Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 10.01.2025 – W 1 K 24.31465
Titel:

Afghanistan, keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Vorverfolgung in Form von drohender Entführung durch die Taliban (wie angeblich dem Bruder widerfahren) wegen Belieferung des afghanischen Militärs mit Wasser nicht glaubhaft, keine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung im Rückkehrfall, kein Abschiebungsverbot aus wirtschaftlichen Gründen aufgrund guter eigener Anlagen und Fähigkeiten sowie aufgrund eines tragfähigen familiären Netzwerk, Beschreibung der eigenen wirtschaftlichen Lage als gut, entgegenstehende Angaben hinsichtlich veränderter Umstände nicht glaubhaft

Normenketten:
AsylG § 3
AsylG § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
AsylG § 34
AufenthG § 11
Schlagworte:
Afghanistan, keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Vorverfolgung in Form von drohender Entführung durch die Taliban (wie angeblich dem Bruder widerfahren) wegen Belieferung des afghanischen Militärs mit Wasser nicht glaubhaft, keine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung im Rückkehrfall, kein Abschiebungsverbot aus wirtschaftlichen Gründen aufgrund guter eigener Anlagen und Fähigkeiten sowie aufgrund eines tragfähigen familiären Netzwerk, Beschreibung der eigenen wirtschaftlichen Lage als gut, entgegenstehende Angaben hinsichtlich veränderter Umstände nicht glaubhaft
Fundstelle:
BeckRS 2025, 1190

Tenor

I.Die Klage wird abgewiesen.
II.Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.  

Tatbestand

1
Der Kläger ist nach eigenen Angaben bei seiner Ausreise aus Afghanistan 15 Jahre alt gewesen, was ihm seine Mutter gesagt habe, nachdem er zunächst angegeben hatte, bei der Ausreise 17 Jahre alt gewesen zu sein. Er hat eine Tazkira vorgelegt, ausgestellt am …1397 nach afghanischem Kalender, wonach er aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes im Jahr 1397 zwölf Jahre alt gewesen sei. Die Beklagte hat hingegen ein Geburtsdatum am …2000 angenommen. Das Jugendamt des Landkreises B* … Land hat die vorläufige Inobhutnahme des Klägers wegen angenommener Volljährigkeit mit bestandskräftigem Bescheid vom 16.10.2022 abgelehnt. Anhand der physikalisch-technischen Urkundenuntersuchung der vom Kläger vorgelegten Tazkira ergab sich am 13.02.2023, dass der Vordruck des Dokuments kopiertechnisch erstellt worden sei. Zudem könne die eingebrachte Dokumentennummer nicht dem Ausstellungszeitraum sowie dem Vordruck zugeordnet werden. Aufgrund dessen gehe man von einer nicht amtlichen Ausstellung, mithin einer Totalfälschung, aus. Der Kläger sei paschtunischer Volks- und islamischer Glaubenszugehörigkeit. Er habe sein Heimatland am 16.08.2021, nach anderweitiger Angabe am 17.08.2021, verlassen und sei sodann am 16.10.2022 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, wo er am 09.02.2023 einen Asylantrag gestellt hat.
2
Im Rahmen seiner Befragung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 24.11.2023 gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er bis zu seiner Ausreise mit seinen Eltern, drei Brüdern und einer Schwester in einem im Eigentum der Familie stehenden Haus in einem Dorf in der Provinz Kunar gelebt habe. Heute lebten dort noch die Eltern, zwei Brüder und eine Schwester. Auch seine Großfamilie lebe noch in Afghanistan. Der letzte Kontakt zu den Eltern habe am gestrigen Tage bestanden. Die Fluchtkosten habe bis zur Türkei der Onkel mütterlicherseits finanziert, von dort aus sein Vater. Er habe die Schule bis zur 8. Klasse besucht, diese dann wiederholt, jedoch nicht abgeschlossen. Einen Beruf habe er nicht gelernt. Er sei Schüler gewesen und habe nach dem Unterricht gegen Entgelt einen Militärposten mit Wasser beliefert. Zu seinen Fluchtgründen gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er als Schüler nach der Schule nachmittags Wasser zu einem Militärposten hochgebracht habe; sein Bruder habe dies vormittags gemacht. Die Taliban seien dann zu ihnen nach Hause gekommen, auf Nachfrage am 18.08.2021, und hätten seinen Bruder festgenommen sowie nach ihm und seinem Aufenthaltsort gefragt. Er sei währenddessen in der Schule gewesen. Die Taliban hätten seinem Vater gesagt, dass er sich bei ihnen melden solle. Sein Onkel habe ihn dann unterstützt, Afghanistan zu verlassen. Sein Bruder sei bis heute verschollen. Sein Vater sei von den Taliban ebenfalls mitgenommen worden; sie hätten ihn 3 Monate belästigt und hätten ständig gewollt, dass er sich bei ihnen melde. Der Vater habe ihnen erklärt, dass er keinen Kontakt zum Kläger habe. Derzeit sei sein Vater zu Hause, werde jedoch immer noch ungefähr alle 2 Monate von den Taliban belästigt. Die Taliban hätten seinem Vater und anderen Familienangehörigen Videos von seinem Bruder geschickt, damit der Kläger sich bei den Taliban melde. Der Kläger führte beim Bundesamt 2 Videos auf seinem Handy vor, die von den Taliban aufgenommen sein sollen. Eines zeigt einen Mann, den der Kläger als seinen Bruder bezeichnet, und 3 bewaffnete bärtige Männer in einem dunklen Raum, welche die andere Person befragen, wo sich sein Bruder S* … befinde. Die Person antwortet, dass er dies nicht wisse; es bestehe kein Kontakt. Einer der Männer sagt daraufhin, dass er gezwungen sein könnte, ihn so zu schlagen, dass er auf den Boden fällt. Das andere Video zeigt bewaffnete Männer, welche den vom Kläger als dessen Bruder bezeichneten Mann in den Bergen abführen. Auf Nachfrage gab der Kläger weiter an, dass sein Bruder 23 Jahre alt sei und die Taliban ihm vorwerfen würden, dass er das Militär mit Wasser versorgt habe. Er habe damals von seiner Mutter in der Schulpause telefonisch erfahren, dass sein Bruder festgenommen worden sei und die Taliban auf ihn warteten. Er habe daraufhin mit dem Onkel mütterlicherseits Kontakt aufgenommen, der ihm gesagt habe, er solle schnellstmöglich nach Kabul gehen; er werde dann die Weiterreise organisieren. Die Taliban hätten damals vor dem Haus der Familie gewartet. Die gezeigten Videos seien von damals, er habe sie erst später, vor ca. fünf Monaten, erhalten. Auf die Frage, aus welchem Grunde die Taliban ein so großes Interesse daran haben sollten, einen Schüler, der nach der Schule Wasser an Militärangehörige verkaufe, zu verhaften, gab der Kläger an, dass ehemalige Staatsbeschäftigte entgegen der Amnestie bestraft würden. Die Sache sei bei ihm, dass es in der Anfangszeit gewesen sei. Er habe Angst gehabt, dass ihm etwas passiere. Im Rückkehrfalle befürchte er, dass die Taliban ihn umbringen, da sie immer noch nach ihm suchten. Bis heute gebe es kein Lebenszeichen von seinem Bruder.
3
Vor seiner Asylantragstellung in Deutschland hatte der Kläger bereits einen Asylantrag in Österreich gestellt, wo er bei einer Befragung vom 11.10.2022 bereits Angaben zu seinen persönlichen Verhältnissen und zum Grund seiner Ausreise aus Afghanistan gemacht hat, die teilweise von seinen Angaben beim Bundesamt abweichen.
4
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 13.08.2024 wurde die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt (Ziffer 1), der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt (Ziffer 2), der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt (Ziffer 3), festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 4), der Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen; im Falle einer Klageerhebung ende die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens. Solle die Ausreisefrist nicht eingehalten werden, werde der Antragsteller nach Afghanistan abgeschoben (Ziffer 5), sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6).
5
Zur Begründung wurde im Wesentlichen dargelegt, dass der freie Vortrag des Klägers äußerst knapp, ohne Details und nicht anschaulich gewesen sei. Eigene subjektive Empfindungen seien ebenso wenig zum Ausdruck gebracht worden. Darüber hinaus sei der Sachvortrag im Kern lebensfremd und in mehrfacher Hinsicht widersprüchlich gewesen. So sei lebensfremd, dass die Taliban ein derartiges Verfolgungsinteresse an dem Kläger haben sollten, dass diese noch nach dessen Ausreise immer wieder seinen Vater bedrohen würden und auch Drohvideos schickten, nur weil der Kläger als Schüler nachmittags Wasser zu einem Militärposten geliefert habe. Wäre den Taliban dagegen derart daran gelegen gewesen, des Klägers habhaft zu werden, so wäre davon auszugehen, dass diese gewartet hätten, bis er von der Schule zurück gewesen sei, und der Mutter andererseits keine Gelegenheit geben, diesen in der Pause anzurufen und zu warnen. Im Hinblick auf seine Tazkira sei es chronologisch nicht möglich, diese am 22.12.2022 vorzulegen, wenn man sie erst im Januar 2023 erhalten habe. Zudem handele es sich hierbei um eine Totalfälschung. Auch die Angaben zum Alter im Zeitpunkt der Ausreise seien widersprüchlich. So habe der Kläger zunächst angegeben, dass er damals 17 Jahre alt gewesen sei, nach Rückübersetzung habe er dann 15 Jahre angegeben. Wenn ihm seine Mutter dies so gesagt habe, sei kein Grund ersichtlich, weshalb er zunächst ein Alter von 17 Jahren äußern sollte. Desweiteren stünden die Angaben in unauflösbarem Widerspruch zu seinen vorherigen Angaben im Rahmen seiner Erstbefragung in Österreich. Dort habe er Reisekosten von ca. 6.000,00 EUR angegeben, in Deutschland hingegen von explizit 800.000,00 EUR. Nach Angaben in Österreich habe sein Bruder die Reisekosten finanziert, während er beim Bundesamt insoweit seinen Onkel und Vater benannt hat. In Österreich habe der Kläger erklärt, zwölf Jahre die Schule besucht und danach ein Jahr studiert zu haben, während er in Deutschland die Schule lediglich bis zur 8. Klasse besucht haben wolle. In Österreich habe er auf Verwandte in Belgien verwiesen, weshalb dies ein Zielland sei, in Deutschland dagegen, dass keine Verwandten außerhalb seines Heimatlandes lebten. Zudem stünden auch die in Österreich in Zusammenfassung erklärten Motive für die Ausreise in Widerspruch zu seinen Angaben beim Bundesamt. Dort habe er in Essenz die allgemein unsichere Lage und fehlende Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten im Heimatland benannt, während von einer Verfolgung als Wasserlieferant für das Militär keine Rede gewesen sei. Auch die Angaben zum Alter des Klägers seien nach objektiver Einschätzung falsch. Insofern werde auf den Bescheid des Amtes für Kinder, Jugend und Familien des Landratsamtes Berchtesgadener Land Bezug genommen. Die vom Kläger vorgeführten Videos hätten gestellt und in keiner Weise überzeugend gewirkt. Im Kontext zu dem unglaubhaften Sachvortrag und den geradezu dreist widersprüchlichen Angaben sei davon auszugehen, dass diese Videos keinen realen Vorgang wiedergäben, sondern für den Kläger inszeniert worden seien. Es sei auch nicht nachvollziehbar, weshalb das zweite Video von einer Anhöhe hinter einem Busch gefilmt worden sei, quasi aus der Perspektive eines heimlichen Beobachters, wenn beide Videos von den Taliban an die Familie des Klägers geschickt worden seien. In der Gesamtschau sei das Vorbringen unglaubhaft und der Kläger darüber hinaus als unglaubwürdig zu erachten. Darüber hinaus lägen auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes sowie für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nicht vor. Bezüglich letzterem sei auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers eine Verletzung von Art. 3 EMRK nicht beachtlich wahrscheinlich. Nach Angaben des Klägers lebten im Heimatland seiner Eltern, zwei Brüder und eine Schwester in einem der Familie gehörenden Haus. Darüber hinaus lebe in Afghanistan auch die gesamte Großfamilie. Dem Kläger seien die Ausreisekosten finanziert worden, wobei unabhängig von der widersprüchlich angegebenen Höhe davon auszugehen sei, dass der Kläger nötigenfalls Hilfe von seiner Familie und seinen Verwandten erhalten könne. Zudem habe er auch Unterstützung durch die Familie erhalten, indem diese ihm eine gefälschte Tazkira übermittelt habe. Zudem sei davon auszugehen, dass der Kläger Unterstützer im Heimatland habe, welche für ihn sogar Videos inszenierten, um seine vorgeblichen Fluchtgründe zu belegen. Der Umstand, dass es sich hierbei um traditionell gekleidete, bärtige und bewaffnete Männer handele, spreche dafür, dass der paschtunische Kläger im Heimatland ein tragfähiges soziales Netz habe und nicht davon auszugehen sei, dass er dort das Existenzminimum nicht erreichen könne. Davon gehe der Kläger offenbar auch selbst aus, denn anders sei dessen Selbstbewusstsein bei seinem herausstechend dreisten Vortrag offenkundig falscher Angaben vor einer Behörde eines Staates, in welchem er vorgeblich Schutz vor Verfolgung suche, nicht erklärbar. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger geistigen wie finanziellen Rückhalt im Heimatland habe.
6
Der Kläger hat gegen den vorgenannten Bescheid am 19.08.2024 Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg erhoben und auf seine Anhörung beim Bundesamt verwiesen. Überdies hat er vortragen lassen, dass der Vater des Klägers in der Woche vor Weihnachten wieder von den Taliban verhaftet und geschlagen worden sei. Dieser befinde sich weiterhin bei den Taliban.
7
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger seine Klage insoweit zurücknehmen lassen, als beantragt war, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen. Daraufhin wurde das Verfahren insoweit durch Beschluss abgetrennt und eingestellt (W 1 K 25.300024).
8
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. August 2024 (Az. …*) wird aufgehoben.
9
Die Bundesrepublik Deutschland wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
hilfsweise dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen;
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
10
Eine Vertreterin der Beklagten hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
11
Durch Beschluss des Verwaltungsrechts Würzburg vom 12.12.2024 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
12
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der vorgelegten Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten verhandeln und entscheiden, da in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO).
14
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat in dem für die gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz AsylG) keinen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten, ihm unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 13.08.2024 die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen, ihm hilfsweise den subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zuzuerkennen bzw. weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, für ihn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 bzw. § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Afghanistan festzustellen.
15
Das Gericht verweist – soweit sich die Ausführungen auf § 3 AsylG und § 4 AsylG beziehen – zunächst auf die Ausführungen in dem streitgegenständlichen Bescheid vom 13.08.2024 und folgt der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes, § 77 Abs. 3 AsylG.
16
Darüber hinaus ist Folgendes auszuführen:
17
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
18
a) Rechtsgrundlage der begehrten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, soweit er keinen Ausschlusstatbestand nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt. Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention – GK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Nach § 77 Abs. 1 AsylG ist vorliegend das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 02.09.2008 (BGBl. I S. 1798), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 25.10.2024 geändert worden ist BGBl. 2024 I Nr. 332), anzuwenden. Dieses Gesetz setzt in §§ 3 bis 3e AsylG – wie die Vorgängerregelungen in §§ 3 ff. AsylVfG – die Vorschriften der Art. 6 bis 10 der RL 2011/95/EU vom 28. August 2013 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt Nr. L 337, S. 9) – Qualifikationsrichtlinie im deutschen Recht um. Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK (BGBl 1952 II, S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylG muss die Verfolgung an eines der flüchtlingsrelevanten Merkmale anknüpfen, die in § 3b Abs. 1 AsylG näher beschrieben sind, wobei es nach § 3b Abs. 2 AsylG ausreicht, wenn der betreffenden Person das jeweilige Merkmal von ihren Verfolgern zugeschrieben wird. Nach § 3c AsylG kann eine solche Verfolgung nicht nur vom Staat, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen.
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Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung der vorstehend beschriebenen Art liegt vor, wenn dem Antragsteller politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dies ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anhand einer Verfolgungsprognose zu beurteilen, die die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch unterstellten Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat. Beachtlich wahrscheinlich ist eine Verfolgung danach, wenn bei der im Rahmen dieser Prognose vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Insofern ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung geboten, bei der letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit maßgebend ist. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Ausländers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer quantitativen oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50% Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben allerdings die Gesamtumstände des Einzelfalls die „tatsächliche Gefahr“ („real risk“) einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Er wird bei der Abwägung aller Umstände zudem auch immer die Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung mit einstellen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es aus Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber schwere Misshandlungen bzw. Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (vgl. zu alledem BVerwG, U.v. 05.11.1991 – 9 C 118/90 – juris Rn. 17; EuGH-Vorlage v. 07.02.2008 – 10 C 33/07 – juris Rn. 37).
20
Die begründete Furcht vor Verfolgung kann dabei sowohl auf tatsächlich erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung bereits vor der Ausreise im Herkunftsstaat (sog. Vorverfolgung) als auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe). Für Vorverfolgte gilt innerhalb des auch insoweit anzuwenden Maßstabes der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eine Beweiserleichterung. Denn nach Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie) ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist. In diesen Fällen streitet also die tatsächliche Vermutung dafür, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann allerdings widerlegt werden, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit der Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, U.v. 27.04.2010 – 10 C 5/09 – juris Rn. 22 ff.).
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Auch in Asylstreitigkeiten muss sich das Gericht die nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO gebotene Überzeugungsgewissheit verschaffen. Dies bedeutet, dass es die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur der Wahrscheinlichkeit – des behaupteten individuellen Schicksals erlangen muss. Hinsichtlich der Anforderungen an den Klägervortrag muss insoweit unterschieden werden zwischen den in den allgemeinen Verhältnissen des Herkunftslands liegenden Umständen und den in die Sphäre des Schutzsuchenden fallenden Ereignissen. Im Hinblick auf Erstere ist es bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte Aufgabe der Beklagten und der Gerichte, unter vollständiger Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen die Gegebenheiten im Herkunftsstaat aufzuklären und darauf aufbauend eine Verfolgungsprognose zu treffen. Bezüglich bereits erlittener Verfolgung im Herkunftsstaat obliegt es demgegenüber dem Antragsteller diese in schlüssiger Form vorzutragen. Hierzu gehört, dass er zu seinen persönlichen Erlebnissen im Verfolgerland unter Angabe genauer Einzelheiten eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen unter anderem Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden. Angesichts der insoweit typischerweise bestehenden Beweisnot im Asylverfahren kommt in diesem Zusammenhang der Würdigung des persönlichen Vorbringens des Antragstellers eine gesteigerte Bedeutung zu. So kann allein der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zur Anerkennung führen, wenn sein Vorbringen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft“ ist, dass sich das Gericht von der Wahrheit überzeugen kann. Andererseits kann es der richterlichen Überzeugungsbildung von der Wahrheit des Vortrags entgegenstehen, wenn das Vorbringen erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten enthält, die nicht überzeugend aufgelöst werden oder der Schutzsuchende sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, ohne nachvollziehbar erklären zu können, aus welchen Gründen er maßgebliche Umstände nicht bereits früher erwähnt hat (vgl. zu alledem BVerwG, U.v. 25.06.1991 – 9 C 131/90 – juris Rn. 9; B.v. 21.07.1989 – 9 B 239/08 – juris Rn. 3; U.v. 08.02.1989 – 9 C 29.87 – juris Rn. 9; U.v. 23.02.1988 – 9 C 273/86 – juris Rn. 11; OVG NW, U.v. 17.08.2010 – 8 A 4063/06.A – juris; OVG NW, U.v. 14.02.2014 – 1 A 1139/13.A – juris).
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b) Dies zugrunde gelegt hat sich das Gericht zunächst nicht davon überzeugen können, dass der Kläger vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist ist, sodass dieser nicht von der Beweiserleichterung des Artikels 4 Abs. 4 der EU-Anerkennungsrichtlinie profitieren kann. Der Kläger hat zu seinen Fluchtgründen beim Bundesamt sowie im gerichtlichen Verfahren im Kern angegeben, dass er in Afghanistan als Schüler nach der Schule Wasser gegen Entgelt zum Militär gebracht habe. Am 18.08.2021 seien die Taliban dann zum Haus der Familie gekommen und hätten den Bruder, der ebenfalls dieser Tätigkeit nachgegangen sei, mitgenommen; dieser sei bis zum heutigen Tage verschollen. Er selbst habe sich zu diesem Zeitpunkt in der Schule befunden. Die Mutter habe ihn dann telefonisch gewarnt, nicht nach Hause zu kommen, und ein Onkel mütterlicherseits habe dann seine Ausreise organisiert. Die Taliban hätten auch seinen Vater mitgenommen und gewollt, dass der Kläger sich bei den Taliban melde. Ungefähr alle zwei Monate werde der Vater noch von den Taliban belästigt. Zuletzt vor etwa zwei Wochen sei sein Vater dann von den Taliban mitgenommen und auch geschlagen worden. Der Kläger hat überdies beim Bundesamt zwei Videos auf seinem Handy vorgeführt, welche seinen Bruder in der Gewalt der Taliban zeigen sollen.
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Das klägerische Vorfluchtvorbringen ist in hohem Maße unsubstantiiert, vage und detailarm geblieben, sodass das Gericht davon ausgeht, dass die Schilderung in Gänze nicht erlebnisbasiert ist. Darüber hinaus weist das Vorbringen auch markante Ungereimtheiten und Widersprüche auf, die zusätzlich gegen dessen Glaubhaftigkeit sprechen. So hat der Kläger beim Bundesamt auf Nachfrage explizit angegeben, dass er sein Heimatland am 16.08.2021 verlassen habe. Sodann hat der Kläger jedoch das zentrale Ereignis, das seine Flucht aus Afghanistan ausgelöst habe, nämlich als die Taliban zu ihnen nach Hause gekommen seien und seinen Bruder mitgenommen und auch nach ihm gesucht hätten, auf den 18.08.2021 datiert, mithin auf einen Zeitpunkt, als er das Land bereits verlassen hatte. Der Kläger hat zwar dann in der mündlichen Verhandlung in diesem Zusammenhang angegeben, dass das korrekte Datum hinsichtlich des Verlassens des Heimatlandes der 18.08.2021 gewesen sei; er hat diese Abweichung für das Gericht jedoch nicht überzeugend erklären können. Er hat insoweit lediglich geäußert, dass dies damals ein Fehler (von ihm) gewesen sei und er dies damals vergessen habe. Dies kann dem Kläger jedoch nicht abgenommen werden, nachdem ihm die Anhörung seinerzeit rückübersetzt wurde und er unterschriftlich bestätigt hat, dass das rückübersetzte Protokoll vollständig sei und der Wahrheit entspreche; eine Kopie des Anhörungsprotokolls wurde ihm überdies ausgehändigt. Der klägerischen Erklärung von der seinerzeit fehlerhaften Datumsangabe steht zusätzlich entgegen, dass der Kläger auch im Rahmen des persönlichen Gesprächs zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates am 09.02.2023 mit dem 17.08.2021 das Verlassen des Herkunftsstaates ebenfalls auf ein Datum vor dem fluchtauslösenden Ereignis festgelegt hat.
24
Unabhängig davon wäre in einer Situation wie vom Kläger beschrieben auch zu erwarten gewesen, dass dieser seinen Fehler dem Bundesamt alsbald nach seiner Anhörung vom 27.11.2023 mitteilt und nicht erst mehr als ein Jahr später in der mündlichen Verhandlung, zumal der ablehnende Bescheid bereits am 13.08.2024 ergangen ist. Jedenfalls aber wäre angesichts der erheblichen Bedeutung dieses Umstandes zu erwarten gewesen wäre, dass der Kläger den Fehler im Rahmen der ihm gesetzten Ausschlussfrist nach § 87b VwGO korrigiert, was ebenfalls nicht geschehen ist.
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Hinzu kommt, dass der Kläger entsprechend seiner Angaben vor Gericht dann letztlich auch gar nicht wie behauptet am 18.08.2021 ausgereist sein kann, nachdem er im Rahmen seiner Schilderung vor Gericht weiter erläutert hat, dass er nach dem vorgeblichen Erscheinen der Taliban beim Wohnhaus der Familie eine Nacht in Kabul verbracht hat, sodass seine Ausreise jedenfalls nicht vor dem 19.08.2021 stattgefunden haben kann.
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Schließlich spricht gegen die Glaubhaftigkeit des Verfolgungsvorbringens auch die Tatsache, dass der Kläger im Rahmen seiner Erstbefragung bei den österreichischen Behörden am 11.10.2022 hinsichtlich seiner Fluchtgründe allein auf die allgemeine Lage in Afghanistan im Hinblick auf Sicherheit sowie mangelnde Arbeit und Bildungsmöglichkeiten nach der Machtübernahme durch die Taliban verwiesen hat. Von einer Belieferung des Militärs mit Wasser und einer aufgrund dessen bestehenden individuellen Verfolgung durch die Taliban ist dort mitnichten die Rede, was jedoch zwingend zu erwarten gewesen wäre, wenn die Ausreise tatsächlich aus diesem Grund erfolgt wäre. Darüber hilft auch nicht hinweg, dass der Kläger hierzu auf Vorhalt ausgesagt hat, dass sein Ziel von Anfang an Deutschland gewesen sei. Er sei dort (in Österreich) durcheinander gewesen und auch geschlagen worden. Denn ohne den Vortrag eines individuellen Verfolgungsgrundes musste sich ihm die Befürchtung aufdrängen, dass sein Asylverfahren in Österreich negativ verlaufen und er in der Folge von dort nach Afghanistan abgeschoben würde, was nicht in seinem Interesse gelegen haben kann, wenn er denn in Afghanistan tatsächlich individuelle Verfolgung durch die Taliban erlitten bzw. zu gewärtigen hätte. Sein Verhalten lässt vielmehr im Gegenteil nur den Schluss zu, dass er nicht vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist ist. Diese Einschätzung wird schließlich auch dadurch gestützt, dass der Kläger auch in Österreich den Ausreisezeitpunkt aus Afghanistan mit: „vor ca. zwei Jahren“ angegeben hat, wobei er sich davon rund 1,5 Jahre in der Türkei aufgehalten haben will. Mithin ergibt sich auch daraus ein Ausreisezeitpunkt aus Afghanistan (deutlich) vor der Machtübernahme durch die Taliban.
27
Unabhängig von vorstehenden Ausführungen erscheint der klägerische Vortrag auch vor dem Hintergrund der Erkenntnismittellage (vgl. etwa: EUAA, Afghanistan – Country Focus, November 2024; EUAA, Country Guidance: Afghanistan, May 2024; Schweiz, Staatssekretariat für Migration, Verfolgung durch die Taliban: Potentielle Risikoprofile, 15.02.2022, S. 11/14) nicht glaubhaft. Für die Annahme einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegebenen Verfolgungsgefahr bedürfte es im hiesigen Zusammenhang im Regelfall jedenfalls einer nicht untergeordneten Position/Tätigkeit bei den Sicherheitsbehörden oder innerhalb des Regierungs-/Verwaltungsapparates der früheren afghanischen Republik. Der Kläger hingegen hatte nach dessen Vortrag eine solche Position beim früheren afghanischen Staat in keiner Weise inne und seine vorgetragene Handlung gegenüber dem afghanischen Militär erscheint überdies von völlig untergeordneter Bedeutung, zumal überdies schon nicht klar ist, welche substanzielle Unterstützung sich daraus für die afghanischen Streitkräfte ergeben haben sollte, da sich diese sicherlich auch ohne den Kläger ausreichend mit Wasser versorgen konnten. Der Kläger wäre (im Falle der Glaubhaftigkeit, wovon das Gericht hier nicht ausgeht) mithin lediglich als mobiler Verkäufer anzusehen, da es sich auch nicht etwa um eine freigebige Unterstützungshandlung für die staatlichen Truppen gehandelt hat, sondern schlicht um eine entgeltliche Tätigkeit. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund erscheint das vorgetragene Verfolgungsszenario, wonach sich der Bruder des Klägers seit nunmehr fast 3,5 Jahren in der Gewalt der Taliban befinden soll und der Vater regelmäßig alle zwei Monate von den Taliban befragt und belästigt werde, um auch des Klägers habhaft zu werden, vollkommen überzogen und lebensfremd, wobei sich diese angebliche Verfolgung – ausgerechnet kurz vor der mündlichen Verhandlung und fast 3,5 Jahre nach der Ausreise des Klägers – dann plötzlich nochmals dahingehend intensiviert haben soll, dass sie Taliban den Vater mitgenommen haben sollen und dieser geschlagen worden sei, wobei sich weiterhin bereits nicht erschließt, wie Letzteres der Familie und dem Kläger bekannt geworden sein soll, wenn die Taliban ihn doch mitgenommen haben. Schließlich hat der Kläger seinen Verfolgungsvortrag in der mündlichen Verhandlung asyltaktisch noch dahingehend gesteigert, dass er auf die Frage der Klägerbevollmächtigten, wie die Taliban von seiner Tätigkeit erfahren hätten, erklärt hat, dass diese dagegen gewesen seien und sie deswegen auch Bedrohungen erhalten hätten. Von derartigen Bedrohungen im Vorfeld der angeblichen Suche nach dem Kläger und der Mitnahme des Bruders am 18.08.2021 hat der Kläger hingegen zuvor nicht das Geringste berichtet.
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Angesichts vorstehender Ausführungen ergibt sich eine andere Einschätzung auch nicht durch die vom Kläger beim Bundesamt vorgezeigten Videos, die angeblich dessen Bruder in der Hand der Taliban zeigen sollen. Insoweit wird auf die diesbezüglichen Ausführungen des Bundesamtes verwiesen.
29
Nach alledem geht das Gericht davon aus, dass der Kläger (und auch sein Bruder) bereits im Ausgangspunkt nicht das afghanische Militär gegen Entgelt mit Wasser beliefert hat und er (sowie seine Familienmitglieder) erst recht nicht wegen dieser Tätigkeit von den Taliban verfolgt wurde. Der Kläger ist nach alledem nicht vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist.
30
c) Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass das Gericht davon ausgeht, dass der Kläger bereits bei seiner Asylantragstellung in Deutschland am 09.02.2023 volljährig war. Denn er hat bei seiner Anhörung beim Bundesamt erklärt, dass er beim Verlassen des Heimatlandes, das er auf den 18.08.2021 datiert hat, ca. 17 Jahre alt gewesen sei. Infolgedessen muss er etwa im August 2022 volljährig geworden sein. Soweit er in Widerspruch dazu nach der Rückübersetzung geäußert hat, dass er bei der Ausreise nicht 17 Jahre, sondern erst 15 Jahre alt gewesen sei, und als Begründung für diese Abweichung angegeben hat, dass ihm seine Mutter dies gesagt habe, so kann ihm dies nicht abgenommen werden. Denn es erschließt sich in keiner Weise, aus welchem Grunde er dann sein korrektes Alter nicht sogleich bei seiner Befragung angegeben hat. Die später erfolgte Abänderung erscheint vielmehr als zielgerichtet und verfahrenstaktisch, so um einen Schulbesuch zu erreichen, was er auf S. 8 der Anhörungsniederschrift auch anspricht. Für eine Volljährigkeit bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung in Deutschland spricht auch, dass der Kläger das Geburtsdatum 08.06.2000 im Rahmen der Niederschrift zu seinem Asylantrag (Teil 1) im Beisein eines Sprachmittlers unterschriftlich bestätigt hat. Auch das Amt für Kinder, Jugend und Familien des Landkreises Berchtesgadener Land hat den Kläger mit bestandskräftigem Bescheid vom 16.10.2022 im Rahmen der Ablehnung der vorläufigen Inobhutnahme bereits zu diesem Zeitpunkt, u.a. aufgrund seiner biografischen Angaben, nicht mehr als minderjährig angesehen. Daraufhin ist der Kläger am 22.12.2022 selbst beim Bundesamt erschienen und hat dort erklärt, nicht minderjährig zu sein, um dann wiederum in vollkommenem Widerspruch dazu noch am gleichen Tage zu äußern, dass er doch minderjährig sei. Die Volljährigkeit des Klägers wird nach Überzeugung des Gerichts schließlich auch dadurch gestützt, dass er bei seiner Erstbefragung in Österreich am 11.10.2022 zwar ein Alter von 16 Jahren angegeben hat, gleichzeitig jedoch erklärt hat, dass er zwölf Jahre lang die Schule und ein Jahr die Universität besucht habe und aktuell Student sei, was sich mit einer Minderjährigkeit nicht in Einklang bringen lässt. Eine solche ergibt sich schließlich auch nicht aus der vorgelegten Tazkira, die zwar den Eintrag enthält, dass der Kläger aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes im Jahre 1397 nach afghanischem Kalender (entspricht 21.03.2018 bis 20.03.2019; ausgestellt am 29.11.2018) zwölf Jahre alt gewesen sei. Jedoch ergibt sich daraus zum einen das Alter nur gänzlich vage entsprechend dem äußeren Erscheinungsbild und zum anderen handelt es sich bei der vorgelegten Tazkira aufgrund des überzeugenden Ergebnisses der physikalisch-technischen Urkundenuntersuchung vom 13.02.2023 um eine Totalfälschung, da der Vordruck des Dokuments kopiertechnisch erstellt und die eingebrachte Dokumentennummer nicht dem Ausstellungszeitraum sowie dem Vordruck zugeordnet werden kann.
31
d) Unabhängig von einer fehlenden Vorverfolgung droht dem Kläger auch im Falle seiner jetzigen Rückkehr nach Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung gemäß § 3 AsylG.
32
Angesichts dessen, dass der Kläger unverfolgt aus Afghanistan ausgereist ist (vgl. hierzu im Einzelnen unter b)), ist auch nichts dafür ersichtlich, dass er im Rückkehrfalle mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen nach § 3a AsylG ausgesetzt wäre; insbesondere hat er keine persönliche Fehde durch einflussreiche Personen in Afghanistan zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft machen können. Der Kläger gehört entsprechend obiger Ausführungen auch keinem Gefährdungsprofil an, welches generell bzw. im Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr nahelegen würde, im Rückkehrfalle von den Taliban verfolgt zu werden.
33
Dem Kläger droht darüber hinaus auch keine Verfolgung wegen seiner Ausreise, seines Aufenthalts in Deutschland und der hier erfolgten Asylantragstellung (vgl. dazu eingehend: VGH Baden-Württemberg, U.v. 22.02.2023 – A 11 S 1329/20 – juris).
34
Nach alledem hat der Kläger keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
35
2. Der Kläger hat darüber hinaus auch keinen Anspruch auf die hilfsweise Feststellung des subsidiären Schutzstatus, § 4 AsylG.
36
Nach § 4 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Nach § 4 Abs. 3 AsylG gelten die Vorschriften aus §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend; bei der Prüfung, ob dem Ausländer ein ernsthafter Schaden droht, ist der bereits in Bezug auf die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG dargelegte asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit maßgeblich (vgl. BVerwG, Urt. v. 27. April 2010, Az. 10 C 5/09 – juris, Rn. 20 ff.).
37
a) Der Kläger hat nicht zur Überzeugung des Gerichts darlegen können, dass ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Afghanistan die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder eine sonstige unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 und 2 AsylG durch die Taliban oder andere Verfolgungsakteure droht. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen zu § 3 AsylG vollumfänglich verwiesen.
38
b) Dem Kläger droht schließlich auch keine individuelle und konkrete Gefahr eines ernsthaften Schadens infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Bei der wertenden Gesamtbetrachtung der Sicherheitslage in Afghanistan ist unter umfassender Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere im Hinblick auf die allgemeine Gefahrendichte (vgl. EuGH, U.v. 10.06.2021 – C-901/19 – juris; BVerwG, U.v. 20.5.2020, Az. 1 C 11/19 – juris Rn. 19), im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zu sehen, dass einhergehend mit dem Abzug der internationalen Kampftruppen aus Afghanistan und darüber hinaus insbesondere seit dem 16. August 2021 durch die Übernahme der (faktischen) Regierungsgewalt und der Gebietskontrolle durch die Taliban unter Beendigung der Kampfhandlungen zwischen den Taliban und den afghanischen Sicherheitskräften, die allgemeine Gefahrendichte nach dem 16. August 2021 in Afghanistan in sehr erheblichem Umfang abgenommen hat, was auch für die Herkunftsprovinz des Klägers, Kunar, gilt (vgl. etwa: Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 5, 17; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, 10.08.2022, S. 15 ff.; UNAMA, Human Rights in Afghanistan, July 2022, S. 10 ff.; Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Afghanistan, 20.07.2022, S. 4 f.). Seit dem 16. August 2021 gibt es folglich keinen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt mehr in Afghanistan (so i.E. auch: VGH Baden-Württemberg, U.v. 22.2.2023 – A 11 S 1329/20 – juris; VG Greifswald, U.v. 13.5.2022 – 3 A 1469/19 HGW – juris; VG München, U.v. 26.8.2021 – M 24 K 17.38610 – juris Rn. 31 ff.; VG München, U.v. 25.1.2022 – M 6 K 21.31155 – juris; VG München, U.v. 12.11.2021 – M 2 K 21.30954 – juris; VG Bremen, U.v. 14.1.2022 – 3 K 3558/17 – juris Rn. 39; VG Sigmaringen, G.v. 26.11.2021 – A 13 K 348/18 – juris; vgl. auch EUAA, Country Guidance: Afghanistan, May 2024, S. 116 f.). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass dem Kläger die Gefahr eines ernsthaften Schadens im hier betrachteten Zusammenhang droht, ist auch unter Berücksichtigung seiner individuellen Verhältnisse, die hier nicht zu einer Gefahrerhöhung führen, nicht gegeben; auf die obigen Ausführungen sowie insbesondere auf die Unglaubhaftigkeit der geltend gemachten Vorverfolgung wird vollumfänglich verwiesen.
39
3. Die in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides getroffene Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen, ist ebenfalls nicht zu beanstanden und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten. Er hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbs. AsylG) keinen Anspruch auf die Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG im Hinblick auf Afghanistan vorliegt, § 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO.
40
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
41
Der erkennende Einzelrichter geht bei der Anwendung dieser Vorschriften in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10/21 – juris Rn. 13-17, 21, 25 f. m.w.N.; siehe auch OVG MV, U.v. 27.6.2023 – 4 LB 443/18 OVG – BeckRS 2023, 17104 Rn. 61 ff.) von nachfolgenden Grundsätzen aus:
42
Eine Verletzung von Art. 3 EMRK setzt die tatsächliche Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung voraus. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss aufgrund aller Umstände des Falles ernsthaft bestehen und darf nicht nur hypothetisch sein. Der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr entspricht dem der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser Maßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die Umstände, die für eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung sprechen, ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Ein gewisser Grad an Mutmaßung ist dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent, so dass ein eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis dafür, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre, nicht verlangt werden kann.
43
Die sozioökonomischen und humanitären Bedingungen im Abschiebezielstaat haben grundsätzlich weder notwendigen noch ausschlaggebenden Einfluss auf die Frage, ob eine Person tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Gleichwohl entspricht es der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass in besonderen Ausnahmefällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen können (EGMR, U.v. 29.1.2013 – Nr. 60367/10, S.H.H./UK – Rn. 74 ff., 88 ff.). Es sind allerdings strengere Maßstäbe anzulegen, sofern es an einem verantwortlichen (staatlichen) Akteur fehlt. Schlechte humanitäre Bedingungen, die ganz oder in erster Linie auf Armut oder auf das Fehlen staatlicher Mittel zum Umgang mit auf natürlichen Umständen beruhenden Gegebenheiten zurückzuführen sind, können eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nur in ganz außergewöhnlichen Fällen begründen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen eine Abschiebung sprechen. Solche ganz außergewöhnlichen Umstände können auch solche sein, die eine Person mit anderen Personen teilt. In einem solchen Fall kann ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausnahmsweise etwa dann vorliegen, wenn die Abschiebung, wenngleich nicht unmittelbar zum Tod des Betroffenen, so doch zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte (EGMR, U.v. 13.12.2016 – Nr. 41738/10, Paposhvili/Belgien –, Rn. 183). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein „Mindestmaß an Schwere“ aufweisen. Diese kann erreicht sein, wenn der Ausländer seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält.
44
Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt in seiner Rechtsprechung zum Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nach Art. 4 GRCh darauf ab, ob sich die betroffene Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“ (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 90). Ein ernsthaftes Risiko eines Verstoßes gegen Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK besteht nicht bereits dann, wenn nicht sicher festzustellen ist, ob im Falle einer Rücküberstellung die Befriedigung der bezeichneten Grundbedürfnisse sichergestellt ist, sondern nur für den Fall, dass die Befriedigung eines der bezeichneten Grundbedürfnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten ist und der Drittstaatsangehörige dadurch Gefahr läuft, erheblich in seiner Gesundheit beeinträchtigt zu werden oder in einen menschenunwürdigen Zustand der Verelendung versetzt zu werden. Diese Schwelle der Erheblichkeit kann in Bezug auf vulnerable Personen schneller erreicht sein als etwa in Bezug auf gesunde und erwerbsfähige erwachsene Personen.
45
Für die Erfüllung der vorbezeichneten Grundbedürfnisse gelten – gerade bei nicht vulnerablen Personen – nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. Das wirtschaftliche Existenzminimum ist immer dann gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Können extrem schlechte materielle Lebensverhältnisse, welche die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK begründen, somit durch eigene Handlungen (zum Beispiel den Einsatz der eigenen Arbeitskraft) oder die Inanspruchnahme der Hilfe- oder Unterstützungsleistungen Dritter abgewendet werden, besteht schon nicht mehr die ernsthafte Gefahr einer Situation extremer materieller Not.
46
Die Gefahr muss in dem Sinne konkret sein, dass die drohende Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Würde der Person in einem solchen engen zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung durch den Vertragsstaat eintritt, dass bei wertender Betrachtung noch eine Zurechnung zu dieser Abschiebung – in Abgrenzung zu späteren Entwicklungen im Zielstaat oder gewählten Verhaltensweisen des Ausländers – gerechtfertigt erscheint. Wo die zeitliche Höchstgrenze für einen solchen Zurechnungszusammenhang im Regelfall zu ziehen ist, ist keiner generellen Bestimmung zugänglich. Die Gefahr eines ernsthaften Schadenseintritts ist nicht schon dann gegeben, wenn zu einem beliebigen Zeitpunkt nach der Rückkehr in das Heimatland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht. Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose ist vielmehr grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist. Bei wertender Betrachtungsweise aller Umstände des Einzelfalls bedarf es eines engen zeitlichen Zurechnungszusammenhangs zwischen der Rückführung des Ausländers in den Zielstaat und der ihm dort drohenden Verelendung. Mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist zur Konkretisierung dieses engen Zurechnungszusammenhangs eine „schwerwiegende, schnelle und irreversible“ Verschlechterung des Zustands des Ausländers im Zielland der Rückführung erforderlich.
47
Kommt nach alledem eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung wegen der schlechten humanitären Verhältnisse in Afghanistan grundsätzlich in Betracht, ist in jedem Fall sorgfältig zu prüfen, ob dem betroffenen Ausländer eine solche Behandlung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Zur Klärung der Frage, ob für den betreffenden Ausländer das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere im Zielstaat der Abschiebung erreicht wird, bedarf es der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25/18 – juris Rn. 11; OVG MV, U.v. 27.6.2023 – 4 LB 443/18, BeckRS 2023, 17104 Rn. 128 m.w.N. zum Stand der aktuellen obergerichtlichen Rechtsprechung). Für die Beurteilung der Frage, ob dem betroffenen Ausländer bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen der dortigen humanitären Verhältnisse die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung droht, ist eine Prognose unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu treffen. Zu diesen Umständen gehören nach den ausgewerteten Erkenntnismitteln insbesondere soziale und familiäre Bindungen, berufliche Qualifikation und Leistungsfähigkeit, ethnische Zugehörigkeit, Herkunftsregion, Geschlecht und Alter, Krankheit und Behinderung, Unterhaltsverpflichtungen, Vermögen sowie der Zugang zu humanitärer Hilfe (siehe ausführlich hierzu: OVG MV, U.v. 27.6.2023 – 4 LB 443/18 – BeckRS 2023, 17104 Rn. 128 Rn. 131-156).
48
b) Der Einzelrichter folgt den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern bezüglich der wirtschaftlichen und humanitären Lage in Afghanistan in dessen Urteil vom 24.05.2023 (4 LB 443 / 18 OVG – juris Rn. 69-130), welches den Verfahrensbeteiligten durch die zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachte Erkenntnismittelliste zu Afghanistan bekannt ist, und legt die dortigen Ausführungen der vorliegenden Entscheidung zugrunde, § 77 Abs. 3 AsylG analog.
49
Auch aus jüngsten Erkenntnismitteln ergeben sich keine in entscheidungsrelevanter Weise von der vorstehenden Darstellung abweichenden Erkenntnisse.
50
So hat das Auswärtige Amt im Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan vom 12.07.2024 (Stand: Juni 2024) zur wirtschaftlichen Lage und der Situation für Rückkehrende ausgeführt, dass sich die wirtschaftliche Lage nach der Machtübernahme zunächst landesweit massiv verschlechtert hat. 2021 ist das Bruttoinlandsprodukt um 21% eingebrochen. Nach einer weiteren Verringerung im Jahr 2022 kam es 2023 zu einer leichten Stabilisierung der Wirtschaftsleistung, die auch die sozioökonomische Lage der afghanischen Haushalte leicht verbessert hat, wobei die humanitäre Lage angespannt bleibt. Zwar sind 2023 die Nahrungsmittelpreise gefallen und die Nahrungsmittelverfügbarkeit hat sich leicht verbessert. Infolgedessen hat sich die Versorgungslage der Haushalte marginal verbessert und die Reallöhne sind leicht gestiegen, allerdings auf niedrigem Niveau. Nach Einschätzung der Weltbank ist das Wirtschaftswachstum jedoch zu gering, um für substantielle Teile der Bevölkerung sozioökonomische Verbesserungen zu erreichen. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass hohe Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung die Versorgungsmöglichkeiten vieler Haushalte mit Nahrungsmitteln und anderen lebenswichtigen Gütern beschränken. Zudem haben viele Haushalte ihre Reserven im ersten Jahr nach der Machtübernahme aufgebraucht und verfügen kaum über Resilienz gegenüber ökonomischen Schocks. Wie zu Republikzeiten bleibt daher knapp die Hälfte der afghanischen Bevölkerung von Armut und Lebensmittelknappheit betroffen. Die nachfragegetriebene Deflation, eine überbewertete Landeswährung und ein wachsendes Außenhandelsdefizit werfen zudem ein trübes Licht auf die mittelfristige wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Nach Angaben der VN bleibt die humanitäre Lage angespannt: Jahreszeitenabhängig können 62-70% der Bevölkerung ihre Grundversorgung nicht gewährleisten, davon 33-37% nicht einmal die Versorgung mit Nahrungsmitteln. Dies deckt sich mit Schätzungen, wonach bis zu 14,2 Mio. Menschen von akuter Ernährungsunsicherheit bedroht sind (FAO) und bis zu 23,7 Mio. Personen im Jahr 2024 auf humanitäre Hilfsleistungen angewiesen sein werden (UN OCHA). Laut lokalen Berichten nehmen Zwangsehen, Organ- und Menschenhandel, darunter der Verkauf von Mädchen durch ihre Familien, zu. Auch die stark angestiegenen Abschiebungen afghanischer Staatsbürger aus Pakistan unter dem „Illegal Foreigners‘ Repatriation Plan“ sowie aus Iran verschärfen die humanitäre Lage. Die VN rechnen mit rd. 23,7 Mio. Menschen, die 2024 in Afghanistan auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden – dies entspricht rund 80% der Bedarfe von 2023, wobei gleichzeitig ein größerer Anteil der Bedarfe durch sogenannte regierungsferne Unterstützung der Basisdienstleistungen als Ergänzung der humanitären Hilfe gedeckt werden soll. Die Bedarfe für 2024 werden von den Vereinten Nationen auf 3,06 Mrd. US-Dollar beziffert. Nach Angaben von UNHCR befinden sich Binnenvertriebene wie auch zurückgekehrte Personen aus dem Ausland in einer wirtschaftlichen Notlage und wenden negative Bewältigungsstrategien an. Ihnen kann Verelendung drohen. Internationale Organisationen und NRO´s leisten in Afghanistan humanitäre Hilfe. Dies schließt auch die Versorgung zurückgekehrter Personen in humanitären Notlagen ein. Aufgrund sinkender internationaler Mittel, und durch die hohen Rückkehrzahlen aus Pakistan und Iran äußern internationale Organisationen und NRO´s die Sorge, humanitäre Bedarf in Afghanistan nicht ausreichend decken zu können. Die Rückkehr vieler afghanischer Staatsangehöriger aus den Nachbarländern verschärft die humanitäre Lage in Afghanistan weiter, insbesondere in den Grenzregionen.
51
c) Vor diesem Hintergrund besteht nach Auffassung des erkennenden Einzelrichters in Afghanistan eine humanitäre Situation, die für eine beachtliche Zahl der dort lebenden Menschen das nach Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erreichen würde. Andererseits stellt sich die Lage nicht schon so dar, dass die Befriedigung der elementaren Grundbedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Gesundheit für die afghanische Bevölkerung regelmäßig nicht zu erwarten wäre. Das Gericht kann deshalb nicht die Annahme treffen, dass zurückkehrende afghanische Staatsangehörige oder eine bestimmte Gruppe davon ausnahmslos oder wenigstens im Regelfall einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wären (so auch OVG MV, U.v. 27.6.2023 – 4 LB 443/18 – BeckRS 2023, 17104; a.A.: VGH Mannheim, U.v. 22.02.2023 – A 11 S 1329/20 – juris; OVG Bautzen, U.v. 10.11.2022 – 1 A 1081/17.A – juris; OVG Hamburg, U.v. 23.02.2022 – 1 Bf 282/20.A – juris).
52
Der Kläger als Schutzsuchender trägt dabei die materielle Beweislast für die ihm günstige Behauptung, ihm drohe in Afghanistan die Verelendung. Dazu muss er insbesondere alle in seine Sphäre fallenden erheblichen Tatsachen zur Überzeugung des Gerichts vortragen (vgl. etwa VGH Baden-Württemberg, U.v. 22.02.2023 – A 11 S 1329/20 – juris).
53
Das Gericht ist unter Berücksichtigung der maßgeblichen individuellen Umstände des Klägers im Rahmen einer Gesamtschau – trotz der zweifelsfrei schwierigen humanitären Situation in Afghanistan – zu der Überzeugungsgewissheit gelangt, dass dieser im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan dort nicht der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre und damit in eine ausweglose Lage geriete. Vielmehr wird er dort in der Lage sein, seinen existenziellen Lebensunterhalt zu sichern und seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, sodass ihm in Afghanistan nicht alsbald nach seiner Rückkehr Verelendung droht.
54
Der Kläger gehört keiner vulnerablen Personengruppe an. Er ist ein junger volljähriger Mann, ledig, gesund und daher – auch angesichts des persönlichen Eindrucks vom Kläger in der mündlichen Verhandlung – erwerbs- und durchsetzungsfähig. Er hat in Afghanistan zwölf Jahre die Schule besucht und ein Studium begonnen und ist damit gegenüber den vielen Analphabeten und geringer qualifizierten jungen Männern in Afghanistan klar im Vorteil und damit in der Lage, ein deutlich breiteres Spektrum an Berufen auszuüben, aber eben erforderlichenfalls auch körperlich beanspruchende Tätigkeiten. Das Gericht stützt die angegebene Dauer des Schulbesuchs auf die diesbezüglichen – in Anwesenheit eines Sprachmittlers erfolgten – Angaben des Klägers in Österreich bei dessen dortiger Erstbefragung. Auch angesichts der obigen Ausführungen des Gerichts hinsichtlich der Volljährigkeit des Klägers, auf die hier verwiesen wird, erscheint dem Gericht ein zwölfjähriger Schulbesuch näherliegend als die vom Kläger in Deutschland angegebene achtjährige Schulbesuchsdauer, welche nach Überzeugung des Gerichts in enger Verbindung mit der in Deutschland behaupteten Minderjährigkeit steht, die dem Kläger jedoch nicht abgenommen werden kann (vgl. im Einzelnen oben). Unabhängig davon käme unter Berücksichtigung der sonstigen Umstände des hiesigen Einzelfalls eine andere Entscheidung hinsichtlich eines Abschiebungsverbotes auch dann nicht zum Tragen, wenn man von einem achtjährigen Schulbesuch ausginge. Der Kläger spricht zudem fließend die Landessprache Paschtu. Überdies hat er bis zu seiner Ausreise (entsprechend seiner insoweit heranziehbaren Angaben in Österreich) rund 19 Jahre in Afghanistan gelebt und damit die dortigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eingehend kennengelernt, um sich auch nach einer Rückkehr dort zurechtfinden zu können. All diese Kenntnisse und Erfahrungen wird der Kläger sicherlich gewinnbringend bei seiner Rückkehr nach Afghanistan einsetzen und damit seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt deutlich erhöhen können.
55
Mag Vorstehendes alleine auch noch nicht ausreichen, um eine Verletzung von Art. 3 EMRK abwenden zu können, so kann der Kläger darüber hinaus in Afghanistan auch noch auf ein erreichbares, unterstützungsfähiges und unterstützungswilliges familiäres Netzwerk zurückgreifen. So hat der Kläger vor Gericht angegeben, dass sich in Afghanistan derzeit seine Mutter, eine Schwester und zwei Brüder (Schüler) aufhielten, darüber hinaus noch sechs Onkel väterlicherseits, zwei Onkel mütterlicherseits, sieben Tanten väterlicherseits und zwei Tanten mütterlicherseits. Zusätzlich geht das Gericht davon aus, dass sich auch der Vater des Klägers und ein weiterer erwachsener Bruder (23 Jahre) bei der Familie aufhalten. Dem Kläger kann nämlich nicht abgenommen werden, dass diese beiden Personen von den Taliban entführt worden sind. Da diese angebliche Mitnahme der Familienmitglieder entsprechend der Schilderung des Klägers letztlich untrennbar mit seinem vorgetragenen Verfolgungsschicksal in Zusammenhang steht, welches ihm jedoch in Gänze nicht geglaubt werden kann (vgl. hierzu im Einzelnen unter 1. b)), und auch ansonsten keine Gründe für deren Abwesenheit von der Familie ersichtlich sind, geht das Gericht davon aus, dass auch diese beiden Personen weiterhin im Familienverband am Heimatort leben. Es ist desweiteren davon auszugehen, dass der Kläger unproblematisch in diesen Familienverband zurückkehren kann, zumal Zerwürfnisse zwischen dem Kläger und seiner Familie weder vorgetragen noch ersichtlich sind.
56
Zur wirtschaftlichen Situation der Familie hat der Kläger beim Bundesamt angegeben, dass er mit seiner Familie vor der Ausreise in einem in ihrem Eigentum stehenden Haus gelebt hat und die Familie dort weiterhin wohne. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger auf Befragen weiter angegeben, dass sein Vater Landwirtschaft auf eigenen Grundstücken betreibe. Hinsichtlich des (nicht glaubhaft) entführten Bruders hat er beim Bundesamt geäußert, dass dieser (neben der nicht glaubhaften Tätigkeit als Wasserverkäufer gegenüber dem Militär) in der Landwirtschaft mitgearbeitet habe. Die Onkel väterlicherseits (6 an der Zahl) seien ebenfalls Landwirte und zwei davon seien Maler. Von den beiden Onkeln mütterlicherseits sei einer als Lehrer tätig und der andere, der ihm bei der Ausreise geholfen habe, besitze viele Grundstücke, Landwirtschaft und einen Laden; es gehe ihm finanziell gut. Befragt nach der aktuellen wirtschaftlichen Situation der Familie in Afghanistan hat der Kläger geäußert, dass es ihnen sehr gut gegangen sei, als der Vater noch zu Hause gewesen sei. Jetzt aber, nachdem dieser entführt worden sei, sei die Lage schlecht. Derzeit werde der eine Teil ihrer landwirtschaftlichen Grundstücke von den Onkeln bewirtschaftet, der andere von anderen Leuten, die der Familie etwas von der Ernte abgäben. Soweit der Kläger vor Gericht dargelegt hat, dass die wirtschaftliche Lage nach der Entführung des Vaters schlecht sei, so kann dem Kläger auch dies nicht geglaubt werden, da auch insoweit der bereits oben erwähnte letztlich untrennbare Zusammenhang mit dem insgesamt nicht glaubhaften Verfolgungsvortrag des Klägers besteht, sodass das Gericht davon ausgeht, dass sich der Vater weiterhin bei der Familie befindet, sich um die Bewirtschaftung der Landwirtschaft kümmert und sich die wirtschaftliche Situation der Familie daher weiterhin – wie vom Kläger angegeben – sehr gut darstellt.
57
Angesichts der geschilderten positiven Anlagen und Fähigkeiten des Klägers sowie des dargestellten erreichbaren, unterstützungsfähigen und – mangels entgegenstehender Anhaltspunkte sowie unter Berücksichtigung der traditionell engen familiären Bindungen in Afghanistan – unterstützungswilligen familiären Netzwerks in Afghanistan ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Afghanistan seine elementaren Bedürfnisse unter Abwendung einer Verletzung von Art. 3 EMRK wird befriedigen können. So wird er – wie vor seiner Ausreise – im Familienwohnhaus Unterkunft und eine Waschmöglichkeit finden können. Nachdem der Kläger darüber hinaus die derzeitige wirtschaftliche Situation der Familie – die nicht glaubhafte Entführung des Vaters außer Acht lassend, vgl. oben – als sehr gut beschrieben hat, ist realistischerweise auch davon auszugehen, dass der Kläger aus den Erzeugnissen der elterlichen Landwirtschaft und den Barmitteln aus deren Verkauf mindestens das zu seinem Lebensunterhalt Notwendige wird erlangen können, ohne dass ihm im Rückkehrfalle mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK droht, zumal der Lebensunterhalt der Familie offensichtlich auch vor der Ausreise des Klägers aus dem landwirtschaftlichen Betrieb der Familie sichergestellt wurde. Der Kläger wird sich entweder selbst unterstützend in die Landwirtschaft einbringen können bzw. – soweit gewünscht bzw. erforderlich – über Kontakte und Netzwerke der Familie eine anderweitige Erwerbsarbeit finden können, mit Hilfe derer er anderweitig zu seinem Lebensunterhalt und dem der Familie wird beitragen können. Ohne dass es noch entscheidungserheblich darauf ankäme, könnte die Familie und so auch der Kläger erforderlichenfalls auch auf ergänzende Hilfe durch die insgesamt acht Onkel zurückgreifen, da entsprechend der Angaben des Klägers alle acht Onkel einer beruflichen Tätigkeit nachgehen, entweder als Landwirte, Maler, Lehrer bzw. Inhaber eines Ladens. Insbesondere der Onkel mütterlicherseits, der den Kläger bereits bei seiner Ausreise unterstützt hat und zu dem offensichtlich ein gutes Verhältnis besteht, wurde vom Kläger als finanziell gut gestellt beschrieben, sodass gerade von dessen Seite erforderlichenfalls auch eine finanzielle Unterstützung realistischerweise zu erwarten wäre. Nur ergänzend sei angefügt, dass aufgrund der mangelnden Glaubhaftigkeit der Fluchtgeschichte des Klägers und so auch der Belieferung des ehemaligen afghanischen Militärs mit Wasser durch den Kläger auch nicht davon auszugehen ist, dass es zu einem Zerwürfnis mit den Onkeln väterlicherseits gekommen ist, die nach Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung gegen diese Wasserlieferungen gewesen seien.
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Unabhängig von vorstehenden Ausführungen ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger unter Berücksichtigung seiner o.g. individuellen Fähigkeiten und Erfahrungen – neben dem familiären Netzwerk – auch an ethnische, religiöse, lokale bzw. Stammes- und Clan-Verbindungen und an diesbezüglich bestehende Netzwerke wird anknüpfen bzw. solche für sich weiter aufbauen können, um auch auf diese Weise seine individuelle Lage in Afghanistan nach seiner Rückkehr zu verbessern. Auf derartigen Netzwerken beruht im Kern das Zusammenleben in Afghanistan. Afghanen sind in der Regel gut darin, sich in derartige Netzwerke einzufinden bzw. diese weiterzuentwickeln und es ist nichts dafür ersichtlich, dass dies bei dem Kläger anders wäre (vgl. insoweit EASO, Country of Origin Information Report, Afghanistan Networks, Januar 2018, S. 10 f.).
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Dass dem Kläger im Rückkehrfalle nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unter Verstoß gegen § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK eine Verelendung drohen würde, hat er nach alledem nicht glaubhaft darlegen können.
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d) Darüber hinaus hat der Kläger auch keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG. Danach soll von einer Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Hierfür ist nichts vorgetragen oder ersichtlich. Insbesondere besteht hier keine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen, die nur vorliegt bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG. Derartige gesundheitliche Einschränkungen oder Beschwerden sind vorliegend nicht ersichtlich. Es wird insoweit auf die Ausführungen im angegriffenen Bescheid des Bundesamtes verwiesen, § 77 Abs. 3 AsylG.
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4. Gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung einschließlich der Zielstaatsbestimmung in Ziffer 3 des Bescheides bestehen im Hinblick auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG ebenfalls keine rechtlichen Bedenken. Insbesondere sind vorliegend auch keine inlandsbezogenen Abschiebungshindernisse im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG vorgetragen oder ersichtlich. Auf die diesbezüglichen Ausführungen im Bescheid des Bundesamtes vom 13.08.2024 wird verwiesen, § 77 Abs. 3 AsylG.
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5. Schließlich ist auch das verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot, Ziffer 4 des Bescheides, von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Auch insoweit wird vollumfänglich auf die Ausführungen im angegriffenen Bescheid verwiesen, § 77 Abs. 3 AsylG.
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Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.