Titel:
Vormerkung für Sozialwohnung, vorrangige Berücksichtigung, Rückkehr aus Untersuchungs- oder Strafhaft
Normenketten:
BayWoBindG Art. 5 S. 3
DVWoR § 3
Schlagworte:
Vormerkung für Sozialwohnung, vorrangige Berücksichtigung, Rückkehr aus Untersuchungs- oder Strafhaft
Fundstelle:
BeckRS 2025, 12363
Tenor
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung für ein noch durchzuführendes Beschwerdeverfahren im vorläufigen Rechtsschutz wird abgelehnt.
Gründe
1
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung für ein noch durchzuführendes Beschwerdeverfahren im vorläufigen Rechtsschutz, mit dem der Antragsteller sich gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts München vom 28. April 2025 wenden möchte, um seinen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 123 VwGO), gerichtet auf die Vormerkung für eine Sozialwohnung mit höherer Priorität, weiterverfolgen zu können, bleibt – jedenfalls derzeit – ohne Erfolg.
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Der Senat teilt – im Rahmen einer im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ausschließlich möglichen summarischen Prüfung – die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass – jedenfalls derzeit – die Vormerkung für eine Sozialwohnung mit höherer Priorität im Wege einer Vorwegnahme der Hauptsache nicht in Betracht kommt und deshalb für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung für ein noch durchzuführendes Beschwerdeverfahren mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg (§ 166 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO) kein Raum ist. Insoweit wird zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen auf die zutreffenden Ausführungen der anzufechtenden Entscheidung verwiesen (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Ebenso wenig kommt eine dem Antragsteller günstige Entscheidung auf der Grundlage einer bloßen Folgenabwägung in Frage. Ob eine Vormerkung mit höherer Priorität in Betracht kommt, bedarf vielmehr eingehender Prüfung im Rahmen des bereits anhängigen, zeitnah durchzuführenden Hauptsacheverfahrens. Insoweit weist der Senat auf folgendes hin:
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Im Rahmen der Aufnahme von Wohnungssuchenden in eine nach Dringlichkeitsstufen und Punkten differenzierende Vormerkkartei (Rangliste) ist eine wie auch immer geartete „Rückstufung“ von Antragstellern, die nicht (mehr) bzw. erst seit kurzem (wieder) in M. wohnen, hinter bereits seit längerem in M. ansässige Personen nur dann statthaft, wenn dadurch der vom Gesetzgeber in Art. 5 Sätze 3, 5 und 6, 2. Halbsatz BayWoBindG i.V.m. § 3 Abs. 3 DVWoR (neben einer gemäß der amtl. Begründung [vgl. Lt-Drucks. 17/11362, S. 26] nur die bestimmte zu belegende Wohnung betreffenden, unter dem Vorbehalt des Möglichen [vgl. Art. 5 Satz 5 BayWoBindG] stehenden Strukturkomponente) verbindlich festgelegte Vorrang des Gesichtspunkts der sozialen Dringlichkeit der Bewerbung als maßgebliches Auswahlkriterium bei der Benennung für eine Sozialwohnung im konkreten Einzelfall gewahrt bleibt (vgl. BayVGH, B.v. 03.07.2017 – 12 ZB 17.987 –, BayVBl. 2018, 248 – juris, Rn. 8 u. Ls. 1; siehe auch bereits BayVGH, B.v. 11.3.2014 – 12 C 14.380 – juris, Rn. 15).
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Nach § 3 Abs. 3 Satz 3 Nr.1 DVWoR richtet sich die Dringlichkeit „in erster Linie“ nach dem sozialen Gewicht des Wohnungsbedarfs des Bewerbers (vgl. auch Nr. 6.5.1 Satz 1 der die Beklagte bindenden Verwaltungsvorschrift zum Vollzug des Wohnungsbindungsrechts [VVWoBindR] des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 12. September 2007 – II C4-4702-003/07, zuletzt geändert durch Bekanntmachung vom 1. Dezember 2022, BayMBl. Nr. 718); (ob und) wie lange der antragstellende Wohnungssuchende schon in der kreisfreien Gemeinde oder dem Landkreis mit seinem Hauptwohnsitz gemeldet ist, wo er sich um eine Wohnung bemüht, darf hingegen gemäß der ausdrücklichen Regelung in § 3 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 DVWoR (auch weiterhin) nur „ergänzend“ berücksichtigt werden (vgl. BayVGH, B.v. 03.07.2017 – 12 ZB 17.987 –, BayVBl. 2018, 248 – juris, Rn. 9 u. Ls. 2; siehe auch bereits BayVGH, B.v. 19.8.2013 – 12 C 13.1519 – juris, Rn 13; B.v. 11.3.2014 – 12 C 14.380 – juris, Rn. 15).
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Das ergänzende Kriterium der Verweil- oder Aufenthaltsdauer soll lediglich ausschließen, dass ein Bewerber anderen Wohnungssuchenden mit längerer Verweil- oder Aufenthaltsdauer vorgezogen wird, obwohl sein Wohnbedarf nur ein unwesentlich höheres oder gar nur gleiches soziales Gewicht besitzt (vgl. Nr. 6.5.1 Satz 2 VVWoBindR); es darf aber nicht dazu führen, dass Personen, derem Wohnbedarf nach § 3 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 DVWoR erhebliches soziales Gewicht zukommt, entgegen der in Art. 5 Satz 3 u. 5 BayWoBindG i.V.m. § 3 Abs. 3 DVWoR ausdrücklich angeordneten vorrangigen Berücksichtigung des Kriteriums der sozialen Dringlichkeit aufgrund der Nichterfüllung wie auch immer ausgestalteter „Warte(zeit)-, Rangfolge- oder (Anwesenheits-) (Punkte-) Regelungen“ ohne konkrete einzelfallbezogene Prüfung und Beurteilung der sozialen Dringlichkeit des Wohnbedarfs von der Benennung für eine Sozialwohnung ausgeschlossen werden. Andernfalls würde das „Hilfskriterium“ der Verweil- und Aufenthaltsdauer entgegen der Intention des Gesetz- und Verordnungsgebers zum Hauptkriterium erhoben, obwohl es lediglich ergänzend, nämlich nur bei ansonsten im Wesentlichen gleicher Bedürftigkeit und Dringlichkeit, zum Tragen kommen soll (vgl. Nr. 6.5.1 Satz 2 VVWoBindR). Auch § 3 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 DVWoR sieht ausdrücklich vor, dass die Dauer der Bewerbung (erst) bei Gleichrangigkeit der sozialen Dringlichkeit der konkurrierenden Wohnbedarfe entscheidet (vgl. hierzu auch bereits BayVGH, B.v. 03.07.2017 – 12 ZB 17.987 –, BayVBl. 2018, 248 – juris, Rn. 10 u. Ls. 4).
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Die Beklagte hat in ihrer Verwaltungspraxis, auch soweit diese auf ermessenslenkenden Richtlinien gründet, die als reines Innenrecht – anders als Rechtsnormen – einer eigenständigen richterlichen Interpretation nicht unterliegen (vgl. BayVGH, U.v. 28.7.2005 – 4 B 01.2536 –, BayVBl. 2006, 731 m.w.N.), sicherzustellen, dass ihre Ermessensausübung im konkreten Einzelfall den zwingenden gesetzlichen Vorgaben des Art. 5 Sätze 3, 5 und 6, 2. Halbsatz WoBindG i.V.m. § 3 Abs. 3 DVWoR entspricht. Ein genereller (auch nur faktischer) Ausschluss von gemäß Art. 5 Satz 3 BayWoBindG vorrangig zu berücksichtigenden Personen von der Benennung für eine Sozialwohnung durch wie auch immer geartete „Warte(zeit)-, Rangfolge- oder (Anwesenheits-) (Punkte-) Regelungen“ ohne konkrete, die Umstände des Einzelfalls in den Blick nehmende Prüfung der jeweiligen sozialen Dringlichkeit des Wohnbedarfs kommt danach (auch weiterhin) nicht in Betracht (vgl. BayVGH, B.v. 03.07.2017 – 12 ZB 17.987 –, BayVBl. 2018, 248 – juris, Rn. 11 u. Ls. 5; siehe auch bereits BayVGH, B.v. 11.3.2014 – 12 C 14.380 – juris, Rn. 17).
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Die Prüfung und Beurteilung der Landeshauptstadt muss in jedem Einzelfall erkennen lassen, dass die aufgezeigten Maßstäbe beachtet wurden. Pauschale Darlegungen unter Bezugnahme auf abstrakte Punkte- oder Rang(folge) regelungen ohne konkrete Prüfung und Beurteilung der sozialen Dringlichkeit des Wohnbedarfs im Einzelfall können insoweit nicht genügen (vgl. BayVGH, B.v. 03.07.2017 – 12 ZB 17.987 –, BayVBl. 2018, 248 – juris, Rn. 12 u. Ls. 5).
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Im Hauptsacheverfahren wird die Beklagte deshalb darzulegen haben, dass ihre Ermessensausübung im konkreten Einzelfall den zwingenden gesetzlichen Vorgaben des Art. 5 Sätze 3 und 5 WoBindG i.V.m. § 3 Abs. 3 u. 4 DVWoR entspricht. In diesem Zusammenhang ist dem Verwaltungsgericht in anonymisierter Form mitzuteilen, welche Personen aufgrund welcher persönlichen Umstände einen noch dringenderen Bedarf für die Benennung für eine Sozialwohnung aufweisen als der Kläger, damit die Ermessensausübung der Beklagten zeitnah einer einzelfallbezogenen Kontrolle in Gestalt eines „Quervergleichs“ durch das Verwaltungsgericht unterworfen werden kann.
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In diesem Zusammenhang wird zugleich auch zu berücksichtigen sein, dass gemäß § 3 Abs. 4 DVWoR von einer nach ermessenslenkenden Richtlinien sich ergebenden Rangfolge abgewichen werden kann, um in dringenden Fällen eine Linderung sozialer Hilfsbedürftigkeit zu bewirken (vgl. Nr. 6.6 VVWoBindR). Art. 5 Satz 3 WoBindG i.V.m. § 3 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 u. Abs. 4 DVWoR ist mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, dass ältere Menschen – wie der 72-jährige Kläger – vorrangig zu berücksichtigen sind.
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Ungeachtet dessen gilt: Der unfreiwillige Wegzug aus der Landeshauptstadt infolge des Eintritts von Untersuchungs- oder Strafhaft hat im Lichte des Regelungszwecks des Art. 5 Satz 3 WoBindG i.V.m. § 3 Abs. 3 Satz 3 u. Abs. 4 DVWoR lediglich eine Hemmung des weiteren Laufs berücksichtigungsfähiger Anwesenheitszeiten zur Folge, bewirkt aber entgegen der Annahme der Antragsgegnerin nicht den (vollständigen) Verlust bereits in der Vergangenheit zurückgelegter Aufenthaltszeiten für die Zukunft. Vielmehr läuft nach Verbüßung von Untersuchungs- oder Strafhaft und Rückkehr in die Landeshauptstadt die bereits zurückgelegte Aufenthaltszeit weiter, statt erneut bei Null zu beginnen, wie die Landeshauptstadt rechtsirrig meint.
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Eine solche Diskriminierung von ehemaligen Untersuchungs- und Strafgefangenen ist in Art. 5 Satz 3 WoBindG nicht angelegt. Die Vorschrift stellt maßgeblich auf die soziale Bedürftigkeit der Betroffenen ab. Eine von diesem Leitbild abweichende Ermessensausübung entspricht deshalb nicht dem Sinn und Zweck der Ermächtigung (vgl. Art. 40 BayVwVfG); sie hätte zur Folge, dass der betreffende Personenkreis entgegen dem Resozialisierungsversprechen der staatlich verfassten Gemeinschaft (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) trotz möglicherweise Jahrzehnte währendem Voraufenthalt in der Landeshauptstadt dort nicht wieder Fuß fassen könnte. Die Abwälzung eigener „Soziallasten“ auf das Umland ist jedoch nicht das Ziel des Wohnungsbindungsrechts.
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Vielmehr verpflichtet der Resozialisierungsgrundsatz (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) jede staatliche Gewalt, den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs im Rahmen des Möglichen zu begegnen; das Resozialisierungsinteresse erstreckt sich deshalb insbesondere auch auf Rahmenbedingungen, die einer Bewährung und Wiedereingliederung förderlich sind (vgl. BVerfGE 35, 202 [235 f.]; 36, 174 [188], 46, 187 [238 f.]; 98, 169 [200]; BVerfG, 2. Kammer des 2. Senats, B.v. 20.06.2017 – 2 BvR 345/17 –, FamRZ 2017, 1434 – juris, Rn. 36 a.E.).
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Der vorliegende Fall gibt der Landeshauptstadt Gelegenheit, ihre Verwaltungspraxis höherrangigem Recht anzupassen und für Abhilfe zu sorgen.
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Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO werden in Verfahren über Prozesskostenhilfeanträge Gerichtskosten nicht erhoben und dem Gegner entstandene Kosten nicht erstattet. Ungeachtet dessen sind Verfahren für die Vormerkung einer Sozialwohnung gerichtskostenfrei (§ 188 Satz 2 VwGO).
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).