Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 13.01.2025 – W 6 K 24.50451
Titel:

Erfolgreiche Asylklage gegen qualifizierte Ablehnung der Asylanträge und  Abschiebungsanordnung nach Bulgarien ("Dublin-Verfahren")

Normenketten:
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3, Art. 12 Abs. 4
AsylG § 31 Abs. 3 S. 1
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
RL 2013/33/EU Art. 21
Leitsatz:
Systemische Schwachstellen sind regelmäßig nur dann als Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK zu werten, wenn eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht wird, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt, jedoch nicht durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person erreicht wird. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin, Bulgarien, in mehrfacher Hinsicht vulnerable Personen, bejaht, systemische Mängel für diesen Personenkreis, Asylklage, Herkunftsland, Armenien, qualifizierte Asylantragsablehnung, Abschiebungsanordnung, systemische Mängel, vulnerabler Personenkreis, medizinische Versorgung, Lebensunterhalt
Fundstelle:
BeckRS 2025, 1199

Tenor

I.Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. November 2024 wird aufgehoben.
II.Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerinnen vorher in gleicher Höhe Sicherheit leisten.  

Tatbestand

1
Die Klägerinnen wenden sich gegen die Ablehnung ihrer Asylanträge als unzulässig und die Abschiebungsanordnung nach Bulgarien im Rahmen des sog. „Dublin-Verfahrens“.
2
1. Die Klägerinnen sind armenische Staatsangehörige, vom Volk der Armenier und christlichen Glaubens. Sie reisten am 8. August 2024 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 21. August 2024 förmliche Asylanträge.
3
Bei einer Erstbefragung und der Anhörung zur Zulässigkeit der Asylanträge gab die Klägerin zu 1) im Wesentlichen an: Sie hätten ihr Herkunftsland am 6. August 2024 verlassen und seien mit dem Flugzeug nach Bulgarien gereist und von dort am 8. August 2024 nach Deutschland. In Bulgarien hätten sie sich nur einen Tag in einem Hotel aufgehalten und keinen Asylantrag gestellt. Das Ziel sei von Beginn an Deutschland gewesen. Die Tochter habe seit der Geburt Probleme mit der Wirbelsäule (lumbale Meningoradikulozele), Paraplegie und „Mitrofanoff“ mit einem Katheter.
4
Ausweislich einer VIS-Antragsauskunft wurden den Klägerinnen am 29. Juli 2024 jeweils vom 6. August 2024 bis 3. September 2024 gültige Visa für den Schengenraum durch die bulgarischen Behörden erteilt.
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Auf ein Übernahmeersuchen vom 27. August 2024 erklärten diese mit Schreiben vom 4. September 2024 ihre Zuständigkeit für die Prüfung der Asylanträge auf Grundlage von Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO.
6
Mit Bescheid vom 8. November 2024 – zugestellt am 14. November 2024 – lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Asylanträge der Klägerinnen als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheides) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung nach Bulgarien (Nr. 3) sowie ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für elf Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 4) wurden angeordnet.
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2. Am 19. November 2024 ließen die Klägerinnen Klage erheben und beantragen,
den Bescheid vom 8. November 2024 aufzuheben.
8
Zur Begründung wird ausgeführt: In Bulgarien hätten die Antragstellerinnen keine Möglichkeit, an einem fairen Asylverfahren teilzunehmen, so dass sie ohne diese Möglichkeit abgeschoben werden könnten. Die Lage in Bulgarien sei mit der Lage in Ungarn zu vergleichen, aber noch ungerechter. Bulgarien gehöre wirtschaftlich betrachtet zu den ärmsten Ländern der EU. Die Einrichtungen für Asylbewerber seien dort sehr sporadisch und notbedürftig und kaum für Personen gedacht, die schwerstbehindert seien. Die medizinische Versorgung für solche Personen sei kaum vorhanden und angeboten. Eine alleinstehende Mutter werde dort überfordert sein und könne mit keiner notwendigen Hilfe rechnen. Auch das Prozedere des Asylverfahrens in Bulgarien sei alles andere als geordnet und in allen Gebieten des Landes gleich. In der Regel werde nicht einmal ein entsprechender Dolmetscher zur Verfügung gestellt. Es liege ein Einzelfall vor, der die Aufhebung des Bescheides wegen der Härte der Umstände rechtfertige.
9
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beantragt für die Beklagte,
die Klage abzuweisen.
10
Zur Begründung wird auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen und ergänzend ausgeführt, es bestehe auch unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Situation der Klägerin zu 2) kein Grund für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO, zumal diese Norm kein subjektives Recht begründe und folglich nicht einklagbar sei. Ferner liege kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Der Nachweis, dass die Erkrankung der Klägerin zu 2) lebensbedrohlich oder schwerwiegend sei und die Abschiebung zu einer wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands führen würde, sei nicht erbracht. Es sei zu erwarten, dass eine Behandlung in Bulgarien möglich sei und es gebe keine Anhaltspunkte, dass die Klägerinnen von medizinsicher Versorgung grundsätzlich ausgeschlossen seien. Es sei keine Krankheit bekannt, die in Bulgarien nicht behandelt werden könne.
11
3. Mit Beschluss vom 22. November 2024 (Az.: W 6 S 24.50452) wurde die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung angeordnet.
12
Mit Beschluss vom 18. Dezember 2024 übertrug die Kammer den Rechtsstreit auf den Einzelrichter zur Entscheidung.
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Die Beteiligten haben jeweils auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
14
4. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich des Verfahrens W 6 S 24.50452) sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage hat Erfolg.
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Sie ist zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. November 2024 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), denn das bulgarische Asyl- und Aufnahmesystem leidet in Bezug auf den hier in Rede stehenden Personenkreis von in mehrfacher Hinsicht besonders schutzbedürftigen Asylantragstellerinnen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) an systemischen Mängeln und die Beklagte durfte den Asylantrag der Klägerinnen mithin nicht als unzulässig ablehnen, weshalb sich auch die übrigen im Bescheid getroffenen Regelungen als rechtswidrig erweisen und aufzuheben waren.
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Im Einzelnen:
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1. Über die Klage konnte nach § 101 Abs. 2 VwGO mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.
19
Die Beteiligten haben mit Schreiben vom 27. Dezember 2024 (Klägerinnen) 30. Dezember 2024 (Beklagte) entsprechende Erklärungen abgegeben.
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2. Die Klage ist begründet, denn der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. November 2024 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Die Beklagte durfte den Asylantrag der Klägerinnen nicht als unzulässig ablehnen und in der Folge die Abschiebung nach Bulgarien anordnen, da das bulgarische Asyl- und Aufnahmesystem betreffend die Klägerinnen als in mehrfacher Hinsicht besonders schutzbedürftige Personen an systemischen Mängeln leidet, aufgrund derer ernsthaft zu befürchten steht, dass diese im Falle einer Überstellung nach Bulgarien unabhängig von ihrem Willen einer gegen Art. 3 EMRK / Art. 4 GRCh verstoßenden Behandlung ausgesetzt wären.
22
a.) Die Ablehnung des Asylantrags der Klägerinnen als unzulässig ist rechtswidrig und verletzt diese in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
23
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-VO) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Im Ausgangspunkt ist die Beklagte dabei zu Recht aufgrund der von Bulgarien erteilten Visa und der entsprechenden Übernahmeerklärung der bulgarischen Behörden davon ausgegangen, dass Bulgarien für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerinnen nach Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO zuständig ist.
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Allerdings kann die Beklagte sich nicht auf die Zuständigkeit Bulgariens berufen.
25
Das gemeinsame Europäische Asylsystem beruht auf dem „Prinzip gegenseitigen Vertrauens“ bzw. dem „Konzept der normativen Vergewisserung“, dass alle daran beteiligten Mitgliedstaaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), dem Protokoll von 1967 und in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) finden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 – NVwZ 2012, 417 Rn. 79). Dies begründet die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 80). Um das Prinzip gegenseitigen Vertrauens entkräften zu können, muss ernsthaft zu befürchten sein, dass dem Asylbewerber aufgrund genereller defizitärer Mängel im Asylsystem des eigentlich zuständigen Mitgliedstaats mit beachtlicher, d.h. mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6/14 – juris Rn. 6; EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 80; VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 41). Erforderlich ist insoweit die real bestehende Gefahr, dass in dem Mitgliedstaat, in den überstellt werden soll, die grundlegende Ausstattung mit den notwenigen, zur Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse elementaren Mitteln so defizitär ist, dass der materielle Mindeststandard nicht erreicht wird und der betreffende Mitgliedstaat dieser Situation nicht mit geeigneten Maßnahmen, sondern mit Gleichgültigkeit begegnet (vgl. NdsOVG, U.v. 29.1.2018 – 10 LB 82/17 – juris Rn. 34 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) kann allerdings die bloße schlechtere wirtschaftliche oder soziale Stellung der Person in dem zu überstellenden Mitgliedstaat nicht für die Annahme einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ausreichen (vgl. EGMR, B.v. 2.4.2013 – 27725/10 – ZAR 2013, 336, 70 f.). Der EGMR führt in seiner Entscheidung aus, dass Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung der Vertragsparteien enthalte, jede Person innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs mit Obdach zu versorgen oder finanzielle Leistungen zu gewähren, um ihnen dadurch einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen. Einer Überstellung im Rahmen des Dublin-Verfahrens stehen deshalb nur außergewöhnliche zwingende humanitäre Gründe entgegen.
26
Die Anforderungen an die Feststellung systemischer Mängel und eine daraus resultierende Widerlegung der Sicherheitsvermutung sind hoch. Konkretisierend hat der EuGH in seinem Urteil vom 19. März 2019 (C-163/17 – juris Rn. 91) ausgeführt, dass systemische Schwachstellen nur dann als Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK zu werten seien, wenn eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht werde, die von sämtlichen Umständen des Falles abhänge. Diese Schwelle sei aber selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden seien, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befinde, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden könne. Die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats müsse zur Folge haben, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befinde, die es ihr nicht erlaube, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 92 f.).
27
Bei der Beurteilung, ob in einem Zielstaat systemische Mängel in diesem Sinne vorliegen ist auf die konkrete Personengruppe abzustellen, welcher der / die jeweilige Betroffene angehört (vgl. hierzu: Nuckelt in BeckOK, Ausländerrecht, 42. Edition, Stand: 1.7.2024, § 29 AsylG Rn. 23 m.w.N.).
28
Es ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass es ich bei den Klägerinnen in mehrfacher Hinsicht um besonders schutzbedürftige, vulnerable Personen im Sinne von Art. 21 der RL 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationale Schutz beantragen (Aufnahmerichtlinie) handelt, deren besonderen Bedürfnisse bei der Aufnahme nach Maßgabe von Art. 22 der Aufnahmerichtlinie zu berücksichtigen sind. Vulnerabilität ist anzunehmen, wenn die betroffene Person gegenüber erwachsenen und gesunden Personen einen deutlich anderen bzw. höheren Versorgungsbedarf aufweist und deshalb mit widrigen Umständen erheblich weniger umgehen kann und deshalb wesentlich schneller unabhängig vom eigenen Willen in Situationen extremer Not geraten wird (vgl. VGH BW, U.v. 7.7.2022 – A 4 S 3696/21 – juris Rn. 40) und orientiert sich an den Umständen des Einzelfalls. Die Auslegung und Anwendung des Begriffs der Vulnerabilität unterliegt der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO, nicht aber den Restriktionen des § 60a Abs. 2c AufenthG analog.
29
Hiervon ausgehend liegt bei den Klägerinnen in mehrfacher Hinsicht eine besondere Vulnerabilität vor. Die Klägerin zu 1) ist eine alleinerziehende Mutter mit einer minderjährigen Tochter, der Klägerin zu 2), welche ausweislich der vorgelegten ärztlichen Atteste eine lumbale Meningoradikulezele, Paraplegie der Beine und einen Dekubitus aufweist. Die Klägerin zu 2) ist querschnittsgelähmt, sitzt im Rollstuhl und wird mit einem Mitrofanoff-Stoma (künstlicher Harnausgang) versorgt. Sowohl Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern als auch Personen mit Behinderungen werden ausdrücklich in Art. 21 der Aufnahmerichtlinie genannt. Die besondere Vulnerabilität ergibt sich zur Überzeugung des erkennenden Einzelrichters aus den Angaben der Klägerin zu 1) gegenüber dem Bundesamt und den vorgelegten ärztlichen Attesten aus dem Heimatland (Bl. … *er Behördenakte) sowie des L* … Krankenhauses S* … vom 26. August 2024 (Bl. … Dies vorangestellt liegen für diesen Personenkreis zur Überzeugung des erkennenden Einzelrichters zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) systemische Mängel des bulgarischen Asyl- und Aufnahmesystems nach obigen Maßstäben vor, welche die Verletzung der in Art. 3 EMRK / Art. 4 GRCh verbürgten Rechte ernsthaft befürchten lassen (so im Ergebnis auch: OVG MV, U.v. 2.2.2024 – 4 LB 653/22 OVG – juris Rn. 34 ff.).
30
Dies ergibt sich aus Folgendem:
31
Die Unterbringungssituation für besonders vulnerable Antragstellende in Bulgarien ist unzureichend. Auch wenn die Kapazitätsgrenze der bestehenden Unterbringungszentren in Bulgarien Ende 2023 lediglich zu 77% ausgeschöpft war und vor diesem Hintergrund nicht davon auszugehen ist, dass regelhaft die Gefahr von Obdachlosigkeit aufgrund mangelnder Kapazität besteht (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Bulgarien, Version 6, 29.7.2024, S. 14), ist zu beachten, dass die Verhältnisse in den Unterbringungszentren in Bezug auf die hygienischen Verhältnisse und die Sicherheit mangelhaft sind und im Bereich der Unterbringung die Bedürfnisse vulnerabler Personen kaum berücksichtigt werden (vgl. AIDA, Country report: Bulgaria 2023, 12.4.2024, S. 17 f.; S. 87; ACCORD, Anfragebeantwortung vom 30. 4.2024, S. 4 ff.). Unter Bezugnahme auf einen Bericht des Europarats aus dem Januar 2024 führt das Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD) in der Anfragebeantwortung vom 30. April 2024 insbesondere aus, dass die Unterbringungsräumlichkeiten Schäden und Insektenbefall aufweisen und Personalmangel sowie mangelnde Sicherheit herrscht. Auch das Bulgarian Helsiniki Comittee beschreibt in einem Bericht vom April 2024 schlechte Bedingungen in den Aufnahmezentren, wonach in einigen Fällen grundlegende Dienstleistungen, wie angemessene Ernährung oder sanitäre Einrichtungen nicht bereitgestellt werden konnten, es in einigen Unterkünften zu keiner regelmäßigen Wasserversorgung gekommen ist und Schädlingsbefall seit vielen Jahren zu den hartnäckigsten Problemen in Aufnahmeeinrichtungen führt. Der Hygienestandard der Zentren erreicht dabei kaum das erforderliche Minimum und die nationale bulgarische Asylbehörde (SAREF) erhielt in den Jahren 2023 und 2024 keinerlei Budget für Instandsetzungsmaßnahmen (vgl. ACCORD, a.a.O., S. 8 f. m.w.N.; BFA, a.a.O., S. 14). Die Sicherheitssituation in den Aufnahmezentren ist aufgrund der Präsenz von Schmugglern, Drogendealern und Sexarbeiter/innen, die zur Nachtzeit ohne Einschreiten des Sicherheitspersonals Zugang zu den Zentren haben, problematisch (AIDA, a.a.O., S. 18 f.).
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Auch wenn diese Verhältnisse unter Zugrundelegung des oben näher ausgeführten strengen Maßstabes und unter Berücksichtigung der hierzu ergangenen (ober-)gerichtlichen Rechtsprechung für nicht vulnerable Antragsteller/innen noch nicht die Annahme rechtfertigen, dass generell eine gegen Art. 3 EMRK / Art. 4 GRCh drohende Behandlung bei einer Rücküberstellung nach Bulgarien droht (vgl. zur Rechtsprechung etwa: OVG NW, U.v. 10.9.2024 – 11 A 1460/23.A – juris Rn. 41; B.v. 25.5.2023 – 11 A 1257/22.A – juris Rn. 53; VGH BW, U.v. 24.2.2022 – A 4 S 162.22 – juris Rn. 32; HessVGH, U.v. 26.10.2021 – 8 A 1852/20.A – juris Rn. 35), gilt dies jedenfalls nicht für den hier in Rede stehenden Personenkreis von in mehrfacher Hinsicht besonders schutzbedürftiger Personen.
33
Denn wie näher ausgeführt weisen vulnerable Personen wie die Klägerinnen einen im Vergleich zu einem gesunden Erwachsenen einen deutlich höheren Versorgungs- und Schutzbedarf auf, was insbesondere für die Klägerin zu 2) gilt, die aufgrund ihrer Versorgung mittels künstlichem Harnausgang in besonderem Maße auf adäquate hygienische Verhältnisse angewiesen ist.
34
Gerade im Hinblick auf die prekären hygienischen Verhältnisse und die Sicherheitslage in den Unterbringungseinrichtungen in Bulgarien und dem Umstand, dass besonderer Vulnerabilität bei der Unterbringung kaum Rechnung getragen wird, besteht die ernsthafte Befürchtung, dass gerade die Klägerin zu 2) nicht in der Lage sein wird, ihre elementarsten Bedürfnisse als Mensch mit Behinderung zu befriedigen und damit einer gegen Art. 3 EMRK / Art. 4 GRCh verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass sich der bulgarische Staat gegenüber den bestehenden Problemen im Bereich der Unterbringung jedenfalls in Teilen gleichgültig zeigt, wenn die Asylbehörde – wie oben erwähnt – in den Jahren 2023 und 2024 keinerlei Budget für Instandhaltungsarbeiten in den Unterbringungszentren erhalten hat. Es ist insoweit ferner zu beachten, dass die in Bulgarien bestehenden Erkennungsmechanismen bezüglich einer etwaigen Vulnerabilität nicht hinreichend durchgesetzt werden, wenn die hierfür zuständigen Personen in lediglich 50% der Registrierungen anwesend sind, in 6% der Fälle eine Beurteilung der Vulnerabilität Niederschlag in die jeweilige Fallakte findet und in 0% der Fälle die festgestellte Vulnerabilität bei der erstinstanzlichen Entscheidung berücksichtigt wurde (vgl. AIDA, Country Report Bulgaria, 2023, 12.4.2024, S. 58).
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Die real bestehende Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK / Art. 4 GRCh verstoßenden Behandlung ergibt sich umso mehr, wenn dazu noch die – für das vorliegende Verfahren ohne Weiteres zu unterstellende (vgl. VGH BW, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 40) – Situation der Klägerinnen nach einer Anerkennung als Schutzberechtigte in Bulgarien in den Blick genommen wird.
36
Auch insoweit ist zunächst zu beachten, dass die hierzu ergangene Rechtsprechung ebenfalls ausdrücklich auf die Situation nicht vulnerabler Personen Bezug nimmt (vgl. etwa: VGH BW, U.v. 19.7.2024 – A 4 S 257/24 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 28.3.2024 – 24 B 22.31108 – juris Rn. 29 ff.; OVG NW, U.v. 14.2.2024 – 11 A 1440/23.A – juris Rn. 46 ff.).
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Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat dabei in seinem Urteil vom 28. März 2024 (Az.: 24 B 22.31108) im Wesentlichen ausgeführt, dass in wirtschaftlicher Hinsicht die Situation in Bulgarien zwar im Allgemeinen und damit auch für Rückkehrer schwierig sei. Es bestünden aber dennoch grundsätzlich ausreichende Möglichkeiten, Erwerbsgelegenheiten zu ergreifen und so zumindest einen Beitrag zum eigenen Lebensunterhalt zu leisten. Anerkannt Schutzberechtigte hätten zum Arbeitsmarkt in rechtlicher Hinsicht auf die gleiche Weise Zugang wie bulgarische Staatsbürger. Zwar würden anerkannt Schutzberechtigte nur schlecht bezahlte und unqualifizierte Beschäftigung erhalten; sie könnten aber dennoch auf diese Weise einen Beitrag zu ihrem Lebensunterhalt erwirtschaften. Es gebe im geringen Umfang Unterstützungsangebote durch Nichtregierungsorganisationen. Staatliche Unterstützungsleistungen aus den allgemeinen Sozialversicherungssystemen stünden den anerkannt Schutzberechtigten faktisch nur selten zur Verfügung, auch wenn sie rechtlich unter denselben Bedingungen wie bulgarische Staatsangehörige Anspruch auf Sozialleistungen hätten (die Sozialhilfe beträgt ca. 38,00 EUR pro Monat, vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Hamburg vom 7.4.2021). Denn Anerkannte seien häufig mit hohen Zugangshürden konfrontiert, die einer tatsächlichen Inanspruchnahme der Leistungen vielfach entgegenstehen. Ohne Beiziehung eines Dolmetschers oder ohne Inanspruchnahme anderer Vermittlerleistungen, deren Verfügbarkeit aber ihrerseits weder gesetzlich noch institutionell gewährleistet seien, scheitere die Inanspruchnahme häufig (vgl. AIDA, Country Report: Bulgaria, Stand: 2022, S. 112; BFA, vom 29.9.2023, S. 24). Hinsichtlich der für die Rückkehrprognose auch relevanten Frage nach der Verfügbarkeit ausreichender Unterkunftsmöglichkeiten seien Rückkehrer – vorbehaltlich anderweitiger Notunterkünfte – vorrangig auf eine privatrechtliche Anmietung angewiesen. Denn ein Anspruch auf Unterbringung in einer Flüchtlingsunterkunft bestehe nicht mehr (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 29.9.2023, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, im Folgenden: BFA v. 29.9.2023, S. 21). Auch ein Anspruch auf eine Sozialwohnung bestehe weder für Rückkehrer noch für bulgarische Staatsangehörige. Bei kommunalen Wohnungen richteten sich die Zugangsvoraussetzungen nach den jeweils örtlichen Vorschriften und variieren entsprechend. Sie seien aber für Rückkehrer in der Regel nicht zu erfüllen (vgl. im Einzelnen Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 22.8.2023, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, im folgenden BFA v. 22.8.2023, S. 23). Damit sei die Gesamtsituation für Rückkehrer insbesondere hinsichtlich der wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen schwierig und geht mit großen Herausforderungen einher. Es bestünden aber im Allgemeinen ausreichende Möglichkeiten, nicht vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängig zu sein, oder aber jedenfalls unter Inanspruchnahme von bestehenden Unterstützungsangeboten sich zu ernähren, zu waschen und eine Unterkunft zu finden.
38
Dies zu Grunde gelegt ist der erkennende Einzelrichter nicht davon überzeugt, dass die Klägerinnen aufgrund ihrer besonderen Vulnerabilität und den Umständen ihres konkreten Einzelfalls in der Lage wären, trotz der o.g. Schwierigkeiten im Falle einer Schutzgewährung in Bulgarien eine gegen Art. 3 EMRK/Art. 4 GRCh verstoßende Behandlung abzuwenden (so für eine Familie mit drei minderjährigen Kindern auch: VG Bremen, B.v. 4.7.2022 – 2 V 153/22 – juris; a.A.: VG Bayreuth, B.v. 17.7.2024 – B 7 S 24.31749 – juris).
39
Es ist insbesondere aufgrund aktueller Erkenntnismittel nicht zu erkennen, dass sich die Situation für anerkannt Schutzberechtigte in Bulgarien zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) im Vergleich zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs signifikant verbessert hat. Vielmehr gibt es in Bulgarien für anerkannt Schutzberechtigte im Wesentlichen keinerlei staatliche Integrationshilfe mehr, was zur Folge hat, dass diese nur sehr eingeschränkt in der Lage waren, selbst grundlegende soziale Arbeits- und Gesundheitsrechte zu genießen (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Bulgarien, Version 6, 29.7.2024, S. 23). Die Probleme beim Zugang zu Wohnraum und dem sozialen Sicherungssystem bestehen weiterhin (vgl. BFA, a.a.O., S. 24; AIDA, Country Report: Bulgaria, 2023, S. 119).
40
Die oben näher ausgeführten Lebensbedingungen für anerkannt Schutzberechtigte erfordern von diesen ein erhöhtes Maß an Eigeninitiative, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Ein solches mag dabei nicht vulnerablen anerkannt Schutzberechtigten zuzumuten sein, sodass in Einklang mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung davon auszugehen ist, dass für diesen Personenkreis keine generelle Verletzung von Art. 3 EMRK / Art. 4 GRCh aufgrund der Verhältnisse in Bulgarien droht.
41
Für den vorliegenden Fall ist damit allerdings noch keine Aussage getroffen, da die Klägerinnen – wie oben ausgeführt – als besonders vulnerable Personen anzusehen sind. Das Gericht geht dabei aufgrund einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalls nicht davon aus, dass die Klägerinnen, insbesondere die Klägerin zu 1), in der Lage sein werden, die erforderliche zusätzliche Eigeninitiative im Falle einer Rückkehr aufzubringen. Es ist insoweit zu berücksichtigen, dass die Klägerin zu 2) aufgrund ihrer Behinderung einem erhöhten Maß an Betreuung und Unterstützung bedarf, welche in Ermangelung weiterer Familienangehöriger in Bulgarien vorrangig durch die Klägerin zu 1) zu erbringen ist. Darüber hinaus haben die Klägerinnen sich lediglich einen Tag in Bulgarien aufgehalten und damit nicht mit den dortigen Verhältnissen vertraut. Weiter ist nicht ersichtlich, dass die Klägerinnen über bulgarische Sprachkenntnisse verfügen. Unter Berücksichtigung der schwierigen sozialen Rahmenbedingungen besteht daher auch im Falle einer Schutzanerkennung in Bulgarien die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung für die Klägerinnen.
42
Die Beklagte hat sich zur Frage der besonderen Vulnerabilität der Klägerinnen weder im streitgegenständlichen Bescheid noch auf wiederholten Hinweis im Klageverfahren ausdrücklich verhalten. Sie hat zudem keine Erkenntnismittel oder Rechtsprechung vorgelegt, die im Hinblick auf den in Rede stehenden Personenkreis von in mehrfacher Hinsicht vulnerablen Personen zu einer abweichenden Beurteilung führen würde.
43
Soweit die Beklagte die Behinderung der Klägerin zu 2) allein unter dem Aspekt eines krankheitsbedingten Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG betrachtet, greift dies zu kurz, da eine Behinderung darüber hinaus eine dauerhafte Beeinträchtigung an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft darstellt (vgl. § 2 Abs. 1 SGB IX). Im Übrigen ist die Behinderung der Klägerin zu 2) auch vor dem Hintergrund der daraus resultierenden besonderen Schutzbedürftigkeit im Sinne von Art. 21 der Aufnahmerichtlinie von der Beklagten zu beachten. Hierzu hat die Beklagte im gesamten Verfahren trotz gerichtlicher Aufforderung keinerlei inhaltliche Stellungnahme abgegeben, sondern sich auf den Standpunkt zurückgezogen, ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot liege nicht vor.
44
Nach alledem kann sich die Beklagte gemäß Art. 3 Abs. 2 Uabs. 2 Dublin III-VO nicht auf die Zuständigkeit Bulgariens für die Prüfung des Asylantrags der Klägerinnen berufen und ist in Ermangelung von Anhaltspunkten für die Zuständigkeit eines weiteren Mitgliedsstaates nach Art. 3 Abs. 2 Uabs. 3 Dublin III-VO für die Prüfung zuständig geworden.
45
b.) In der Folge der Rechtswidrigkeit der Nr. 1 des Bescheides sind auch die übrigen darin getroffenen Entscheidungen rechtswidrig und daher aufzuheben.
46
Durch die Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung wird auch die Entscheidung des Bundesamtes über das Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG rechtswidrig, da die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für diese Feststellung nicht mehr vorliegen (§ 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG). Es kommt vor diesem Hintergrund nicht mehr darauf an, ob die Annahme der Beklagten, ein Abschiebungsverbot liege nicht vor, zutreffend ist, da die Entscheidung aufgrund der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung jedenfalls verfrüht ergangen ist (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 21 zur vergleichbaren Konstellation bei Ablehnung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG).
47
Die Tatbestandsvoraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsanordnung (Nr. 3 des Bescheides) liegen im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt ebenfalls nicht vor, da Bulgarien kein für die Durchführung des Asylverfahrens zuständiger Staat ist (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG).
48
Mit der Aufhebung der Abschiebungsanordnung entfällt zuletzt die Grundlage für das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot in Nr. 4 des Bescheides (§ 75 Nr. 12 AufenthG).
49
3. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
50
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11 und § 711 ZPO.