sich bei dem Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nach Art. 20 ff. Dublin-III-Verordnung nicht um eines der im Kapitel III der Asylverfahrens-RL geregelten „erstinstanzlichen Verfahren“. Folglich ergeht eine Entscheidung über die Unzuständigkeit des Mitgliedstaates, in dem sich der Antragsteller aufhält, und ihr folgend eine Überstellungsentscheidung nach der Dublin-III-Verordnung nicht auf der Grundlage eines „erstinstanzlichen Verfahrens“ nach Kapitel III und beendet daher nicht das Bleiberecht nach Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrens-RL.
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1.1.6 Die Abschiebungsanordnung als Überstellungsentscheidung im Sinne der Dublin-III-Verordnung ist auch keine Rückkehrentscheidung i.S.d. Art. 3 Nr. 4, Art. 6 Rückführungs-RL, mit der die Illegalität des Aufenthaltes festgestellt wird, weshalb diese Richtlinie nicht auf Dublin-Fälle anwendbar ist (OVG SH, U.v. 25.1.2024 – 4 LB 4/23 – juris Rn. 117; hinsichtlich der Modalitäten der Überstellung: BVerwG, U.v. 17.9.2015 – 1 C 26.14 – juris Rn. 17 a.E.; Hörich, ZAR 2011, 281/284; Wittmann, ZAR 2019, 45/53 m.w.N.; offenlassend: Bender/Bethke/Dorn in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2013, § 67 AsylG Rn. 82). Dies folgt aus der Begriffsdefinition der „Rückkehr“ in Art. 3 Nr. 3 Rückführungs-RL, wobei es sich um die „Rückreise [freiwillig oder erzwungen] in das Herkunftsland, ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird“ handelt (vgl. <bezogen auf den Fall der Sekundärmigration von anerkannten Schutzberechtigten> EuGH, U.v. 24.2.2021 – C-673/19 – juris Rn. 42 ff., insb. 45; BVerwG, U.v. 19.12.2024 – 1 C 3.24 – juris Rn. 146; SächsOVG, U.v. 7.9.2022 – 5 A 153/17.A – juris Rn. 61).
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1.1.7 Auch aus der Regelung des Art. 27 Abs. 3 Buchst. c) Dublin-III-Verordnung ergibt sich nicht, dass das Bleiberecht gemäß Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrens-RL mit der Vollziehbarkeit der Überstellungsentscheidung endet. Der Bundesgesetzgeber hat mit § 34a Abs. 2 i.V.m. § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG die Regelungsoption nach Art. 27 Abs. 3 Buchst. c) Dublin-III-Verordnung gewählt (vgl. zu den optionalen Regelungsmodellen des Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-Verordnung: Bender/Bethke/Dorn in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 67 AsylG Rn. 85). Art. 27 Abs. 3 Buchst. c) Dublin-III-Verordnung schützt den jeweiligen Antragsteller aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes lediglich temporär vor einem Vollzug der Überstellungsentscheidung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf auf Aussetzung derselben und macht die aufschiebende Wirkung vom Erlass einer gerichtlichen Entscheidung über einen entsprechenden Antrag der betroffenen Person abhängig (vgl. EuGH, U.v. 13.9.2017 – C-60/16, Khir Amayry – juris Rn. 64; Bender/Bethke/Dorn a.a.O.). Bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs hat der Antragsteller das Recht, im Hoheitsgebiet des ersuchenden Mitgliedstaats (bzw. des Aufnahmestaats) zu bleiben, es handelt sich damit um eine „automatische“ Aussetzung der Überstellung (EuGH, U.v. 14.1.2021 – verb. Rs. C-322/19 u. C-385/19, KS und MHK u.a. – juris Rn. 87 f. m.w.N.). Dem trägt der Bundesgesetzgeber mit dem gesetzlichen (temporären) verfahrenssichernden Überstellungsverbot gemäß § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG Rechnung (vgl. BVerwG, B.v. 26.1.2021 – 1 C 52.20 – juris Rn. 13; U.v. 9.1.2019 – 1 C 36.18 – juris Rn. 14; U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – juris Rn. 17 mit Verweis auf EuGH, U.v. 19.6.2018 – C-181/16, Gnandi; vgl. auch BT-Drs. 18/6185 S. 35 zu § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG; Bender/Bethke/Dorn in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 67 AsylG Rn. 77; weitergehend Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Dezember 2022, § 34a AsylG Rn. 81: „eingeschränkter automatisch eintretender Suspensiveffekt“; den gegen diese Regelung vorgebrachten unionsrechtlichen Bedenken – vgl. Bender/Bethke/Dorn in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 67 AsylG Rn. 80 ff. – muss vorliegend nicht weiter nachgegangen werden).
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1.1.8 Aus den vorstehenden Ausführungen (1.1.1 bis 1.1.7) folgt somit, dass der Kläger im streitigen Zeitraum bis zum Zuständigkeitsübergang auf Deutschland das verfahrensrechtliche Bleiberecht nach Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrens-RL für sich beanspruchen konnte.
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Dieses Verständnis der Asylverfahrens-RL deckt sich auch mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der in den Verfahren Cimade und GISTI sowie KS und MHK entschieden hat, dass erst die tatsächliche Überstellung des Antragstellers durch den ersuchenden Mitgliedstaat dessen Zuständigkeit für die Gewährung der Mindestaufnahmebedingungen nach der RL 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (künftig: Aufnahme-RL) beendet (U.v. 27.9.2012 – C-179/11, Cimade und GISTI – juris Rn. 43, 48 zur Vorgänger-RL 2003/9/EG; EuGH v. 14.01.2021 – C-322/19, KS und MHK – juris Rn. 61 ff., 67 zur Anwendbarkeit des Art. 15 bzw. Art. 16 bis 18 der Aufnahme-RL 2013/33; sich anschließend: BSG, B.v. 25.7.2024 – B 8 AY 6/23 R – juris Rn. 17; aktuell hierzu: SG Karlsruhe, B.v. 19.2.2025 – S 12 AY 424/25 ER – juris Rn. 20).
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Diese Rechtsprechung ist in dem Zusammenspiel des Asylpakets II, bestehend aus Asylverfahrens-RL, Aufnahme-RL und Dublin-III-Verordnung zu verstehen. Die Mindestaufnahmebedingungen der Aufnahme-RL setzen nach deren Art. 3 Abs. 1 voraus, dass der Antragsteller ein Recht auf Verbleib hat. Das setzt denknotwendig den Fortbestand der Berechtigung zum Verbleib auch nach der Vollziehbarkeit des Dublin-Bescheids voraus. Auch der Antragstellerbegriff der Aufnahme-RL ist davon bestimmt, dass über den Antrag auf internationalen Schutz noch nicht endgültig entschieden worden ist (vgl. Art. 2 Buchst. b) der Aufnahme-RL), was nach den vorstehenden Ausführungen nicht der Fall ist.
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Die vorstehend zitierte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in den Verfahren Cimade und GISTI bzw. KS und MHK ist teils auf Kritik gestoßen. Wittmann hat in seiner Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen des Ausschusses für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages der 20. Wahlperiode am 23. September 2024 betreffend die Gesetzentwürfe zur Verbesserung der inneren Sicherheit und des Asylsystems, zur Verbesserung der Terrorismusbekämpfung und zur Begrenzung des illegalen Zustroms von Drittstaatsangehörigen nach Deutschland (Ausschuss-Drs. 20(4)493 A neu, S. 76) in Bezug auf die Streichung/Beschränkung der Leistungen für Asylsuchende mit Zuständigkeit eines anderen Staats im Dublin-System die Rechtsansicht („dürfte“) vertreten, Leistungsansprüche nach der Aufnahme-RL bestünden in Dublin-Verfahren nur bis zum Ablauf der einwöchigen Antragsfrist nach Bekanntgabe der Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG bzw. bis maximal zur Ablehnung des fristgerecht gestellten Eilrechtsschutzantrags. Eingeräumt wird jedoch, dass dieses Normverständnis „zweifellos … mit unionsrechtlichen Auslegungsfragen“ behaftet sei, allerdings ohne dies näher zu spezifizieren. Auch Daum (in ZESAR 2024, 489/490) geht davon aus, dass mit Erlöschen der Aufenthaltsgestattung nach § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG der Anwendungsbereich der Aufnahme-RL mangels Bleiberechts in Deutschland nicht mehr eröffnet sei (vgl. auch Birk in Bieritz-Harder/Conradis/Palsherm, SGB XII, 13. Auflage 2024, § 1a AsylbLG Rn. 34; SG Darmstadt, B.v. 22.7.2022 – S 16 AY 62/2 ER – juris Rn. 16). Eine Begründung hierfür lässt er freilich missen.
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Wittmann (a.a.O.) geht davon aus, dass die materiellen Ansprüche der Aufnahme-RL nur bis zum Ablauf der einwöchigen Antragsfrist des fristgerecht gestellten Eilschutzantrags bestehen. Das vermag vor dem Hintergrund der zitierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sowie der vorstehenden Ausführungen nicht zu überzeugen.
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1.1.9 Das dem Kläger gemäß Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrens-RL während der Überstellungsfrist zustehende Bleiberecht dient der verfahrensrechtlichen Absicherung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung („non-refoulement“), wonach kein Antragsteller dorthin zurückgeschickt werden darf, wo er der Verfolgung bzw. unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt ist (vgl. Art. 18, Art. 19 Abs. 2 GR-Charta i.V.m. Art. 33 des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951 i.d.F. des Protokolls vom 31.1.1967).
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Nach Art. 6 Abs. 1 Aufnahme-RL bestätigt der Mitgliedstaat, in dem sich der jeweilige Antragsteller aufhält, die Berechtigung zum Empfang der entsprechenden Leistungen im Rahmen der unionsrechtlichen Mindestaufnahmebedingungen durch eine dem Ausländer auszuhändigende Bescheinigung, welche die Antragstellereigenschaft dokumentiert. Diese Bestimmung dient dem Zweck, den rechtlichen Status des Ausländers zu klären und sicherzustellen, dass dieser Zugang zu den in der Aufnahme-RL vorgesehenen Rechten und Garantien erhält, wie etwa Unterkunft, medizinische Versorgung oder andere materielle Leistungen (vgl. Tsourdi in Thym/Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 3. Ed. 2022, Art. 6 RL 2013/33/EU) und dient daher in erster Linie dem Nachweis der Berechtigung zum Empfang der unionsrechtlichen Mindestaufnahmebedingungen. Aus dem Zusammenspiel des Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrens-RL und des Art. 6 Abs. 1 Aufnahme-RL ergibt sich ein materiell-rechtlicher Gehalt des unionsrechtlichen Bleiberechts. Die Bleibeberechtigung gem. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrens-RL endet mit der Entscheidung in einem erstinstanzlichen Verfahren nach Kapitel III der Asylverfahrens-RL, wodurch der Aufenthalt illegal wird (EuGH, U.v. 19.6.2018 – C-181/16, Gnandi – juris Rn. 41, 44; U.v. 30.5.2013 – C-534/11, Arslan – juris Rn. 48).
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1.2 Die unter 1.1. beschriebene Kollision von nationalem Recht mit Unionsrecht ist nach den Grundsätzen zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts aufzulösen. Bei einem Konflikt zwischen dem Unionsrecht und dem nationalen Recht ist es Sache des nationalen Gerichts, das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Unionsrechts auszulegen und anzuwenden; soweit eine solche unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich ist, darf es entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden (EuGH, U.v. 18.32.004 – C-8/02, Leichtle – juris Rn. 58, v. 13.7.2016 – C-187/15, Pöpperl – juris Rn. 43 ff. und zuletzt v. 24.7.2023 – C-107/23 PPU – juris Rn. 95).
42
Der Senat vermag die infolge der Regelung des § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG unionsrechtlich bestehende Regelungslücke nicht auszufüllen. Diese Entscheidung ist zuvörderst dem Gesetzgeber vorbehalten (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 19.19 – juris Rn. 44). Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrens-RL ist hinreichend bestimmt und inhaltlich unbedingt und entfaltet daher seit dem Ablauf der Umsetzungsfrist gem. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrens-RL am 20. Juli 2015 unmittelbare Wirkung (vgl. zu den Voraussetzungen: EuGH, U.v. 6.3.2014 – C-595/12, Napoli – juris Rn. 46 m.w.N.; U.v. 5.10.2004 – C-397/01, Pfeiffer u.a. – juris). Der Richtlinienvorschrift kommt somit Anwendungsvorrang gegenüber entgegenstehendem nationalen Recht zu (vgl. EuGH, U.v. 24.6.2019 – C-573/17, Poplawski – juris Leitsatz 2 und Rn. 62 ff.). Demzufolge ist § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG bis zu einer Regelung durch den Gesetzgeber nicht anwendbar (vgl. zur Verpflichtung der nationalen Gerichte, unionsrechtswidrige nationale Gesetze unangewendet zu lassen: EuGH a.a.O., Rn. 61 m.w.N.; BVerwG a.a.O., Rn. 48 m.w.N.; U.v. 18.7.2023 – 4 CN 3.22 – juris Rn. 16).
43
Dem Bundesgesetzgeber steht es frei, der Dokumentationspflicht nach Art. 6 der Aufnahme-RL (siehe 1.1.9) durch ein anderes Rechtsinstitut als eine Aufenthaltsgestattung nach § 63 AsylG Rechnung zu tragen (vgl. zu dieser Möglichkeit: Art. 6 Abs. 2 Satz 2 der Aufnahme-RL; offen gelassen von BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 1.19 – juris Rn. 20) und zwischen den Zeiten vor und nach dem Dublin-Bescheid zu differenzieren bzw. zu entscheiden, welchen Voraufenthalt er im Rahmen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG, aber auch §§ 25a und 25b AufenthG berücksichtigen möchte. Es ist dem nationalen Gesetzgeber überlassen, an welchen Aufenthaltsstatus er welche Rechte koppelt.
44
Dem Unionsrecht kann kein Anhaltspunkt dafür entnommen werden, dass den Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 Aufnahme-RL zwingend durch eine Aufenthaltsgestattung nach den §§ 55 ff. AsylG Rechnung getragen werden muss. Die genannte Richtlinienvorschrift ist gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt dem nationalen Gesetzgeber aber die Wahl der Form und der Mittel. Eine unmittelbare Wirkung des Art. 6 Abs. 1 Aufnahme-RL scheidet deshalb aus (vgl. zu den Voraussetzungen: EuGH, U.v. 6.3.2014 – C-595/12, Napoli – juris Rn. 46 m.w.N.; U.v. 5.10.2004 – C-397/01, Pfeiffer u.a. – juris). Etwas Anderes folgt nicht aus Art. 6 Abs. 4 Aufnahme-RL, wonach die Mitgliedstaaten die Maßnahmen treffen, die erforderlich sind, um den Antragstellern das in Absatz 1 genannte Dokument auszustellen, das so lange gültig sein muss, wie ihnen der Aufenthalt im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats gestattet ist. Mit „gestattet“ kann nicht die in den §§ 55 ff. AsylG geregelte Aufenthaltsgestattung des nationalen Rechts angesprochen sein, sondern nur das unionsrechtliche Bleiberecht. Der Senat teilt deshalb nicht die Auffassung, dass nur eine Aufenthaltsgestattung den entsprechenden Zugang zu den Mindestaufnahmebedingungen gewährleistet (vgl. dazu Bender/Bethke/Dorn in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 67 AsylG Rn. 86 f.). Der Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 Aufnahme-RL lässt mehrere Möglichkeiten zu, um einem Antragsteller bis zu seiner Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat unionsrechtskonforme Aufnahmebedingungen zu gewähren. Es bleibt somit einer Gestaltungsentscheidung des nationalen Gesetzgebers überlassen, wie er das unionsrechtliche Bleiberecht zur Gewährleistung des Zugangs zu den unionsrechtlichen Aufnahmebedingungen innerhalb der Überstellungsfrist bzw. bis zu deren Ablauf im Einklang mit der Systematik des nationalen Rechts umsetzt.
45
1.3 Ein „gestatteter“ Aufenthalt im Sinne des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG liegt – unabhängig von der Ausstellung einer entsprechenden Bescheinigung nach § 63 AsylG – vor, wenn die Voraussetzungen der Aufenthaltsgestattung gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 bzw. Satz 3 AsylG erfüllt sind. Die Anrechnung des streitgegenständlichen Zeitraumes als „gestatteter“ Voraufenthalt im Rahmen des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG steht auch im Einklang mit den gesetzgeberischen Zielvorstellungen. Sie trägt dem Willen des Bundesgesetzgebers Rechnung, der ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 104c AufenthG alle „ununterbrochenen Voraufenthaltszeiten (…), in denen sich der Ausländer in asyl- oder aufenthaltsrechtlichen Verfahren, also geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis (…) aufgehalten hat“ (BR-Drs. 367/22 Begr. S. 43) anrechnen wollte. Die für die Überstellung eingeräumte (in der Regel) sechsmonatige Frist ist Teil des Asylverfahrens, sodass dessen Einbeziehung vom gesetzgeberischen Willen gedeckt ist.
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1.4 Ein atypischer Fall, welcher den Beklagten auf der Rechtsfolgenseite der Norm zur Versagung des Aufenthaltstitels im Wege einer Ermessensentscheidung berechtigte (vgl. Wortlaut des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG: „soll […] erteilt werden“; BT-Drs. 20/3717, S. 44), liegt nicht vor. Eine Verpflichtung des Beklagten nur zur Neuverbescheidung des klägerischen Antrags auf Aufenthaltserlaubniserteilung gem. § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO – da der Beklagte insoweit kein Ermessen ausgeübt hätte – kommt deshalb nicht in Betracht. Für ein Absehen von der Regelfolge der Aufenthaltserlaubniserteilung müssen entweder besondere, atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, oder die Versagung des Aufenthaltstitels muss aus Gründen höherrangigen Rechts geboten sein (vgl. BVerwG, U.v. 30.4.2009 – 1 C 3.08 – juris Rn. 13 zu § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Atypische Umstände kommen in Betracht, wenn zwar formal die Erteilungsvoraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG erfüllt sind, aber der Regelungszweck erkennbar nicht erreicht werden kann, weil in der Gesamtschau die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a bzw. § 25b AufenthG augenscheinlich nicht in Betracht kommt (BayVGH, B.v. 10.10.2024 – 19 ZB 24.581 – n.v., Rn. 7 f.; OVG LSA, B.v. 1.6.2023 – 2 M 49/23 – juris Rn. 16 m.w.N.). Derartiges liegt hier nicht vor. Eine freiwillige Ausreise des Klägers innerhalb der Überstellungsfrist war nicht ohne die erforderlichen Abstimmungen zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten möglich. Das Dublin-Überstellungssystem kennt das Institut der freiwilligen Ausreise nicht. Auch bei einer Überstellung auf Initiative des Antragstellers nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a) der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 vom 2. September 2003 (Dublin-Durchführungsverordnung, ABl EG Nr. L 222 S. 3) handelt es sich um eine staatlich überwachte Ausreise, die hinsichtlich der Orts- und Terminabstimmung der behördlichen Organisation bedarf (BVerwG, U.v. 17.8.2021 – 1 C 26.20 – juris Rn. 22; U.v. 17.9.2015 – 1 C 26.14 – juris Rn. 17 f.). Im Ausnahmefall ist zwar aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine Überstellung ohne Verwaltungszwang zu ermöglichen, wenn gesichert erscheint, dass der Antragsteller sich freiwillig in den zuständigen Mitgliedstaat begibt und sich dort fristgerecht bei der zuständigen Behörde meldet (BVerwG, U.v. 17.9.2015 a.a.O., Rn. 17 ff.; U.v. 17.8.2021a.a.O., Rn. 22). Die Überstellung ist jedoch nicht mit der Ausreise des Ausländers, sondern erst mit dessen Eintreffen bei der zuständigen Behörde (des zuständigen Mitgliedstaats) vollzogen. Bis zu diesem Zeitpunkt läuft die Überstellungsfrist. Eine freiwillige Ausreise im Sinne des Art. 7 Rückführungs-RL vermag auch den von den Dublin-Regelungen erstrebten Übergang der Verantwortlichkeit auf den zuständigen Mitgliedstaat nicht zu begründen (BVerwG, U.v. 17.9.2015 a.a.O., Rn. 18). Jedenfalls unter diesen Umständen begründet die seitens des Klägers nicht bekundete Bereitschaft zur überwachten Ausreise gemäß Art. 7 Buchst. a) Dublin-Durchführungsverordnung keinen atypischen Ausnahmefall.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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3. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.
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4. Die Revision ist zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Grundsätzlicher Klärungsbedarf besteht hinsichtlich der Rechtsfrage, ob das unionsrechtliche Bleiberecht einem Antragsteller auf internationalen Schutz nach dem Eintritt der Vollziehbarkeit einer Überstellungsentscheidung bis zum Zuständigkeitsübergang wegen Fristablaufs nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-Verordnung einen im Rahmen der Stichtagsregelung nach § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG anrechnungsfähigen gestatteten, geduldeten oder erlaubten Voraufenthalt vermittelt. Zwar handelt es sich bei der Anspruchsgrundlage des § 104c Abs. 1 AufenthG um auslaufendes Recht, weil die Geltungsdauer der Norm befristet ist (vgl. § 104c AufenthG in der ab 31.12.2025 geltenden Fassung). Die aufgeworfene Rechtsfrage hat aber ebenso im Rahmen der Erteilungsvoraussetzungen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a bzw. § 25b AufenthG und damit für eine Vielzahl von Verfahren Bedeutung.