Titel:
Kostenbeitrag aus Einkommen, Rechtmäßigkeit der Maßnahme, Unterbringung in Berufsbildungswerk, Hilfe für junge Volljährige, Kostenerstattungsanspruch gegen Bundesarbeitsagentur, Schwerpunkt der Leistung, Aufklärung über die Folgen der Leistungsgewährung, Begriff des Ruhens
Normenketten:
SGB VIII § 92
SGB VIII § 10
Schlagworte:
Kostenbeitrag aus Einkommen, Rechtmäßigkeit der Maßnahme, Unterbringung in Berufsbildungswerk, Hilfe für junge Volljährige, Kostenerstattungsanspruch gegen Bundesarbeitsagentur, Schwerpunkt der Leistung, Aufklärung über die Folgen der Leistungsgewährung, Begriff des Ruhens
Fundstelle:
BeckRS 2025, 1237
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen den Kostenbeitragsbescheid des Beklagten vom 15. Mai 2019, mit welchem er zur Zahlung eines monatlichen Kostenbeitrags aus Einkommen in Höhe von 725,00 EUR ab 1. Januar 2019 für stationäre Jugendhilfemaßnahmen für seinen volljährigen Sohn A. verpflichtet wurde.
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Der Kläger ist der Vater des am 14. August 1998 geborenen Leistungsempfängers A.
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A. wurde am 31. Oktober 2016 wegen gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Er stellte erstmals am 9. Mai 2017 bei dem Beklagten einen Antrag auf Hilfe für junge Volljährige in Form der stationären Unterbringung in einer Einrichtung des Berufsbildungswerkes St. F.
4
Mit Schreiben vom 14. August 2017 informierte der Beklagte den Kläger über seine Kostenbeitragspflicht. Insbesondere waren nachfolgende Hinweise enthalten:
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„Welche Auswirkungen hat der Kostenbeitrag auf Unterhaltszahlungen?
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Auch wenn der Unterhalt von A. durch die Jugendhilfe sichergestellt ist, müssen Sie sich durch einen Kostenbeitrag beteiligen. Der Unterhaltsanspruch Ihres Sohnes ruht während der Zeit in der wir Jugendhilfe leisten. Bei der Berechnung des Kostenbeitrags berücksichtigen wir, ob Sie noch weiteren Unterhaltsverpflichtungen nachkommen.“
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Mit Beschluss des Amtsgerichts L. vom 18. August 2017 (Az.: VRJs 97/17) wurde der Rest der Jugendstrafe von A. zur Bewährung ausgesetzt und A. am 21. August 2017 in das Berufsbildungswerk St. F entlassen. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt.
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Mit Bescheid vom 11. August 2017 gewährte der Beklagte gegenüber A. ab 21. August 2017 Hilfe für junge Volljährige in Form der Kostenübernahme für die stationäre Unterbringung im Berufsbildungswerk St. F. Mit bestandskräftigem Kostenbeitragsbescheid aus Einkommen vom 8. Januar 2018 wurde der Kläger von dem Beklagten zu einem Kostenbeitrag ab 21. August 2017 i.H.v. 725,00 EUR monatlich verpflichtet.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass A. Hilfe für junge Volljährige erhalte. Diese würde durchschnittlich monatlich 5.200,00 EUR kosten. Der Bescheid gelte auch ab 1. Januar 2018 als vorläufiger Bescheid weiter, bis Einkommensnachweise für das Jahr 2017 vorlägen. Mit Schreiben vom 5. Februar 2019 teilte der Kläger dem Beklagten mit, dass sich seine Einkommensverhältnisse in 2018 gegenüber 2017 nicht wesentlich geändert hätten. Zudem teilte er mit, dass er bereits vorsorglich gegen einen Kostenbeitrag nach dem 21. Geburtstag des A. Widerspruch einlege.
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Mit Bescheid des Beklagten vom 21. August 2018 wurde die Hilfe für junge Volljährige für A. bis zum 13. August 2019 verlängert.
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Mit Schreiben vom 8. Januar 2019 wurde der Kläger durch den Beklagten aufgefordert, zur Berechnung des Kostenbeitrags zu der vollstationären Hilfe für A. für das Kalenderjahr 2019 die Einkommensverhältnisse im Jahr 2018 darzulegen.
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In einem Entwicklungsbericht vom 15. Februar 2019 hielt eine Fachkraft des Berufsbildungswerks St. F. zu A. fest, dass der Berichtszeitraum August 2018 bis Februar 2019 als überaus positiv bewertet werde. Die psychische Verfassung von A. könne als befriedigend bezeichnet werden. Die wöchentlichen Therapietermine würden A. merklich unterstützen und er könne diese Hilfe auch gut annehmen. Die derzeitigen Rahmenbedingungen seien angemessen, nachweislich zielführend und unbedingt weiterhin erforderlich für einen erfolgreichen Ausbildungsverlauf, eine positive Persönlichkeitsentwicklung sowie zur Vorbereitung auf die Verselbständigung. Als Ziele wurden die Stabilisierung und Steigerung der psychischen Belastbarkeit, der Erhalt der guten fachlichen und schulischen Leistungen, die erfolgreiche Absolvierung der verzahnten Ausbildung, eine weitere Verselbständigung und die angemessene Bewältigung unvorhergesehener, belastender Situationen festgehalten; als weitere Maßnahmen werden die Fortführung der ambulanten Therapie und ab August 2019 die Teilnahme am Absolventenmanagement genannt.
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Mit streitgegenständlichem Kostenbeitragsbescheid vom 15. Mai 2019 setzte der Beklagte ab 1. Januar 2019 einen Kostenbeitrag des Klägers aus dem Einkommen i.H.v. 725,00 EUR monatlich fest. Der Bescheid gelte auch ab 1. Januar 2020 solange als vorläufiger Bescheid weiter, bis Nachweise über das erzielte Einkommen für das Jahr 2019 vorlägen.
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In einem internen Vermerk des Beklagten vom 27. Mai 2019 wurde festgehalten, dass A. im Berufsbildungswerk St. F. untergebracht sei, wo er eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner absolviere. Sein Verhalten, seine Leistungsbereitschaft, seine Noten usw. seien vorbildlich. Die Ausbildung werde noch bis Juli 2020 andauern. Zwischenzeitlich mache A. eine „Vollausbildung (Gesellenausbildung)“. Den zusätzlichen Druck bewältige er gut, er erbringe hervorragende Leistungen. Seine Bezugspädagogin gebe an, dass A. sich ihr gegenüber zwischenzeitlich viel mehr öffnen könne, Probleme nicht mehr nur mit sich alleine ausmache und sich auch in therapeutische Behandlung begeben habe, um seine eigenen Themen loszulassen bzw. zu bewältigen. Aus pädagogischer Sicht sei es für A. dringend erforderlich, seine Ausbildung abschließen zu können und ihm somit eine Zukunftsperspektive zu ermöglichen. Eine weitere Finanzierung des Wohnumfelds durch den Fachbereich des Beklagten sei weiterhin erforderlich, die Kosten der Ausbildung übernehme weiterhin die Agentur für Arbeit.
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Mit Bewilligungsbescheid vom 29. Mai 2017 verlängerte der Beklagte die Hilfe für junge Volljährige für A. „längstens bis zum 31. Juli 2020“.
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Mit Schreiben vom 29. Mai 2019 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass A. ab 14. August 2018 bis zum 31. Juli 2020 stationäre Jugendhilfe in Form von Hilfe für junge Volljährige erhalte.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 11. Oktober 2019 wies die Widerspruchsbehörde den Widerspruch des Klägers vom 4. Juni 2019 als unbegründet zurück.
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Mit Schriftsatz vom 11. November 2019 ließ der Kläger durch seinen Bevollmächtigten Klage zum Verwaltungsgericht München mit dem Antrag erheben,
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den Bescheid des Beklagten vom 15. Mai 2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 11. Oktober 2019 aufzuheben.
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Zur Begründung wurde mit Schriftsätzen vom 7. Mai 2020, 13. Oktober 2020, 13. August 2024 sowie 22. Oktober 2024 im Wesentlichen vorgetragen, dass die Bundesagentur für Arbeit für die Unterbringung des Sohnes des Klägers im Berufsbildungswerk St. F. zuständig gewesen sei, da es sich um eine Leistung der Arbeitsförderung handle, die den Leistungen der Jugendhilfe vorgehe (§§ 10 Abs. 1 SGB VIII, §§ 59 ff. SGB III). A. sei seelisch behindert i.S.d. § 35a SGB VIII. Es werde auf das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 17. Juli 2019 (M 18 K 17.2523) verwiesen. Der Beklagte habe einen Erstattungsanspruch gegen die Bundesagentur für Arbeit, welcher vorrangig geltend zu machen sei und dem Kostenbeitrag daher entgegenstehe.
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Mit Schriftsatz vom 11. Februar 2020 erwiderte der Beklagte auf die Klage und beantragte,
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Zur Begründung wurde (ergänzend mit Schriftsätzen vom 24. August 2020 sowie 17. Oktober 2024) insbesondere ausgeführt, dass die Hilfe für A. gewährt worden sei, um ihm bei seiner Entwicklung zu helfen und eine schrittweise Verselbständigung zu erreichen. Der Kostenbeitrag sei rechtmäßig erhoben worden. Es habe ein Anspruch des A. auch über das 21. Lebensjahr hinaus bestanden. Weder gegenüber der Bundesagentur für Arbeit noch gegenüber dem Bezirk O. bestünden Kostenerstattungsansprüche des Beklagten. A. sei nicht behindert im Sinne des § 19 SGB III bzw. i.S.d. § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX. Der Kostenbeitragsbescheid sei auch im Übrigen rechtmäßig.
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Nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung zum 7. Juli 2020 wurde die Jugendhilfe für A. beendet.
25
Der Beklagte erklärte mit Schriftsatz vom 8. August 2024 und der Kläger mit Schriftsatz vom 13. August 2024 das Einverständnis mit einer Entscheidung des Gerichts ohne mündliche Verhandlung.
26
Auf das Hinweisschreiben des Gerichts vom 9. Dezember 2024 zur Frage der ausreichenden Aufklärung des Klägers hinsichtlich der unterhaltsrechtlichen Folgen im Sinne des § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII nahmen die Beteiligten ergänzend schriftsätzlich Stellung.
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Hinsichtlich der weitere Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
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Die zulässige Klage ist nicht begründet.
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Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten vom 15. Mai 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. Oktober 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
31
Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist für die vorliegende Anfechtungsklage der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, ebenso ist auf die zum damaligen Zeitpunkt geltende Rechtslage abzustellen.
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Rechtsgrundlage für die Erhebung eines Kostenbeitrags aus dem Einkommen für die A. gewährte Hilfe für junge Volljährige in Form der vollstationären Unterbringung im Berufsbildungswerk St. F. ist § 91 Abs. 1 Nr. 8 i.V.m. Nr. 5 Buchst. b SGB VIII. Als Vater und Elternteil von A. ist der Kläger gemäß § 92 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII in der Fassung vom 29. August 2013 (im Folgenden a.F.) kostenbeitragspflichtig.
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Der Kläger wurde hinreichend über die Folgen des Kostenbeitrags für seine Unterhaltspflicht gegenüber A. gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII a.F. aufgeklärt.
34
Bei der Mitteilung der Leistungsgewährung und der Aufklärung über die unterhaltsrechtlichen Folgen gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII handelt es sich um eine materiell-rechtliche Tatbestandsvoraussetzung der Kostenbeitragserhebung, die das Gericht von Amts wegen zu prüfen hat. Die Erhebung des Kostenbeitrags ist erst ab dem Zeitpunkt der Aufklärung zulässig (VG München, U.v. 16.11.2022 – M 18 K 18.6299 – juris Rn. 64). Erforderlich ist dabei ein Hinweis über Beginn, Dauer und voraussichtliche Höhe der Leistung (vgl. BayVGH, U.v. 17.7.2018 – 12 C 15.2631 – juris Rn. 7), es muss mithin die konkrete Hilfe mitgeteilt werden (VG Bremen, U.v. 8.9.2023 – 3 K 1833/20 – juris Rn. 21).
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Spätestens mit dem an den Kläger gerichteten Bescheid vom 8. Januar 2018 genügte der Beklagte diesen Anforderungen. Der Bescheid enthält ausreichende Informationen über die Höhe der Kosten der Jugendhilfeleistung (5.200,00 EUR pro Monat) sowie den Beginn der Hilfe (21. August 2017). Darüber hinaus war dem Kläger bereits im Informationsschreiben über seine Kostenbeitragspflicht am 14. August 2017 vom Beklagten mitgeteilt worden, dass es sich bei der Hilfemaßnahme für A. um eine stationäre Unterbringung handelte.
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Darüber hinaus wurde der Kläger mit dem Schreiben vom 14. August 2017 hinreichend über die unterhaltsrechtlichen Folgen i.S.d. § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII aufgeklärt. In dem Schreiben heißt es insbesondere: „Der Unterhaltsanspruch Ihres Sohnes ruht während der Zeit in der wir Jugendhilfe leisten“.
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Diese Aufklärung erachtet das Gericht als ausreichend.
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Ausgehend vom Zweck der Hinweis- und Belehrungspflicht sind einem Unterhaltspflichtigen die für ihn relevanten Informationen zu vermitteln, um vermögensrechtliche Fehldispositionen im Zusammenhang mit der Entstehung der Kostenbeitragspflicht zu vermeiden (vgl. ausführlich hierzu VG München, U.v. 16.11.2022 – M 18 K 18.6299 – juris Rn. 67 ff. m.w.N.). Der den unterhaltspflichtigen Schuldner schützenden Funktion des § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII kommt der öffentliche Träger der Jugendhilfe im Hinblick auf die Aufklärung über die Folgen für die Unterhaltspflicht somit dann ausreichend nach, wenn er ihn darüber aufklärt, dass und in welchem Umfang der Lebensunterhalt des Leistungsempfängers im Einzelfall durch die Jugendhilfeleistung abgedeckt ist, sodass sich in Folge dessen die Unterhaltspflicht reduziert bzw. im Fall einer vollstationären Unterbringung (vorübergehend) entfällt (vgl. VGH BW, U.v. 15.9.2021 – 12 S 487/19 – juris Rn. 48; NdsOVG, U.v. 21.11.2011 – 4 LA 40/11 – juris Rn. 4 ff.; VG München, U.v. 16.11.2022 – M 18 K 18.6299 – juris Rn. 69).
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Im Falle der stationären Eingliederungshilfe wird der notwendige Unterhalt des Hilfeempfängers gem. § 39 Abs. 1 SGB VIII vom Jugendhilfeträger regelmäßig vollständig sichergestellt, sodass sich der Unterhaltsanspruch des Kindes bzw. des jungen Volljährigen insoweit auf Null reduziert und eine doppelte Inanspruchnahme des Unterhaltspflichtigen durch Kostenbeitrag einerseits und Unterhaltsanspruch andererseits ausgeschlossen wird (vgl. VG München, U.v. 16.11.2022 – M 18 K 18.6299 – juris Rn. 72 m.w.N.). Der Kostenbeitrag tritt mit anderen Worten an die Stelle des Unterhaltsanspruchs (LPK-SGB VIII/ Kunkel/Kepert, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 92 Rn. 17). Infolgedessen ist es gleichermaßen erforderlich wie genügend, dass der unterhaltspflichtige Elternteil über den Umstand aufgeklärt wird, dass die zivilrechtliche Unterhaltspflicht für eben den Zeitraum dieser Hilfegewährung nicht besteht (vgl. VG München, U.v. 16.11.2022 – M 18 K 18.6299 – juris Rn. 73 m.w.N.).
40
Gemessen hieran liegt eine hinreichende Aufklärung über die unterhaltsrechtlichen Folgen vor. Denn die Belehrung informiert den Unterhaltspflichtigen in einer dem Schutzzweck des § 92 Abs. 3 SGB VIII genügenden Weise darüber, dass sich für ihn keine Doppelbelastung für den Zeitraum der Jugendhilfegewährung ergibt.
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1. Für den streitgegenständlichen Zeitraum geht das Gericht von einer (zumindest grundsätzlich bestehenden) zivilrechtlichen Unterhaltspflicht des Klägers aus.
42
Gemäß § 1601 BGB sind Verwandte in gerade Linie verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren. Mit Eintritt der Volljährigkeit sind beide Elternteile entsprechend ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen (§ 1606 Abs. 3 S. 1 BGB) barunterhaltspflichtig (BeckOGK/Selg, 15.11.2024, BGB § 1602 Rn. 24). Das Maß des zu gewährenden Unterhalts bestimmt sich nach der Lebensstellung des Bedürftige (angemessener Unterhalt). Dabei umfasst der Unterhalt den gesamten Lebensbedarf einschließlich der Kosten einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf, § 1610 BGB. Dementsprechend kann weder aus dem Erreichen des 21. Lebensjahres (wovon der Kläger offenbar ausging) noch aus einer Zeit ohne Unterhaltsbedarf, wie vorliegend während dem Gefängnisaufenthalt des Sohns des Klägers (wovon der Beklagte offenbar ausgeht) auf einen fehlenden Unterhaltsanspruch für die Zukunft geschlossen werden; dieser richtet sich vielmehr immer nach dem aktuell bestehenden Bedarf (vgl. Staudinger/Klinkhammer (2022) BGB § 1602, Rn. 20 ff.). Eine Einschränkung besteht lediglich insoweit, als ein arbeitsfähiger Volljähriger, wenn er nicht von seinem Vermögen leben kann, nach Abschluss seiner Ausbildung seinen Lebensunterhalt grundsätzlich durch eigene Erwerbstätigkeit verdienen muss. Während der Ausbildungszeit besteht jedoch keine Erwerbsobliegenheit des Auszubildenden. Der in Ausbildung stehende Unterhaltsberechtigte ist jedoch im Verhältnis zum Unterhaltspflichtigen gehalten, seine Ausbildung mit dem gehörigen Fleiß und der gebotenen Zielstrebigkeit zu betreiben, damit er sie innerhalb angemessener und üblicher Dauer beenden kann. Im Übrigen kommt es auf die Umstände des Einzelfalls, auf die Dauer der Ausbildung, die Art der Nebentätigkeit und die Einkommensverhältnisse des Unterhaltspflichtigen an (Staudinger/Klinkhammer (2022) BGB § 1602 Rn. 113).
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Damit liegen vorliegend keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Unterhaltspflicht des Klägers bereits auf Grund der gegebenen Umstände generell entfallen war.
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2. Weiter geht das Gericht davon aus, dass eine hinreichende Aufklärung des grundsätzlich barunterhaltspflichtigen Klägers durch den Beklagten vorlag.
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Zwar ist der Begriff des Ruhens, den der Beklagte in dem Schreiben vom 14. August 2017 verwendet hat, rechtsdogmatisch nicht exakt. Denn die Unterhaltspflicht kann während des Zeitraums der Leistungsgewährung nicht nur nicht realisiert werden, sondern ist auf Null reduziert und entfällt damit vielmehr.
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Da während des streitgegenständlichen Zeitraums der Unterhalt des Sohnes des Klägers von dem Beklagten gedeckt wurde (§ 39 SGB VIII), lag kein Unterhaltsbedarf von A. vor. Eine Unterhaltsberechtigung schied daher mangels Bedarfs aus, § 1602 Abs. 1 BGB.
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Das Aufklärungsschreiben des Beklagten vom 14. August 2017 ist aus Sicht eines objektiven Empfängers ungeachtet der Umstände des Einzelfalls sowie der Kenntnisse des konkret Unterhaltspflichtigen auszulegen (OVG NRW, B.v. 28.11.2018 – 12 A 2855/17 – juris Rn. 9; VG München, U.v. 16.11.2022 – M 18 K 18.6299 – juris Rn. 65 m.w.N.; Guido Kirchhoff in: Hauck/Noftz SGB VIII, 2. Ergänzungslieferung 2024, § 92 SGB VIII, Rn. 6). Bereits deswegen verfängt die Argumentation des Beklagten, wonach der Kläger ohnehin seit der Inhaftierung von A. im Jahr 2015 keinen Unterhalt mehr gezahlt habe, da dieser zunächst durch die Justizvollzugsanstalt und in den Jahren ab 2017 durch den Jugendhilfeträger sichergestellt worden sei, sodass für den Kläger offensichtlich gewesen sei, dass ihn keine Unterhaltsverpflichtung neben dem Kostenbeitrag treffe, nicht.
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Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass nach dem maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont die Belehrung des Beklagten jedenfalls dahin zu verstehen ist, dass den Kostenbeitragsverpflichteten eine Unterhaltsverpflichtung während der Leistungsgewährung nicht trifft, ohne dass gleichzeitig ein Neubeginn der Verpflichtung am Ende des Ruhenszeitraums ausgeschlossen worden wäre (a.A. VG Würzburg, U.v. 24.10.2019 – W 3 K 17.1353 – juris).
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Denn im sozialrechtlichen Kontext meint das Ruhen, dass ein dem Grunde nach bestehender Anspruch nicht realisiert werden kann (Becker/Kingreen/Kingreen, 9. Aufl. 2024, SGB V § 16 Rn. 1). Im prozessualer Hinsicht bewirkt ein Ruhen des Verfahrens, dass – anders als bei der Verjährungsunterbrechung (vgl. Drüen in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 183. EL 2024, § 396 AO, Rn. 50) – gesetzliche und richterliche Fristen während des Ruhens nicht laufen bzw. nach Beendigung des Ruhens eine Frist von neuem beginnt (MüKoZPO/Stackmann, 6. Aufl. 2020, ZPO § 251 Rn. 14). Dem Wortlaut nach bedeutet „ruhen“ allgemein, „zum Stillstand gekommen“ oder „nicht in Funktion“ (vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/ruhen) bzw. „vorübergehend nicht wirksam“ zu sein (vgl. https://www.dwds.de/wb/ruhen). Insoweit wird mit dem Begriff des Ruhens auch eine zeitliche Zäsur zum Ausdruck gebracht. Bei objektiver Betrachtung wird nach alledem für einen Kostenbeitragspflichtigen mit der Formulierung, dass die Unterhaltspflicht während der Leistungsgewährung ruht, hinreichend eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass die Unterhaltspflicht nicht neben der Kostenbeitragspflicht besteht.
50
Eine hiervon abweichende Auslegung der Aufklärung über das Ruhen der Unterhaltspflicht dahingehend, dass Unterhaltspflichten nur aufgeschoben und nachträglich geltend gemacht werden könnten (vgl. VG Würzburg, U.v. 24.10.2019 – W 3 K 17.1353 – juris Rn. 46), vermag im Übrigen auch deshalb nicht zu überzeugen, da dieses Verständnis dem Wesen der Unterhaltspflicht grundsätzlich zuwiderliefe. Denn das Unterhaltsrecht ist – auch für den Unterhaltspflichtigen erkennbar – davon geprägt, dass die Kosten des laufenden Lebensbedarfs gedeckt werden, wohingegen die Befriedigung der Bedürfnisse einer zurückliegenden Zeit per se nicht möglich ist (vgl. BeckOGK/Winter, 1.11.2024, BGB § 1613 Rn. 4). Unterhalt für die Vergangenheit ist daher kein Unterhalt im eigentlichen Sinne, sondern nur als Schadensatzverpflichtung unter den besonderen Voraussetzungen des § 1613 BGB denkbar. Dass eine Aufklärung über das Ruhen der Unterhaltspflicht eine solche, nachträgliche Schadensersatzpflicht implizieren bzw. beim Unterhaltspflichtigen eine dahingehende Irreführung auszulösen vermögen würde, erscheint fernliegend.
51
Der Kläger wurde nach alledem von dem Beklagten über den Umstand, dass ihn eine Doppelbelastung nicht trifft, in Kenntnis gesetzt und damit auch hinreichend in die Lage versetzt, entsprechende Vermögensdispositionen zu treffen (vgl. auch VG Freiburg, U.v. 19.4.2012 – 4 K 2209/11 – juris Rn. 60).
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Ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass die Mitteilungs- und Aufklärungspflicht gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII auch nicht nur – wie der Beklagte meint – auf den Kostenbeitrag aus Einkommen gemäß §§ 91 ff. SGB VIII anwendbar ist, sondern aufgrund des eindeutigen Gesetzeswortlauts („ein Kostenbeitrag“), der nicht zwischen dem Kostenbeitrag aus dem Einkommen und dem Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes differenziert, auch materielle Tatbestandsvoraussetzung für die Erhebung eines Kostenbeitrags in Höhe des Kindergeldes i.S.v. § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII ist (vgl. ausführlich hierzu VG München, U.v. 16.11.2022 – M 18 K 18.6299 – juris Rn 66).
53
Der Heranziehung zu einem Kostenbeitrag steht auch nicht ein Kostenerstattungsanspruch des Beklagten entgegen. Der Bescheid des Beklagten erweist sich vielmehr auch insoweit als rechtmäßig.
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Ein Kostenbeitragsbescheid kann dann rechtswidrig sein, wenn dem Jugendhilfeträger die Kosten nicht endgültig verbleiben, da er Kostenerstattung bei einem anderen Träger erhalten hat oder verlangen kann. Einem derartigen Kostenerstattungsanspruch wäre Vorrang vor der Heranziehung des Leistungsempfängers bzw. seiner Elternteile einzuräumen (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 21.1.2014 – 4 LC 57/11 – juris Rn. 44; BayVGH, U.v. 13.5.2019 – 12 BV 18.2142 – juris Rn. 20).
55
Ein solcher Kostenerstattungsanspruch des Beklagten scheidet vorliegend vielmehr aus, da dieser vorrangig für die bewilligte Hilfe für junge Volljährige für den Sohn des Klägers zuständig war.
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1. Dem Beklagten steht – entgegen der Auffassung des Klägerbevollmächtigten – insbesondere kein Kostenerstattungsanspruch gegen die Bundesagentur für Arbeit zu. Denn bei Betrachtung der Zielsetzung der Hilfe lag der Schwerpunkt der Maßnahme eindeutig auf der sozialen Betreuung und Persönlichkeitsentwicklung (1.1.). Dieser schwerpunktmäßige Hilfebedarf lag auch über das 21. Lebensjahr hinaus bei A. vor (1.2.).
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1.1. Die – vorliegend – heilpädagogische Unterbringung eines Jugendlichen in Berufsausbildung kann grundsätzlich sowohl als Jugendhilfemaßnahme als auch als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben anzusehen sein (vgl. BayVGH, U.v. 2.12.2020 – 12 BV 20.1951 – juris Rn. 28; VG München, U.v. 17.7.2019 – M 18 K 17.2523 – juris Rn. 35; U.v. 20.7.2022 – M 18 K 18.4606 – juris Rn. 40).
58
Gemäß § 10 Abs. 1 SGB VIII bleiben Verpflichtungen anderer Träger durch das SGB VIII unberührt. Die Abgrenzung von Maßnahmen der Jugendhilfe von Maßnahmen der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erfolgt daher nach der Zielsetzung, respektive dem Schwerpunkt der konkreten Maßnahme (vgl. BayVGH, U.v. 2.12.2020 – 12 BV 20.1951; VG München, U.v. 20.6.2022 – M 18 K 18.4606 – juris Rn. 40 ff.; LSG BW, U.v. 17.3.2023 – L 8 AL 3628/21 – juris Rn. 46). Demnach besteht eine Zuständigkeit der Jugendhilfe, wenn als Leistungszweck die psychosoziale Betreuung dominiert; eine Leistung der beruflichen Rehabilitation nach dem SGB III liegt hingegen vor, wenn die auswärtige Unterbringung zum Zweck der beruflichen Eingliederung erfolgt. Eine auswärtige Unterbringung, die ohnehin aus erzieherischen Gründen erforderlich ist, hat der Jugendhilfeträger daher auch dann zu tragen, wenn daneben berufliche Maßnahmen gewährt werden (LSG BW, U.v. 17.3.2023 – L 8 AL 3628/21 – juris Rn. 51). Denn die Maßnahme ist in einem solchen Fall nicht ausbildungsspezifisch veranlasst (vgl. hierzu bereits VG München, U. v. 20.7.2022 – M 18 K 18.4606 – juris Rn. 45).
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Das Gericht geht davon aus, dass der Schwerpunkt der stationären Unterbringung im Berufsbildungswerk St. F. bedingt durch den psychosozialen Bedarf von A. auf dem erzieherischen Aspekt der Maßnahme lag und nicht primär zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich war.
60
Denn die Persönlichkeitsentwicklung zu einer eigenverantwortlichen und selbstständigen Lebensführung war bei A. nicht gewährleistet.
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Nach § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII a.F. soll jungen Volljährigen Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. Für die Ausgestaltung der Hilfe gelten nach § 41 Abs. 2 SGB VIII a.F. § 27 Abs. 3 und 4 a.F. sowie die §§ 28 bis 30, 33 bis 36, 39 und 40 SGB VIII entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Personensorgeberechtigten oder des Kindes oder des Jugendlichen der junge Volljährige tritt.
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Der Kläger hatte einen Anspruch auf Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII a.F., da seine Persönlichkeitsentwicklung zu einer eigenverantwortlichen und selbstständigen Lebensführung noch nicht gewährleistet war.
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In der sozialpädagogischen Praxis gilt eine Persönlichkeitsentwicklung dann als geglückt, wenn ein junger Mensch stabile, selbstakzeptierte und gesellschaftlich anschlussfähige Wahrnehmungs-, Denk-, Erlebens- und Verhaltensweisen entwickelt hat. Daher sind u.a. folgende Kriterien für die Beurteilung des Stands der Persönlichkeitsentwicklung relevant: Differenzierte und realitätsgerechte Wahrnehmung der eignen Personen und Umwelt, Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein, positives Selbstbild, autonome Entscheidungsfindung, emotionale Ausdrucksmöglichkeit, Impuls- und Affektkontrolle, situations- und personenangemessenes Verhalten (LPK-SGB VIII/ Kunkel/Kepert/Dexheimer, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 41 Rn. 7). Eine Hilfe ist etwa dann notwendig, wenn der junge Erwachsene angesichts individueller Beeinträchtigungen (z.B. psychischer oder physischer Belastungen, Abhängigkeiten, Delinquenz, Behinderungen) oder sozialer Benachteiligungen (v.a. fehlender schulischer oder beruflicher Ausbildung) nicht zu gesellschaftlicher Integration in der Lage ist oder ihm die Fähigkeit fehlt, die Anforderungen des täglichen Lebens zu bewältigen bzw. Konfliktsituationen in altersgemäß üblicher Art und Weise überwinden zu können. Notwendig ist die Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung mithin dann, wenn eine Hilfe zur Erziehung oder Eingliederungshilfe bei Eintritt der Volljährigkeit noch nicht abgeschlossen ist, eine Entwicklungsverzögerung aufgrund einer Suchtmittelabhängigkeit festzustellen ist, ein akutes Abgleiten in das Drogenmilieu oder in Kriminalität zu befürchten ist oder eine Ausbildungs- oder Beschäftigungsmaßnahme noch nicht beendet ist (Berneiser: in Ehmann/Karmanski/Kuhn-Zuber, Gesamtkommentar Sozialrechtsberatung, 2. Aufl. 2018, § 41 SGB VIII, Rn. 6 f.; vgl. zum Ganzen auch VG München, U.v. 16.11.2022 – M 18 K 18.3763 – juris Rn. 42). Unerheblich sind insoweit die Ursachen; diese können in individuellen Beeinträchtigungen (z.B. psychische oder physische Belastungen wie Abhängigkeiten, Behinderungen oder Straffälligkeit) oder sozialen Benachteiligungen liegen (von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., § 41 SGB VIII (Stand: 06.08.2024), Rn. 11).
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Welche Hilfemaßnahme im Rahmen des Anspruchs nach § 41 SGB VIII a.F. geleistet wird, richtet sich nach dem jeweiligen Bedarf im Einzelfall und unterliegt einem kooperativen, sozialpädagogischen Entscheidungsprozess unter Mitwirkung des betroffenen Hilfeempfängers und der Fachkräfte des Jugendamtes, welche nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern nur eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthalten muss, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (sog. sozialpädagogische Fachlichkeit). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich in diesem Fall darauf zu beschränken, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet wurden, keine sachfremden Erwägungen eingeflossen und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind. Die Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit einer bestimmten Hilfemaßnahme ist damit gerichtlich nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfbar (OVG SH, B.v. 3.2.2021 – 3 MB 50/20 – juris Rn. 11; BayVGH, B.v. 6.2.2017 – 12 C 16.2159 – juris Rn. 11 m.w.N.).
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Gemessen hieran wahrt die – auf Grundlage des Beschlusses des Amtsgerichts Laufen vom 18. August 2017 erfolgte – stationäre Unterbringung von A. im Berufsbildungswerk St. F. gemäß § 34 SGB VIII die Grenzen der sozialpädagogischen Fachlichkeit. Sie zielte spezifisch auf den psychosozialen bzw. erzieherischen Bedarf des Sohnes des Klägers ab.
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Dieser Bedarf des Klägers bestand ausweislich etwa des Vermerks des Beklagten vom 9. August 2017 insbesondere darin, dass A. seinen Frust nicht habe abbauen können, zur Ruhe habe kommen müssen, Zeit für sich gebraucht hab und Perspektiven für sich entwickeln habe müssen sowie in dem Erlernen einer Impulskontrolle. A.s Eltern hätten sich früh getrennt als dieser drei Jahre alt gewesen sei; der Vater habe neu geheiratet und lebe mit der älteren Schwester und einer aus der neuen Ehe entstandenen jüngeren Schwester in G. Die Mutter habe schwankende Depressionen und wohne in M. Sie hätte ihre Kinder alle vier Wochen gesehen. Im Rahmen der Straffverhandlung sei deutlich geworden, dass die einzige Person, die sich jemals um A. gekümmert hätte, die Haushälterin gewesen sei. Alle Therapeuten, mit denen A. in seinem Leben zu tun hatte, hätten übereinstimmend das Bild eines schüchternen Jungen vermittelt, der seinen erlebten Frust nicht abbauen könne. Aus fachlicher Sicht sei es daher dringend erforderlich gewesen, dass A. außerhalb seiner Familie zur Ruhe komme, Zeit für sich habe und Perspektiven für sich entwickeln könne.
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Der Hilfebedarf des A. war daher nicht primär zur Teilhabe am Arbeitsleben (so aber in dem von der Klageseite herangezogenen Urteil des Gerichts vom 17. Juli 2019 (M 18 K 17.2523 – juris Rn. 40; ebenso U.v. 20.7.2022 – M 18 K 18.4606 – juris Rn. 43 ff.) erforderlich, sondern vielmehr zugunsten seiner Persönlichkeitsentwicklung zu einer eigenverantwortlichen und selbstständigen Lebensführung.
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Auch eine Überschreitung des Einschätzungsspielraums des Beklagten durch die Unterbringung im Berufsbildungswerk St. F. gemäß §§ 41 a.F. i.V.m. § 34 SGB VIII ist nicht ersichtlich. Dass die Hilfe für junge Volljährige gerade auf diesen Bedarf des Klägers zielte, wird etwa darin deutlich, dass es sich bei der konkreten Unterbringungsform im Berufsbildungswerk St. F. ausweislich der in den Akten befindlichen Beschreibung gerade nicht um eine Regelinternatsunterbringung, sondern um eine sozialtherapeutische Jugendwohngruppe handelte, wobei u.a. auch eine Tagesstrukturierung erarbeitet wurde.
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1.2. Das Gericht geht des Weiteren davon aus, dass der bei A. gegebene, schwerpunktmäßig psychosoziale, Bedarf auch nach Vollendung dessen 21. Lebensjahres weiterhin vorlag.
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Nach § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII a.F. soll das Jugendamt die geeignete Hilfe so lange gewähren, wie diese aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. Dabei hat die Hilfegewährung über das 21. Lebensjahr hinaus Ausnahmecharakter; ein schematisches Vorgehen verbietet sich hierbei und es kommt auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalles an (vgl. von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., § 41 SGB VIII (Stand: 06.08.2024), Rn. 19). Ein begründeter Einzelfall liegt vor, wenn es aufgrund der individuellen Situation des Hilfesuchenden inhaltlich nicht sinnvoll ist, die Hilfe – wie im Regelfall – mit dem 21. Lebensjahr zu beenden (vgl. VG Halle (Saale), U.v. 2.5.2024 – 5 A 265/22 HAL – juris Rn. 34; OVG Münster, B.v. 29.9.2014 – 12 E 774/14 – juris Rn. 13).
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Der Bedarf des Sohnes des Klägers veränderte sich zwar nach Aktenlage zum positiven; das Gericht hat indes keine Zweifel daran, dass der Hilfebedarf weiterhin gegeben war. Dies wird auch in dem Entwicklungsbericht der Fachkraft des Berufsbildungswerks vom 15. Februar 2019 deutlich, wonach die damaligen Rahmenbedingungen nachweislich zielführend und unbedingt weiterhin erforderlich für einen erfolgreichen Ausbildungsverlauf und eine positive Persönlichkeitsentwicklung von A. sowie zur Vorbereitung auf die Verselbständigung waren. Darüber hinaus ergibt sich aus der internen Stellungnahme des Beklagten vom 27. Mai 2019, dass die Maßnahme weiterhin notwendig ist, um den bisherigen Erfolg nicht zu gefährden bzw. die positive Entwicklung von A. weiterzuführen und den Ausbildungsabschluss zu ermöglichen. Es lag daher eine Situation vor, in der die Hilfemaßnahme nicht abgebrochen werden konnte, ohne die realistische Gefahr zu begründen, dass der Ausbildungserfolg von A. gefährdet wird. Dafür, dass sich diese Situation nach Vollendung des 21. Lebensjahres von A. maßgeblich verändert hätte, liegen hingegen keinerlei Anhaltspunkte vor. Vielmehr werden in der Fortschreibung des Hilfeplans vom 27. Mai 2019 ein auch nach dem 21. Geburtstag fortbestehender Hilfebedarf zugrunde gelegt und weitere Zielsetzungen formuliert. So bestätigte der Beklagte zuletzt im Vorlageschreiben an die Widerspruchsbehörde vom 22. August 2019 den über das 21. Lebensjahr hinausgehenden Hilfebedarf von A. bis zu dem anvisierten Ausbildungsabschluss am 31. Juli 2020.
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2. Auch andere vorrangige Zuständigkeiten, die einen Kostenerstattungsanspruch des Beklagten begründen könnten, liegen nicht vor.
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Der Beklagte ging zu Recht davon aus, dass für die Hilfe keine Zuständigkeit des Bezirks eröffnet war. Denn bei dem Sohn des Klägers lagen keine Anhaltspunkte für eine geistige oder körperliche Behinderung vor. Selbst wenn – wie von Klageseite behauptet – eine seelische Behinderung des A. vorgelegen haben sollte, die einen Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII begründet haben sollte, wäre der Beklagte nach § 10 Abs. 4 SGB VIII vorrangig auch für eine solche Eingliederungshilfe nach §§ 41, 35a SGB VIII zuständig gewesen (vgl. VG München, U.v. 23.10.2014 – M 18 K 19.4075 – juris Rn. 30 m.w.N.)
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Auch ein Kostenerstattungsanspruch gegen bzw. eine Übernahmeverpflichtung der Justizkasse scheidet (ungeachtet des Bestehens einer Anspruchsgrundlage hierfür) bereits deshalb aus, weil die Jugendstrafe des Sohnes des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum zur Bewährung ausgesetzt war. Es lag daher insbesondere kein Fall des § 72 Abs. 4 JGG vor.
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Auch im Übrigen bestehen keine rechtlichen Bedenken an dem Bescheid des Beklagten.
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Insbesondere ist die Berechnung des Kostenbeitrages aus dem Einkommen des Klägers nach § 93 SGB VIII in der Fassung vom 29. August 2013 (im Folgenden: a.F.) in Verbindung mit § 94 SGB VIII in der Fassung vom 29. August 2013 in Verbindung mit der Kostenbeitragsverordnung in der Fassung vom 5. Dezember 2013 nicht zu beanstanden. Die Berechnung ist im Übrigen von dem Kläger auch nicht angegriffen worden.
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Ebenso wenig ist die Geltungsdauer des streitgegenständlichen Bescheids zu beanstanden. Zwar ist die Kostenbeitragsverpflichtung vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe jährlich zu überprüfen, da für die Berechnung der Beitragshöhe gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII jeweils das durchschnittliche Monatseinkommen maßgeblich ist, welches die kostenbeitragspflichtige Person in dem vorangegangenen Kalenderjahr erzielt hat. Dies schließt jedoch eine vorläufige, d.h. „zukunftsoffene“ Geltung nicht aus, solange eine regelmäßige Überprüfung der Einkommensverhältnisse erfolgt (vgl. bereits VG München, U.v. 16.9.2009 – M 18 K 08.4056; OVG NW, B.v. 27.12.1995 – 16 E 1189/94 m.w.N; VGH BW, B.v. 8.4.2019 – 12 S 1899/18 – juris Rn. 22; VG München, U.v. 9.7.2020 – M 18 K 17.5881 – juris Rn. 90). Angesichts der Vorläufigkeit der Erhebung des Kostenbeitrags im streitgegenständlichen Bescheid über den 31. Dezember 2019 hinaus, des ausdrücklichen Hinweises hierauf im Kostenbeitragsbescheid und der Möglichkeit des Klägers, jederzeit durch Vorlage seiner Einkommensnachweise eine etwaige Korrektur des Beitrags für das Jahr 2020 zu seinen Gunsten herbeizuführen (vgl. hierzu VG München, U.v. 9.7.2020 – M 18 K 17.5442 – juris Rn. 59), ist auch die vorläufige Weitergeltung des Bescheids im vorliegenden Fall auch für die Monate Januar bis Juli 2020 – der Beendigung der Maßnahme – nicht zu beanstanden.
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Die Klage war daher abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren war nach § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO gerichtskostenfrei.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.