Titel:
Ausweisung nach Verurteilungen zu Strafen unterhalb der Bagatellschwelle des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG
Normenketten:
AufenthG § 54 Abs. 2 Nr. 9, Nr. 10
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 3
Leitsatz:
§ 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG ist auch auf Straftaten unterhalb der in § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG geregelten Bagatellschwelle von 90 Tagessätzen anwendbar. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Anwendbarkeit von § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG auch auf Verurteilungen unterhalb der Bagatellschwelle des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG, Ausweisung, strafrechtliche Verurteilungen, Geldstrafe bis zu 90 Tagessätzen, Bagatellschwelle, Ausweisungsinteresse, Neuregelung
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 06.06.2024 – M 27 K 22.4113
Fundstelle:
BeckRS 2025, 12335
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt die Klägerin, eine georgische Staatsangehörige, die wegen Urkundenfälschung zu einer Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen verurteilt worden war, ihre in erster Instanz erfolglose Anfechtungsklage gegen ihre Ausweisung aus dem Bundesgebiet weiter.
2
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich weder die geltend gemachten ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), noch eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
3
Die Klägerin begründet ihren Zulassungsantrag ausschließlich damit, das Verwaltungsgericht habe die – von ihr auch für grundsätzlich bedeutsam erachtete – Frage, ob § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG in der Fassung des Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz, BGBl 2024 I Nr. 54 S. 1) – im Folgenden: AufenthG n.F. – auch auf strafrechtliche Verurteilungen zu einer Geldstrafe von bis zu 90 Tagessätze oder zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen insbesondere zu § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG n.F. nur auf sonstige Rechtsverstöße anwendbar sei, falsch beantwortet.
4
Dieses Vorbringen begründet weder ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung noch eine grundsätzliche Bedeutung der Sache. Die von der Klägerin aufgeworfene Frage ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung, mit der sich das Zulassungsvorbringen im Übrigen nicht auseinandersetzt, im Sinne der Rechtsauffassung des Erstgerichts dahingehend geklärt, dass § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG n.F. auch auf Straftaten unterhalb der in § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG n.F. geregelten Bagatellschwelle von 90 Tagessätzen anwendbar ist (BayVGH, U.v 6.8.2024 – 19 B 23.924 – juris Rn. 12 ff.; OVG Nds, B.v. 6.3.2024 – 13 LC 116/23 – juris Rn. 64; SächsOVG, B.v. 6.1.2025 – 3 B 207/24 – juris Rn. 26 f.; ebenso Hailbronner, AufenthG, Stand: April 2024, § 54 Rn. 185 ff.). Dieser Auffassung, die soweit ersichtlich in Rechtsprechung und Literatur unangefochten ist, schließt sich der Senat an.
5
Schon dem Ausweisungsinteresse des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG a.F. (nach Änderung jetzt § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG) kam ausdrücklich eine eigenständige Auffangfunktion zu, weswegen der Anwendungsbereich des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG a.F. auch mit Blick auf § 54 Abs. 2 Nr. 1 und 2 AufenthG keiner Typenkorrektur unterlag (BayVGH, B.v. 4.1.2023 – 10 ZB 22.2523 – juris Rn. 6; B.v. 9.10.2024 – 19 ZB 23.1101 – juris Rn. 12 m.w.N.; allgemein auch Fleuß in Kluth/Heusch, AuslR, Stand: 31.10.2024, § 54 AufenthG Rn. 395; Katzer in BeckOK MigR, Stand 1.1.2025, § 54 AufenthG Rn. 93; Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 15. Aufl., § 54 AufenthG Rn. 130). Auch aus der Einführung und der Neufassung der § 54 Abs. 2 Nrn. 2a und 9 AufenthG durch das Rückführungsverbesserungsgesetz zum 21. Februar 2024 ergibt sich nichts Gegenteiliges. Weder aus dem Wortlaut der § 54 Abs. 2 Nrn. 2a und 9 AufenthG noch aus seiner Systematik oder Gesetzgebungshistorie ergibt sich, dass Folge der Neuregelung sein sollte, dass auch im Anwendungsbereich des § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG Verurteilungen zu Geldstrafen von unter 90 Tagessätzen entgegen der ständigen Rechtspraxis nun generell außer Betracht zu bleiben haben (ausführlich SächsOVG, B.v. 6.1.2025 – 3 B 207/24 – juris Rn. 26 f. m.w.N.).
6
§ 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG n.F. war im ursprünglichen Gesetzesentwurf (BT-Drs. 20/9463) nicht enthalten und wurde erst im Rahmen der Ausschussberatungen auf Vorschlag des Ausschusses für Inneres und Heimat (BT-Drs. 20/10090) in den Entwurf aufgenommen. Dem Ausschuss ging es offenbar darum, „(i) n Bezug auf antisemitische oder rassistische Straftaten“ ein „klares Signal“ zu setzen (Stellungnahme der SPD-Fraktion im Ausschuss für Inneres und Heimat, BT-Drs. 20/10090, S. 17). Ob die Neuregelung in § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG n.F. zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels erforderlich war, kann dahinstehen. Die Begründung des Ausschusses für Inneres und Heimat (a.a.O.) enthält jedenfalls keine Aussagen zum Verhältnis von § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG n.F. zu den anderen Nummern von § 54 Abs. 2 AufenthG. Systematische, über das mit § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG n.F. ausgesandte „Signal“ hinausgehende Erwägungen hat der Ausschuss und ihm folgend auch das Plenum des Bundestages in 2. und 3. Lesung (Plenarprotokoll 20/147 vom 18.1.2024 S. 18725 (A) ff.) insoweit offenbar nicht angestellt. Deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, der Gesetzgeber habe mit der Schaffung von § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG den Anwendungsbereich anderer Regelungen zum Ausweisungsinteresse einschränken wollen. Anders als die Klägerin meint, führt dies auch nicht zur Privilegierung von beispielsweise antisemitischen Straftaten unterhalb der Bagatellschwelle des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG (n.F.). Auch in diesen Fällen liegt gegebenenfalls weiterhin ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG vor.
7
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
8
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
9
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).