Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 09.01.2025 – W 7 S 24.32669
Titel:

Asyl, Russische Föderation, Wehrpflicht, Häusliche Gewalt

Normenketten:
AsylG § 4
EMRK Art. 3
Schlagworte:
Asyl, Russische Föderation, Wehrpflicht, Häusliche Gewalt
Fundstelle:
BeckRS 2025, 1202

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage (W 7 K 24.32668) gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. Dezember 2024 wird angeordnet, soweit sie den Antragsteller zu 2) betrifft.
II. Im Übrigen wird der Antrag mit der Maßgabe abgelehnt, dass die Abschiebungsandrohung bzgl. der Antragstellerinnen zu 1) und zu 3) nicht vor dem Eintritt der Volljährigkeit des Antragstellers zu 2), am 14. März 2025, vollzogen werden darf.
III. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens zu 2/3, die Antragsgegnerin zu 1/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Die Antragsteller begehren einstweiligen Rechtsschutz gegen den Vollzug einer Abschiebungsandrohung in die russische Föderation.
2
1. Die Antragstellerin zu 1) ist eine am … … 1973 geborene russische Staatsangehörige. Antragsteller zu 2) ist ihr am … … 2007 geborener Sohn, Antragstellerin zu 3) die am … … 2016 geborene Tochter. Alle sind in G* … geborene russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit.
3
Laut Auskunft der polnischen Behörden vom 9. Dezember 2024 stellte die Antragstellerin zu 1) gemeinsam mit fünf Kindern erstmals am 7. Februar 2010 einen Antrag auf internationalen Schutz, der insgesamt abgelehnt wurde. Zur Begründung gaben sie an, Gewalt durch den Ehemann und Vater ausgesetzt zu sein. Am 14. Dezember 2010 seien sie abgeschoben worden.
4
Am 25. Februar 2020 stellte die Familie – die Antragsteller in diesem Verfahren sowie ein weiterer am … … 2003 geborener Sohn der Antragstellerin zu 1) und eine am … … 2005 geborene Tochter – in Polen einen erneuten Antrag auf internationalen Schutz. Im März 2020 reisten sie ins Bundesgebiet ein und beantragten Asyl.
5
Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 29. Mai 2020 (Az. … * …*) wurden die Anträge als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1), festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2) und die Abschiebung nach Polen angeordnet (Ziffer 3). Es wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet und auf zwölf Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 3). Die Unzulässigkeit wurde auf Grundlage von § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ausgesprochen, weil Polen für die Bearbeitung der Anträge zuständig sei und die polnischen Behörden ihre Zuständigkeit erklärt hätten.
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Ein dagegen gerichteter Antrag im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichts B* … vom … … 2020 (* * * …*) abgelehnt, weil das Bundesamt die Vollziehung des Bescheids vom 29. Mai 2020 aufgrund der Corona-Pandemie ausgesetzt hatte. Das Klageverfahren (* * * …*) wurde mit Beschluss vom … … 2022 nach übereinstimmenden Erledigungserklärungen eingestellt.
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Nach einem späteren Widerruf der Aussetzungsentscheidung wurde die Familie am 1. Dezember 2020 nach Polen abgeschoben, kehrte ca. eine Woche später aber wieder zurück und äußerte erneut ein Asylgesuch.
8
Ein weiterer, am … … 2000 geborener Sohn reiste im März 2020 ins Bundesgebiet ein und reiste ausweislich des Ausländerzentralregisters im August 2024 wieder aus.
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Bei Anhörungen zur Zulässigkeit des Asylantrags am 20. März 2020 und am 13. August 2021 gab die Antragstellerin zu 1) im Wesentlichen an, die Familie habe Polen erneut verlassen, weil ihr Ex-Mann in Weißrussland sei und die Familie verfolge. In der Unterkunft in Polen gebe es viele Tschetschenen, die dem Ex-Mann den Aufenthaltsort verraten hätten. Dieser sei zweimal verheiratet und ein Schwiegersohn sei Zugbegleiter. Daher könne ihr Ex-Mann die Grenze nach Polen überschreiten. Sie habe ihr Leben lang häusliche Gewalt erlebt und große Angst vor ihm. Sie leide an Hepatitis C. Die Antragstellerin zu 3) habe ein Geschwür an der Wirbelsäule, die am … … 2005 geborene Tochter habe eine psychische Erkrankung und sei halbseitig gelähmt. Diese Tochter habe einen Selbstmordversuch unternommen, nachdem sie von Sprachnachrichten ihres Vaters an die Antragstellerin zu 1) erfahren habe. Eine weitere Anhörung zur Zulässigkeit fand am 19. Mai 2022 statt.
10
Laut Schreiben einer Psychotherapeutin vom 11. August 2021 weise die Antragstellerin zu 1), bedingt durch ihre Fluchtbelastung, Telefonterror durch den Ehemann und Vater der Kinder sowie eine Leberzirrhose, Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung auf. Die am … … 2005 geborene Tochter habe im Februar 2021 einen Suizidversuch begangen und mehrere schwere Stürze erlitten. Die Stürze seien teilweise durch traumatisch bedingte Dissoziationszustände bedingt gewesen. Die Tochter befinde sich in einem permanenten Angstzustand und traue sich allein nicht aus dem Haus. Sie sei seit dem 10. Lebensjahr regelmäßig vom Vater schwer geschlagen und mit dem Tod bedroht worden, wie auch die weiteren Kinder der Familie. Der Vater sei schwerer Alkoholiker.
11
Laut Entlassungsschreiben vom 17. September 2020 befand sich die Antragstellerin zu 1) vom 10. bis zum 17. September 2020 in stationärer Behandlung, weil sie nach einer Eileiterentfernung an einem infizierten Hämatom und einem Abszess im Bauchraum gelitten hatte. Nähere Informationen zur vorangegangenen Operation finden sich im Entlassungsschreiben vom 23. August 2020 und nachfolgenden Berichten über Termine zur Wundkontrolle.
12
In der Akte finden sich außerdem russischsprachige Krankenunterlagen der am … … 2016 geborenen Tochter der Antragstellerin zu 1), aus den Jahren 2018 und 2019, in denen von Problemen mit der Wirbelsäule berichtet wird.
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Bei ihrer Anhörung beim Bundesamt am 17. Januar 2023 gab die Antragstellerin zu 1) im Wesentlichen an, sie habe bis zur Ausreise mit ihrem Mann und den Kindern in Grosny gelebt. Sie habe auch noch einen älteren Sohn, der im Land geblieben sei. Sie leide an Gedächtnisproblemen und an Hepatitis C. Nach Deutschland sei sie gekommen, um ihre Kinder zu retten. Den ältesten Sohn habe sie absichtlich zu Hause gelassen, um keinen Verdacht zu erregen. Denn der Vater habe die Kinder geschlagen. Sie sei im Kinderschutzzentrum und im muslimischen Zentrum gewesen, das habe aber nichts geholfen. Im muslimischen Zentrum habe man gesagt, es könne für die Erziehung der Kinder wichtig sein, dass man sie schlage. Der Vater habe die Kinder außerdem mit der Axt bedroht. Ein Sohn habe noch nicht einmal zur Schule gehen dürfen. Sie sei dann einfach aus Tschetschenien losgefahren. Am Telefon habe sie ihrem Mann gesagt, sie sei weggefahren, weil sie krank sei. Er habe gesagt, er komme nach. Er sei dann in Belarus gewesen, dort habe er eine Ex-Frau und einen Sohn. Als seine Mutter gestorben sei, sei er wieder heimgefahren und habe angefangen, den ältesten Sohn zu quälen, bis dieser nach Moskau geflohen sei. Ihr Mann wisse, dass sie in Deutschland sei. Er schicke immer wieder SMS und habe sie angezeigt, ebenso wie den ältesten Sohn in Moskau. Bei der Polizei habe man ihm gesagt, man könne die Familie ganz leicht wieder zurückbringen. Der Sohn, der mit ihr in Deutschland sei, habe dann eine Aufforderung zur Mobilisierung erhalten. Im Zusammenhang mit der Abschiebung nach Polen habe ihre Tochter große Angst bekommen, dass man sie wieder nach Hause schickt. Sie sei immer noch in psychiatrischer Behandlung. Die Behörden hätten ihren Mann einmal auf ihre Anzeige hin abgeholt und ihn dann wieder zurückgebracht und gesagt, er müsse sittlich-moralisch erzogen werden, zum Beispiel durch Mullahs. Er sei auch von Lehrern angezeigt worden, die Verletzungen des jüngsten Sohnes gesehen hätten. Eine Scheidung habe er nicht zugelassen. Zwar habe sie ihre Familie in Tschetschenien ernährt, der Mann sei nicht berufstätig gewesen. Sie habe sich aber nicht anderswo in der Russischen Föderation niederlassen können. Denn heute dürfe man das nicht, wenn das jemand erfahre, könne man sie holen. Sie übermittelte Videos von Gewalttaten des Ehemanns gegenüber den Kindern.
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2. Mit Bescheid vom 13. Dezember 2024 (Az. … * …*), als Einschreiben zur Post gegeben am selben Tag, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1 des Bescheides), den Antrag auf Asylanerkennung (Ziffer 2) sowie den Antrag auf subsidiären Schutz (Ziffer 3) als offensichtlich unbegründet ab. Des Weiteren wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4). Die Antragsteller wurden zur Ausreise innerhalb einer Woche aufgefordert. Anderenfalls wurde die Abschiebung in die Russische Föderation bzw. in einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht. Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist wurden bis zum Ablauf der einwöchigen Klagefrist und im Falle einer fristgerechten Stellung eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage bis zur Bekanntgabe der Ablehnung des Eilantrags durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt (Ziffer 5). Es wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6).
15
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens lägen vor, nachdem der Antrag bislang nicht inhaltlich geprüft worden sei. Aus dem Vortrag, ihr Mann habe die Antragstellerin zu 1) und die Kinder geschlagen, folge aber selbst bei Wahrunterstellung keine mit einem Verfolgungsgrund verknüpfte Verfolgungshandlung. Dass der Antragsteller zu 2) eine Einberufung zur Mobilisierung erhalten haben soll, sei nicht glaubhaft, nachdem dieser bei der Anhörung erst 15 Jahre alt gewesen sei. Auch wenn er nun bald volljährig werde und die Möglichkeit einer Einziehung zum Militärdienst bestehe, folge hieraus kein Grund für die Gewährung internationalen Schutzes. Denn die Einziehung zum Grundwehrdienst in der Russischen Föderation knüpfe nicht an ein asylerhebliches Merkmal an. Auch subsidiärer Schutz komme nicht in Betracht. Die geschilderte Bedrohungslage sei nicht vollständig überzeugend. Denn dem Vortrag, dass ihr Mann sie überall innerhalb der Russischen Föderation behördlich suchen lassen und zurückbringen würde, stehe entgegen, dass die Antragstellerin zu 1) Tschetschenien schon mehrmals mit ihren Kindern verlassen habe. Dies bedinge die schriftliche Zustimmung des Ehemannes, der offenbar wenig Interesse am Verbleib von Frau und Kindern gehabt habe. Es sei auch nicht plausibel, dass die Antragstellerin zu 1) weiterhin Kontakt zu ihrem Mann gehalten haben soll. Näher hätte es gelegen, diesen Kontakt abzubrechen. Zudem habe die Antragstellerin zu 1) bei ihrer Anhörung angegeben, ihr Mann konsumiere keine Drogen oder Alkohol, bei der Psychologin aber gesagt, er sei Alkoholiker. Widersprüchlich sei auch, dass sie einerseits gesagt habe, ihr Mann habe auch auf der Arbeit Probleme mit Kollegen, und andererseits, er würde nicht arbeiten. Selbst wenn es die Bedrohung durch den Ehemann aber geben sollte, wäre die Antragstellerin zu 1) auf die Einschaltung der Behörden oder der bereits tätig gewordenen Mullahs zu verweisen bzw. darauf, innerhalb der Russischen Föderation umzuziehen. Sie habe schon vor ihrer Ausreise die Lebensgrundlage für die Familie gesichert. Nachdem nun der Ehemann nicht mehr mitversorgt werden müsse und die Kinder überwiegend volljährig seien, sei davon auszugehen, dass sie auch weiterhin ihren Lebensunterhalt werden bestreiten können, zumal der älteste Sohn in Moskau lebe. Es sei auch nicht zu erwarten, dass dem Antragsteller zu 2) ein ernsthafter Schaden im Zusammenhang mit der Ableistung des Grundwehrdienstes drohe. Es sei schon nicht überwiegend wahrscheinlich, dass er überhaupt einberufen werde. Die Ablehnung als offensichtlich unbegründet stütze sich auf § 30 Abs. 1 Nr. 8 AsylG. Aus dem Sachverhalt resultierten außerdem keine Abschiebungsverbote. Die Abschiebungsandrohung stütze sich auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Das Kindeswohl stehe der Abschiebungsandrohung nicht entgegen. Denn die Entscheidung erfolge einheitlich für die Antragstellerin zu 1) und deren minderjährige Kinder, sodass die Kernfamilie nicht getrennt werde. Auch aus dem Gesundheitszustand der Antragsteller folge kein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis. Die Ausreisefrist von einer Woche ergebe sich aus § 36 Abs. 1 AsylG. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot beruhe auf § 11 Abs. 1 AufenthG und werde mangels besonderer Anhaltspunkte auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
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3. Am 21. Dezember 2024 ließen die Antragsteller dagegen Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg erheben und zugleich im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sinngemäß beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 des Bescheids anzuordnen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf die Angaben bei der Anhörung verwiesen und zudem ausgeführt, die Antragstellerin zu 1) habe bereits in der Russischen Föderation vergeblich Hilfe bei Behörden, dem Kinderschutzzentrum und dem muslimischen Zentrum gesucht. Zudem drohe dem Antragsteller zu 2) die Einberufung zum Wehrdienst in der Russischen Föderation und damit der Einsatz im Krieg gegen die Ukraine.
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4. Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung nimmt sie Bezug auf den streitgegenständlichen Bescheid.
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5. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten, auch im Verfahren W 7 K 24.32668 und den Verfahren der volljährigen Tochter der Antragstellerin zu 1), W 7 S 24.32665 und W 7 K 24.32664, Bezug genommen.
II.
21
Der zulässige Antrag (1.) auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist in der Sache begründet, soweit er den Antragsteller zu 2) betrifft (2.). Im Übrigen, soweit er die Antragstellerinnen zu 1) und zu 3) betrifft, ist er unbegründet (3.).
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1. Der Antrag ist insgesamt zulässig.
23
Insbesondere ist er gemäß § 36 Abs. 3 AsylG in Verbindung mit § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 VwGO statthaft, soweit er sich gegen die gemäß § 75 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO kraft Gesetzes sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung wendet. Des Weiteren wurde der Antrag innerhalb der Wochenfrist gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG gestellt.
24
2. Soweit er sich auf den Antragsteller zu 2) bezieht, ist der Antrag begründet, da insoweit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheids bestehen (§ 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG).
25
a) Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens nach § 36 Abs. 3 und 4 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO ist die von der Antragsgegnerin ausgesprochene Abschiebungsandrohung, beschränkt auf die sofortige Vollziehbarkeit. Nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Nach diesem Maßstab darf die Vollziehung der aufenthaltsbeenden Maßnahme nur dann ausgesetzt werden, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten wird (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – DVBl. 1996, 729). Dabei darf sich das Gericht im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht auf eine summarische Prüfung beschränken, wenn dem Antragsteller im Fall der Versagung einstweiligen Rechtsschutzes bereits eine endgültige Verletzung seiner Rechte droht und insoweit auch Grundrechtspositionen von Gewicht in Rede stehen (BVerfG, B.v. 23.7.2020 – 2 BvR 939/20 – juris m.w.N.). Insoweit fordert der effektive Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG, dass sich das Verwaltungsgericht nicht mit einer bloßen Prognose zur voraussichtlichen Richtigkeit des Offensichtlichkeitsurteils begnügen darf, sondern die Frage der Offensichtlichkeit – wenn es sie bejahen will – erschöpfend, wenngleich mit Verbindlichkeit allein für das Eilverfahren klären und insoweit über eine summarische Prüfung hinausgehen muss (BVerfG, B.v. 23.7.2020 – 2 BvR 939/20 – juris; B.v. 25.2.2019 – 2 BvR 1193/18 – juris Rn. 21). Das Verwaltungsgericht muss dabei überprüfen, ob das Bundesamt aufgrund einer umfassenden Würdigung der ihm vorgetragenen oder sonst erkennbaren maßgeblichen Umstände unter Ausschöpfung aller ihm vorliegenden oder zugänglichen Erkenntnismittel entschieden und in der Entscheidung klar zu erkennen gegeben hat, weshalb der Antrag nicht als schlicht unbegründet, sondern als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist, ferner, ob die Ablehnung als offensichtlich unbegründet auch weiterhin Bestand haben kann (BVerfG, B.v. 25.2.2019 – 2 BvR 1193/18 – juris Rn. 21 m.w.N.).
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b) Gemessen an diesen Grundsätzen bestehen im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ablehnung des Schutzbegehrens als offensichtlich unbegründet und den daran anknüpfenden Maßnahmen bzgl. des Antragstellers zu 2), die aus seiner baldigen Volljährigkeit und damit der Wehrpflicht in der Russischen Föderation resultieren.
27
Denn es besteht eine erhebliche Wahrscheinlichkeit i.S.d. § 71 Abs. 1 AsylG, dass der Antragsteller zu 2) als subsidiär Schutzberechtigter i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG anzuerkennen ist. Nachdem der Antragsteller zu 2) am 14. März 2025 volljährig werden wird, konnte er die damit geänderte neue Sachlage bisher unverschuldet nicht geltend machen.
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Die Entsendung in den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine bedeutet eine Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG (1). Bei Rückkehr in die Russische Föderation droht dem Antragsteller zu 2) diese Entsendung zur Überzeugung des Einzelrichters mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (2).
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(1) Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
30
Im Zwang zur Teilnahme an Kampfhandlungen im Rahmen eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges, wie er derzeit von der russischen Föderation gegen die Ukraine geführt wird, liegt ein drohender ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, Art. 3 EMRK in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (vgl. VG Bayreuth, U.v. 20.1.2023 – B 9 K 21.30615 – juris Rn. 35; VG Berlin, U.v. 6.7.2023 – 33 K 312.19 A – juris Rn. 36, VG Bremen, B.v. 26.5.2023 – 6 V 24/23 – juris Rn. 17 f.; U.v. 16.1.2024 – 6 K 2587/20 – juris Rn. 26; VG Magdeburg, B.v. 15.11.2024 – 3 B 184/24 MD – juris Rn. 5). Diese Auslegung der § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, Art. 3 EMRK wird durch die Wertung des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG unterstrichen. Denn der Militärdienst im Ukrainekrieg würde mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verbrechen oder Handlungen umfassen, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen und deren Ächtung und Verhinderung wiederum eines der Ziele von Art. 3 EMRK ist (vgl. VG Bremen, B.v. 26.5.2023 – 6 V 24/23 – juris Rn. 18; OVG Berlin-Bbg, U.v. 22.8.2024 – 12 B 17/23 – juris Rn. 27 f.). Hinter dieser Interpretation des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG steht der Gedanke, dass ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK auch daraus resultieren kann, dass eine Person bei Rückkehr in ihr Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in eine Situation geraten wird, in der sie entweder ihrerseits andere Menschen in ihren durch Art. 3 EMRK geschützten Rechten verletzen muss oder strafrechtlich sanktioniert werden wird.
31
Die russischen Streitkräfte haben in der Ukraine viele Taten begangen, die als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeordnet werden können, insbesondere zahlreiche Angriffe auf die ukrainische Zivilbevölkerung. Es ist wahrscheinlich, dass in die Ukraine entsendete Soldaten in solche Verbrechen verwickelt werden (Home Office, Country Policy and Information Note – Russian Federation: Military service v. Juli 2023, S. 5; Cour nationale du droit d’asile, U.v. 20.7.2023, Az. 21068674 Rn. 12; Amnesty International, Europe: The point of no return, 2024, S. 3, 10; EUAA, COI Query Q47-2023 v. 3.10.2023, S. 4). Das Sich-Entziehen von der Einberufung vom Militärdienst und das Sich-Entziehen eines Militärdienstleistenden von der Erfüllung der Militärdienstpflichten werden in Art. 328 bzw. Art. 339 des Strafgesetzbuchs der russischen Föderation strafrechtlich sanktioniert (Auswärtiges Amt, Amtliche Auskunft Russische Föderation vom 10.02.2023, 508-9-516.80 RUS, S. 4).
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(2) Dem Antragsteller zu 2) als körperlich gesundem russischen Staatsangehörigen, der am … … 2025 volljährig werden wird, droht bei Rückkehr in die russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die zeitnahe Einberufung zum Wehrdienst (aa) und anschließend die Entsendung in den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine (bb). Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht insofern nicht (cc).
33
Der Begriff der drohenden Gefahr ist inhaltlich identisch mit der tatsächlichen Gefahr („real risk“) aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK, die wiederum dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32 m.w.N., Wittmann in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1.7.2024, § 4 AsylG Rn. 83). Es geht darum, ob die für die Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Besteht die reale und nicht nur theoretisch denkbare, nicht auszuschließende, Gefahr einer Verfolgung, wird ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in sein Heimatland nicht auf sich nehmen (OVG Berlin-Bbg, U.v. 22.8.2024 – 12 B 17/23 – juris Rn. 22).
34
(aa) Auf der Basis dieses Wahrscheinlichkeitsmaßstabs geht der Einzelrichter davon aus, dass dem Antragsteller zu 2) bei Rückkehr in die russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Einberufung zum Wehrdienst droht.
35
Die Wehrpflicht in Russland betrifft ab dem 1. Januar 2024 volljährige Männer bis zum Alter von 30 Jahren. Das Höchstalter von zuvor 27 Jahren wurde vor der nächsten Einberufungswelle im Frühjahr 2024 am 25. Juli 2023 angehoben, um die Zahl der wehrpflichtigen Männer deutlich zu erhöhen (EUAA, COI Query Q47-2023 v. 3.10.2023, S. 5 f.).
36
Jeweils im Frühjahr und Herbst findet die Einberufung der Wehrpflichtigen statt. Bislang war es so, dass ca. die Hälfte Männer, die ins wehrpflichtige Alter kamen, auch eingezogen wurden. (EUAA, COI Query Q47-2023 v. 3.10.2023, S. 5). Im Jahr 2024 wurden insgesamt ca. 283.000 Männer eingezogen, was dem Vorjahreswert ungefähr entspricht (EUAA v. 21.11.2024: Major developements regarding human rights and military service, S. 24). Bereits am 14. April 2023 trat die Gesetzesänderung in Kraft, dass künftig Einberufungsbescheide nicht mehr persönlich überreicht werden müssen, sondern auch auf elektronischem Weg zugestellt werden können (BAMF Briefing Note v. 31.7.2023, S. 9). Der Einsatz dieses neuen elektronischen Systems hat sich mehrfach verzögert und ist derzeit für Januar 2025 avisiert (EUAA v. 21.11.2024: Major developements regarding human rights and military service, S. 23). Am 16. September 2024 ordnete Wladimir Putin eine erneute Aufstockung der Armee auf insgesamt 2,38 Millionen Menschen an (EUAA v. 21.11.2024: Major developements regarding human rights and military service, S. 23).
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Nach dem Wehrdienst werden die Rekruten automatisch Teil der Reserve (Danish Immigration Service, Russia – An update on military service since July 2022, Dezember 2022, S. 17).
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Der hohe Mobilisierungsdruck angesichts großer Verluste der Armee lässt sich zahlreichen allgemein zugänglichen Medienberichten entnehmen (Überblick bei EUAA, COI Query Q47-2023 v. 3.10.2023, S. 3 f.; siehe z.B. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wie-russland-gegen-militaerverweigerer-und-deserteure-vorgeht-110190627.html, abgerufen am 8.1.2025).
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Es besteht in Russland de facto auch kaum noch eine Möglichkeit, sich der Wehrpflicht durch Ableistung des in der Verfassung verbürgten Ersatzdienstes zu entziehen. Entsprechende Anträge werden in aller Regel abgelehnt (BFA, Länderinformation v. 16.12.2024, S. 63 f.; Home Office, Country Policy and Information Note – Russian Federation: Military service v. Juli 2023 unter Punkt 3.3.5 und 3.3.6; Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage v. 28.4.2023, BT-Drs. 20/6631, S. 3 ff.; OVG Berlin-Bbg, U.v. 22.8.2024 – 12 B 17/23 – juris Rn. 39). Soweit das oberste Gericht der Russischen Föderation laut Medienberichten im November 2023 ein Recht auf Zivildienst bei Mobilmachung anerkannt hat, das einfachgesetzlich unter Verstoß gegen die russische Verfassung nicht vorgesehen ist, bezieht sich dieses Urteil allein auf die Verweigerung des Militärdiensts aus religiösen Gründen (BAMF Briefing Notes v. 27.11.2023, S. 7). Dass sich die Erfolgsaussichten von Anträgen auf Ableistung des in der Verfassung verbürgten Ersatzdienstes in Zukunft im Allgemeinen wieder erhöhen werden, kann daraus jedenfalls aktuell noch nicht abgeleitet werden.
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Es ist daher zur Überzeugung des Gerichts beachtlich wahrscheinlich, dass ein alleinstehender gesunder Mann im wehrpflichtigen Alter, der bei Wiedereinreise in die Russische Föderation an den Grenzen behördlich erfasst werden wird (vgl. VG Berlin, U.v. 20.3.2023 – 33 K 143.19 A – juris Rn. 81), mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit seiner zeitnahen Einberufung zum Wehrdienst rechnen muss.
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Vor diesem Hintergrund ist es auch unerheblich, dass der Antragsteller zu 2) auch zur Überzeugung des Einzelrichters noch keinen entsprechenden Einberufungsbefehl oder Musterungsbescheid erhalten hat (vgl. VG Berlin, U.v. 20.3.2023 – 33 K 143.19 A – juris Rn. 67). Dass er – wie von seiner Mutter am 17. Januar 2023 angegeben – bereits im Alter von 15 Jahren eine Aufforderung zur Mobilisierung erhalten haben soll, erscheint nicht glaubhaft. Entsprechende Unterlagen wurden auch nie vorgelegt. Angesichts der im entscheidungserheblichen Zeitpunkt bei Rückkehr drohenden Einberufung kann es darauf aber nicht ankommen.
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(bb) Das Gericht geht weiter davon aus, dass eine beachtlich wahrscheinliche Einberufung zum Wehrdienst auch den beachtlich wahrscheinlichen Einsatz im Krieg gegen die Ukraine bedeuten würde.
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Zwar lässt sich der Länderinformation des Österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in der Fassung vom 6. Dezember 2024 (Seite 49) die Aussage entnehmen, aktuell gebe es keine Hinweise auf eine Teilnahme Wehrpflichtiger an Kampfhandlungen in der Ukraine. Auch dort wird in der jüngsten Version allerdings festgehalten, seit einigen Monaten würden Wehrpflichtige in größerem Umfang in Grenzregionen stationiert sowie auf der von Russland besetzten Krim. Im August 2024 seien Grundwehrdienstleistende in Kursk, auf russischem Gebiet an der Grenze zur Ukraine, im Kampfgebiet zum Einsatz gekommen. Außerdem werde Druck ausgeübt, sich Freiwilligenbataillonen für den Einsatz in der Ukraine anzuschließen. Insgesamt finde derzeit eine verdeckte Mobilisierung statt, die auch Zwangsmaßnahmen umfasse. Speziell in Tschetschenien gebe es zwar weniger offizielle Rekrutierungen, dafür aber in vielen Fällen Zwangsrekrutierungen, bei denen Drohungen, Entführungen und Sozialleistungsentzug für die Familien von Kriegsdienstverweigerern zu beobachten seien (ebd., S. 49, 51 ff.).
44
Nach Auskunft des Auswärtigen Amts, Amtliche Auskunft Russische Föderation vom 10.02.2023, 508-9-516.80 RUS, Seite 2 f. ist davon auszugehen, dass nach den Rechtsvorschriften der Russischen Föderation zwar ausschließlich Reservisten einer Mobilmachung bzw. Teilmobilmachung unterliegen (zumal laut EUAA v. 21.11.2024: Major developements regarding human rights and military service, S. 31 f. in den Jahren 2023 und 2024 keine Mobilisierungen mehr nach dem Dekret vom 21.9.2022 erfolgt sind, auch wenn das weiterhin rechtlich möglich wäre). Es gebe allerdings Hinweise darauf, dass Grundwehrdienstleistende für den russischen Angriffskrieg eingesetzt werden. Im Juni 2022 habe der Militärstaatsanwalt des Militärbezirks West (der Moskau und St. Petersburg umfasst) von rund 600 ihm bekannten Fällen aus seinem Militärbezirk gesprochen, in denen Wehrpflichtige gesetzeswidrig in der Ukraine zum Einsatz kamen (siehe auch AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 4.7.2024, S. 13 f.). Auch Cour nationale du droit d’asile, U.v. 20.7.2023, Az. 21068674 Rn. 16 stellt fest, dass innerhalb der ersten Mobilisierungswelle des Krieges Rekruten nahezu unmittelbar nach ihrer Einberufung an der Frontlinie eingesetzt wurden.
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Vom Einsatz Grundwehrdienstleistender in Kursk berichtet auch BAMF, Briefing Notes vom 26.8.2024, S. 10.
46
Auch das britische Home Office, Country Policy and Information Note – Russian Federation: Military service v. Juli 2023 unter Punkt 3.7. und 3.2.4. gibt an, Wehrpflichtige seien in die Ukraine entsendet worden, ordnet die Wahrscheinlichkeit einer solchen Entsendung für das Individuum allerdings als gering ein.
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EUAA, COI Query Q37-2023 v. 17.2.2023, S. 13 f. weist auf Fälle hin, in denen Wehrdienstleistende zur vertraglichen Vereinbarung eines Einsatzes in der Ukraine genötigt wurden. Das Jahr 2022 sei insgesamt von der Entsendung nicht ausgebildeter Soldaten an die Front – im Verstoß gegen russisches Recht – geprägt gewesen (EUAA, COI Query Q47-2023 v. 3.10.2023, S. 2).
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AA, Auskunft zu Rekrutierung und Einberufung von Vertragssoldaten und Wehrdienstleistenden v. 31.10.2024 weist auf Berichte von Menschenrechtsorganisationen, Medien und eingesetzten Soldaten hin, wonach auch Menschen ohne Vorerfahrung und Wehrdienstleistende nach kurzer Zeit in den Kampfeinsatz geschickt worden seien.
49
Laut EUAA v. 21.11.2024: Major developements regarding human rights and military service, S. 26, 30 f. herrsche zwar Zurückhaltung, Wehrdienstleistende in die Ukraine zu schicken, weil solche Entsendungen in der Russischen Föderation unpopulär seien. Nach vier Monaten seien solche Einsätze aber rechtlich möglich und es gebe Berichte, dass Wehrdienstleistende in Grenzregionen entsendet würden. In Kursk seien daher von ukrainischen Einheiten auch russische Rekruten gefangen genommen worden. Zudem gebe es Berichte über die Fälschung von Unterschriften oder Zwang zur Unterschriftsleistung, um so einen vorgeblich freiwilligen Einsatz in der Ukraine einzuleiten.
50
Zusätzlich zu diesen Berichten über tatsächliche Einsätze ist festzuhalten, dass die Entsendung Wehrpflichtiger in Kampfeinsätze im Ausland nach russischem Recht bereits nach einer viermonatigen Ausbildung möglich ist. Bei Ausrufung des Kriegsrechts – wie in den besetzten ukrainischen Gebieten – wird dieser Zeitpunkt noch weiter vorverlagert (BFA, Länderinformation v. 16.12.2024, S. 48). Nach der von Moskau proklamierten Annexion der vier ukrainischen Oblaste Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson können Wehrpflichtige in diesen Gebieten auch offiziell für den Krieg gegen die Ukraine eingesetzt werden, ohne dass es sich insofern aus russischer Sicht um einen Auslandseinsatz handelte (SWP-Aktuell Nr. 76 v. 7.12.2022, S. 4). Insofern gelten keine gesetzlichen Einschränkungen für den Einsatz Wehrdienstleistender (BFA, Länderinformation v. 16.12.2024, S. 49).
51
Auch der Kampfeinsatz auf russischem Territorium in Grenzregionen sowie auf ukrainischem Gebiet in Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson sowie der Krim ist dabei dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zuzuordnen und führt, sofern er beachtlich wahrscheinlich droht, zur Zuerkennung subsidiären Schutzes. Soweit das OVG Berlin-Bbg, (U.v. 22.8.2024 – 12 B 17/23 – juris Rn. 42) gegenteilig davon ausgeht, hierbei gehe es um Kampfhandlungen auf russischem Territorium, die nicht direkt gegen die Ukraine gerichtet seien, kann dem nicht gefolgt werden. Zum einen handelt es sich hierbei um die russische Verteidigung völkerrechtswidrig besetzten ukrainischen Territoriums, die nicht unter das naturgegebene Recht auf Selbstverteidigung der Russischen Föderation, wie es Art. 51 UN-Charta voraussetzt, subsumiert werden kann. Soweit es um die Geschehnisse auf russischem Gebiet in Kursk geht, handelt es sich bei der dortigen ukrainischen Offensive nach – soweit ersichtlich – einhelliger Auffassung um völkerrechtlich legitime Selbstverteidigungsmaßnahmen, die auch Gewalthandlungen auf russischem Staatsgebiet gestatten (Blöcher/Salomon, GSZ-Sonderausgabe 2022, 1, 6 m.w.N.). Daraus folgt, dass ein Militäreinsatz in diesen Gebieten ebenfalls die Beteiligung am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine bedeutet.
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Die zahlreichen Erkenntnismittel, denen sich Einsätze auch von Grundwehrdienstleistenden im Krieg gegen die Ukraine entnehmen lassen, leiten das Gericht zu dem Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit einer Entsendung in die Ukraine für Wehrdienstleistende das Maß ihrer Beachtlichkeit erreicht hat, insbesondere für einen Mann wie den Antragsteller zu 2), der in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit einer Rückreise in die Russischen Föderation volljährig und damit wehrpflichtig werden wird.
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Es ist daher zusammenfassend von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit dafür auszugehen, dass der Kläger als körperlich gesunder Mann im wehrpflichtigen Alter bei Rückkehr in die Russische Föderation und damit einhergehender behördlicher Erfassung beim Grenzübertritt zeitnah zum Wehrdienst eingezogen und dabei zum Kampf gegen die Ukraine eingesetzt werden wird.
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Darüber hinaus ist festzuhalten, dass der Antragsteller zu 2) nach Ableistung des Wehrdienstes automatisch zum Teil der Reserve würde, wodurch die Wahrscheinlichkeit einer Entsendung in die Ukraine sich nochmals erhöhte (vgl. Auswärtiges Amt, Amtliche Auskunft Russische Föderation vom 10.02.2023, 508-9-516.80 RUS). Es ist davon auszugehen, dass Soldaten, die ihren Wehrdienst gerade abgeschlossen haben, bevorzugt mobilisiert werden (EUAA, COI Query Q37-2023 v. 17.2.2023, S. 16). Auch dieser Umstand ist noch als mit der Rückkehr zusammenhängend einzuordnen und trägt als hinreichend konkretisierte Gefahr zu einer Erhöhung der Gefahrenwahrscheinlichkeit bei (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.2018 – 1 VR 12/17 – juris Rn. 24; VG Berlin, U.v. 20.3.2023 – 33 K 143.19 A – juris Rn. 85).
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(cc) Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Antragsteller zu 2) nach § 4 Abs. 3 Satz 1, 3e AsylG internen Schutz innerhalb der russischen Föderation erlangen könnte.
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Zwar könnte der Kläger sich durch die Einreise in einen anderen Landesteil den seit Mai 2022 in Tschetschenien durchgeführten Zwangsrekrutierungen entziehen (EUAA, COI Query Q37-2023 v. 17.2.2023, S. 19 f.; Cour nationale du droit d’asile, U.v. 20.7.2023, Az. 21068674 Rn. 17; BFA, Länderinformation v. 16.12.2024, S. 51). Die reguläre Einberufung zum Wehrdienst drohte ihm allerdings unabhängig von seinem Wohnsitz innerhalb der gesamten russischen Föderation. (vgl. Amnesty International, Europe: The point of no return, 2024, S. 24 f.).
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3. Soweit er sich auf die Antragstellerinnen zu 1) und zu 3) bezieht, ist der Antrag unbegründet.
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Es bestehen im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ablehnung des Schutzbegehrens als offensichtlich unbegründet und den daran anknüpfenden Maßnahmen.
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a) Das Bundesamt stützt seine Entscheidung zu Recht auf § 30 Abs. 1 Nr. 8 AsylG. Gemäß dieser Vorschrift ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn eine ablehnende Entscheidung im Rahmen eines Folgeverfahrens (§ 71 Abs. 1 AsylG) ergangen ist. Ein solches Folgeverfahren liegt auch hier vor, indem die Unzulässigkeitsentscheidung vom 29. Mai 2020 nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG das nationale Asylverfahren abschloss (m.w.N. VG Düsseldorf B.v. 17.9.2020 – 22 L 1454/20.A – juris).
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Der Asylantrag ist – soweit er die Antragstellerinnen zu 1) und zu 3) betrifft – auch inhaltlich unbegründet. Zum einen kommt Familienasyl nach § 26 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 2, Abs. 5 AsylG angesichts der nahenden Volljährigkeit des Antragstellers zu 2) nicht mehr in Betracht. Dass dessen unanfechtbare Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigter nach rechtskräftigem Abschluss des Hauptsacheverfahrens vor dem Eintritt seiner Volljährigkeit nicht mehr erfolgen wird, ist bereits jetzt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit absehbar.
61
Zum anderen bestehen für die Antragstellerinnen zu 1) und zu 3) keine eigenständigen Asylgründe. Die Antragstellerin zu 1) hat bei ihrer Anhörung im Wesentlichen vorgebracht, ihr Mann habe häusliche Gewalt gegen sie und gegen die Kinder ausgeübt und werde dies bei einer Rückkehr wieder tun.
62
Zwar ist den Erkenntnismitteln zu entnehmen, dass staatlicher Schutz gegen häusliche Gewalt, sowohl gegen Kinder als auch gegen Frauen, in der Russischen Föderation nur unzureichend gewährleistet ist (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 4.7.2024, S. 15 f.).
63
Die Antragstellerinnen zu 1) und zu 3) sind allerdings gemäß § 3e Abs. 1 AsylG i.V.m. § 4 Abs. 3 AsylG auf internen Schutz innerhalb der Russischen Föderation zu verweisen. Insofern macht sich der Einzelrichter die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids (dort S. 9 ff.) zu eigen. Auch Personen aus dem Nordkaukasus können grundsätzlich in andere Teile Russlands reisen (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 4.7.2024, S. 18). Insbesondere ist es der Antragstellerin zu 1) möglich, zu ihrem älteren Sohn nach Moskau zu ziehen und dort, wie auch schon früher, den Lebensunterhalt für ihre Familie zu sichern. Zwar trifft es den Erkenntnismitteln zufolge zu, dass der Ehemann der Antragstellerin zu 1) diese im Rahmen einer Vermisstenanzeige ausfindig machen könnte (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 4.7.2024, S. 18). Wie im Bescheid angegeben, ist es für die Antragstellerin zu 1) aber zum einen denkbar, sich von ihrem Ehemann scheiden zu lassen, zumal die Familie ihres Ehemanns nach den Angaben der Antragstellerin zu 1) versichert hat, sie bei einer Scheidung zu unterstützen und die Kinder in der Obhut der Antragstellerin zu 1) zu belassen. Zum anderen ist aus Sicht des Einzelrichters schon nicht davon auszugehen, dass der Ehemann der Antragstellerin zu 1) mehr als fünf Jahre nach deren Ausreise aus der Russischen Föderation von einer Rückkehr in ein Gebiet außerhalb der Heimatregion erfahren und folglich auch nicht nach den Antragstellerinnen zu 1) und zu 3) suchen würde.
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b) Auch im Übrigen ist von der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids auszugehen.
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Zunächst ist ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot zugunsten der Antragstellerinnen zu 1) und zu 3) gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG nicht ersichtlich.
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Auch rechtliche Bedenken gegen die auf § 34 Abs. 1 AsyIG, § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung gegenüber den Antragstellerinnen zu 1) und zu 3) bestehen nicht. Weder die Gedächtnisprobleme und die Hepatitis C der Antragstellerin zu 1) noch die 2018 und 2019 diagnostizierten Probleme der Antragstellerin zu 3) mit ihrer Wirbelsäule begründen Abschiebungsverbote. Selbiges gilt für die im Schreiben einer Psychotherapeutin vom 11. August 2021 beschriebenen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung der Antragstellerin zu 1), die seitdem offenbar nicht zu weiterer medizinischer Behandlung geführt haben. Eine medizinische Basisversorgung ist zumindest in den Großstädten der Russischen Föderation gewährleistet (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 4.7.2024, S. 30). Eine Trennung der Kernfamilie aus Eltern und minderjährigen Kindern steht nicht zu befürchten, solange die Abschiebungsandrohung – wie tenoriert – nicht vor dem nahenden Eintritt der Volljährigkeit des Antragstellers zu 2) vollzogen wird.
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Bedenken bestehen schließlich auch nicht im Hinblick auf die Ausreisefrist von einer Woche, die das Bundesamt in Ziffer 5 des angefochtenen Bescheides entsprechend den gesetzlichen Vorgaben des § 36 Abs. 1 AsylG gesetzt hat. Die Antragsgegnerin hat hier eine Ersatzregelung für den Fall getroffen, dass innerhalb der Wochenfrist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt wird.
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4. Nach § 155 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG waren die Kosten nach alledem verhältnismäßig zu teilen. Nachdem eine stattgebende Entscheidung nur bzgl. des Antragstellers zu 2) in Betracht kam, erscheint die Tragung von 1/3 der Kosten durch die Antragsgegnerin und von 2/3 durch die Antragsteller interessengerecht.