Titel:
Sofortige Beschwerde, Notwendige Verteidigung, Wiedereinsetzungsantrag, Einlegung der sofortigen Beschwerde, Pflichtverteidiger, Rechtsfolgenausspruch, Beschwerdeführer, Empfangsbekenntnis, Kostenentscheidung, Strafbefehl, Auslagenentscheidung, Beschwerdefrist, Beiordnung, Fristversäumung, Hauptverhandlung, besondere Schwierigkeit, Verschuldenszurechnung, Verschulden des Bevollmächtigten, Unbilligkeit, Anwaltliche Versicherung
Schlagworte:
Strafbefehl, Pflichtverteidigerablehnung, Wiedereinsetzung, Verteidigerverschulden, Notwendige Verteidigung, Schwierige Rechtslage, Betäubungsmittelverfahren
Vorinstanz:
AG München, Beschluss vom 08.04.2025 – 1123 Cs 373 Js 192543/23
Fundstelle:
BeckRS 2025, 11823
Tenor
1. Dem Beschwerdeführer wird betreffend der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gewährt.
2. Die sofortige Beschwerde vom 16.04.2025 gegen den Beschluss des Amtsgerichts München vom 08.04.2025 wird als unbegründet verworfen.
3. Die Kosten der Wiedereinsetzung und des Beschwerdeverfahrens hat der Beschwerdeführer zu tragen.
Gründe
1
Das Amtsgericht München erließ am 23.09.2024 einen Strafbefehl gegen den Beschwerdeführer (Bl. 52/55 d.A.). Der Strafbefehl wurde der Verteidigerin ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 01.10.2024 zugestellt. Am 07.10.2024, eingegangen beim Amtsgericht München am 07.10.2024, legte die Verteidigerin namens und im Auftrag ihres Mandanten fristgerecht Einspruch gegen den Strafbefehl vom 23.09.2024 ein (Bl. 56/57 d.A.).
2
Im Rahmen der Hauptverhandlung vom 08.04.2025 vor dem Amtsgericht München beantragte die Verteidigerin ihre Beiordnung als Pflichtverteidigerin (Bl. 82 d.A.).
3
Diesen Antrag lehnte das Amtsgericht München in der mündlichen Verhandlung vom 08.04.2025 durch Beschluss, der in der öffentlichen Hauptverhandlung verkündet wurde, ab (Bl. 83 d.A.).
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Mit Schriftsatz vom 16.04.2025, eingegangen am 16.04.2025, beantragte die Verteidigerin Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand und legte zeitgleich sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts München vom 08.04.2025 ein. Auf die Begründung des Wiedereinsetzungsantrages und der sofortigen Beschwerde wird Bezug genommen (Bl. 94/97 d.A.).
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Die Staatsanwaltschaft beantragte, die sofortige Beschwerde kostenpflichtig als unzulässig zu verwerfen (Bl. 107 d.A.).
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Die gemäß § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet.
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1. Soweit die sofortige Beschwerde erst nach Ablauf der am 15.04.2025 endenden Beschwerdefrist eingelegt wurde, war dem Beschwerdeführer auf seinen Antrag hin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, § 44 StPO.
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Der Beschwerdeführer hat durch die anwaltliche Versicherung der Richtigkeit des Sachvortrags glaubhaft gemacht, dass er den Auftrag zur Einlegung der sofortigen Beschwerde bereits am 08.04.2025 und damit vor Fristablauf erteilt hat und die Fristversäumung auf einem Versäumnis seiner Verteidigerin beruhte. Das Verschulden der Verteidigerin ist dem Beschwerdeführer nach Ansicht der Kammer nicht zuzurechnen. Zwar kann der Beschwerdeführer in Fällen, in denen es nicht um den Schuldspruch oder Rechtsfolgenausspruch geht, auch für das Verschulden seines Verteidigers einstehen (vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Auflage, § 44 Rn. 18a). Der Antrag auf Beiordnung der Rechtsanwältin B. als Pflichtverteidigerin betrifft zur Überzeugung der Kammer aber jedenfalls mittelbar auch den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch, da eine Entscheidung hierüber im vorliegenden Verfahren noch nicht getroffen wurde. Im Übrigen enthält die StPO anders als § 85 Abs. 2 ZPO keine Regelung, wonach das Verschulden des Bevollmächtigten dem Verschulden des Vertretenen gleichsteht. Eine solche Verschuldenszurechnung erscheint im Strafverfahren auch unbillig, da anders als bei einer Vertretung im Zivilverfahren der rechtskräftig Verurteilte keinen Haftungsprozess gegen seinen Anwalt anstrengen kann. Weder kann er bei einer Geldstrafe wegen deren punitiver Funktion Schadensersatz verlangen noch den Anwalt an seiner statt eine Freiheitsstrafe verbüßen lassen (vgl. MüKoSt-PO/Valerius, 2. Aufl. 2023, StPO § 44 Rn. 55, beck-online).
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Die Anwendung des Rechtsgedankens des § 85 Abs. 2 ZPO, wie beispielsweise bei sofortigen Beschwerden gegen die Kosten- und Auslagenentscheidung nach § 464 Abs. 3 StPO, welche in ihrem Wesen und ihren Auswirkungen mit Schuldtiteln über Geldforderungen vergleichbar sind (vgl. NJW 2023, 3304 Rn. 10, beck-online), kommt vorliegend daher nicht zum Tragen.
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Im Übrigen ist ein eigenes Verschulden des Angeklagten vorliegend nicht erkennbar.
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Der Wiedereinsetzungsantrag wurde innerhalb der in § 45 StPO vorgesehenen Wochenfrist formgerecht gestellt und die versäumte Handlung nachgeholt.
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2. Die zulässige sofortige Beschwerde hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
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Es liegt kein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 StPO vor.
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Nach § 140 Abs. 2 StPO läge ein Fall der notwendigen Verteidigung auch vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Insbesondere kann zur Überzeugung der Kammer aus der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage vorliegend kein Fall der notwendigen Verteidigung abgeleitet werden, § 140 Abs. 2 Var. 3 StPO.
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Der konzeptionelle Zweck der Pflichtverteidigung besteht – ausschließlich – darin, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass der Beschuldigte in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet wird (vgl. BGH Beschl. v. 18.8.2020 – StB 25/20, NJW 2020, 3331 Rn. 6, beck-online). Dies ist vorliegend nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um einen Fall des Besitzes von Betäubungsmitteln, der keine rechtlichen oder rechtstatsächlichen Besonderheiten aufweist, sodass keine besondere Schwierigkeit der Rechtslage und damit ein Fall der notwendigen Verteidigung des § 140 Abs. 2 Var. 3 StPO gegeben ist. Weder im Hinblick auf die bereits vorliegenden Wirkstoffgutachten noch auf etwaige weitere von der Verteidigerin angeregte Gutachten ergibt sich darüber hinaus zur Überzeugung der Kammer eine besondere Schwierigkeit der Sachlage, die die Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich macht.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf 473 Abs. 1, 7 StPO.