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LG München I, Endurteil v. 23.05.2025 – 14 S 3381/24
Titel:

Sittenwidrigkeit, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Nichtzulassungsbeschwerde, Elektronisches Dokument, Verbotsirrtum, Streitwert, Gesetzwidriger Zustand, Elektronischer Rechtsverkehr, Verkehrserforderliche Sorgfalt, Abschalteinrichtung, Vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten, Prüfungskompetenz, Anderweitige Erledigung, gesetzliches Schuldverhältnis, Rechtsanwaltsgesellschaft, Berufungsgericht, Qualifizierte elektronische Signatur, Tatsachengrundlage, Kosten des Berufungsverfahrens, Formlose Mitteilung

Schlagworte:
Berufung, Verbotsirrtum, Sittenwidrigkeit, Gesamtabwägung, Typgenehmigung, Abschalteinrichtung, Rückrufbescheid
Vorinstanz:
AG München, Urteil vom 06.02.2024 – 223 C 19348/23
Fundstelle:
BeckRS 2025, 11754

Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Amtsgerichts München vom 06.02.2024, Az. 223 C 19348/23, wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Amtsgerichts München ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 2.773,50 € festgesetzt.

Entscheidungsgründe

I.
1
Von einer Darstellung des Tatbestands wird gem. §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen. Die Revision wird nicht zugelassen. Die Wertgrenze des § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ist nicht erreicht, die Nichtzulassungsbeschwerde damit nicht zulässig. Ebenso liegt kein Fall des § 313a Abs. 4 ZPO vor.
2
Der Kläger beantragt vorliegend:
Unter Abänderung des am 06.02.2024 verkündeten Urteils des Amtsgerichts München, Az.: 223 C 19348/23 wird
1.
die Beklagte verurteilt, an die Klagepartei eine angemessene Entschädigung, deren Höhe gemäß § 287 ZPO in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, zzgl. Zinsen hierauf in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 29.09.2023 zu zahlen.
2.
die Beklagte verurteilt, die Klagepartei von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 367,23 EUR gegenüber der ... Rechtsanwaltsgesellschaft mbH freizustellen.
3
Die Beklagte beantragt demgegenüber:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
II.
4
Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.
5
Das erstgerichtliche Urteil ist nicht zu beanstanden. Die klägerseits geltend gemachten Ansprüche bestehen in der Tat nicht, zumal der Beklagten kein durchgreifender Verschuldensvorwurf gemacht werden kann.
6
Insoweit ist zunächst auf die zutreffenden erstgerichtlichen Ausführungen Bezug zu nehmen. Zusammenfassend und ergänzend ist seitens des Berufungsgerichts anzufügen:
7
Die Beklagte unterlag auch in den Augen des Berufungsgerichts einem unvermeidbaren Verbotsirrtum. Ein entlastend wirkender Verbotsirrtum kann vorliegen, wenn der Schädiger die Rechtslage sorgfältig geprüft hat und er bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt mit einer anderen Beurteilung durch die Gerichte nicht zu rechnen brauchte.
8
Vorliegend stellt sich die Besonderheit, dass die Beklagte das KBA im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens über das Thermofenster unterrichtet und das KBA die Typgenehmigung erteilt hatte. Auch in dem Bescheid vom 21.02.2027 betreffend das Software-Update stellte das KBA fest, dass die von der Beklagten mitgeteilten Abschalteinrichtungen zulässig seien (Anlage AOG-2).
9
Wenn also die Beklagte sogar über die gesetzlichen Anforderungen hinaus ihren Mitteilungspflichten bezüglich des Thermofensters nachgekommen ist, durfte sie sich grundsätzlich darauf verlassen, dass das KBA im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwVfG eine Ergänzung verlangen würde, um sich in die Lage zu versetzen, die Zulässigkeit des Thermofensters in dem betreffenden Fahrzeug zu prüfen. Anderenfalls durfte sich die Beklagte auf die Prüfungskompetenz des KBA als Genehmigungsbehörde vertrauen und ohne Verschulden von der Zulässigkeit ihres Vorgehens ausgehen. Die Beklagte konnte sich im Zeitpunkt der Erteilung der Typgenehmigung grundsätzlich auf die Fachkompetenz der Fachbehörde verlassen; ein „besseres“ Wissen als das der Genehmigungsbehörde ist ihr nicht abzuverlangen. Es handelt sich insoweit um einen unvermeidbaren Verbotsirrtum (BGH, NJW-RR 2017, 1004 Rn. 17; BGH NJW-RR 2018, 1250 Rn. 28, 32).
10
Hierauf kann sich die Beklagte angesichts der vorgenannten Umstände zu Recht berufen (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 24.11.2022 – 7 U 1038/22).
11
Ein Anspruch aus § 826 BGB wäre schließlich auch deshalb unbegründet, weil ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten im Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertrages über das streitgegenständliche Fahrzeug nicht gegeben war.
12
Sittenwidrig im Sinne von § 826 BGB ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der in einer Gesamtschau durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Es genügt dabei im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und dadurch einen Vermögensschaden hervorruft. Hinzutreten muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens, das sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder aus den eingetretenen Folgen ergeben kann.
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Für die Bewertung eines schädigenden Verhaltens als sittenwidrig ist das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten zugrunde zu legen. Dies wird insbesondere dann bedeutsam, wenn die erste potenziell schadensursächliche Handlung und der Eintritt des Schadens zeitlich auseinanderfallen und der Schädiger sein Verhalten zwischenzeitlich nach außen erkennbar geändert hat (BGH, Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21, Rn 57; Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19; Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20; Beschluss vom 09.03.2021 – VI ZR 889/20; Urteil vom 16.09.2021 – VII ZR 286/20; Urteil vom 23.09.2021 – III ZR 200/20).
14
Zu kurz greift es daher, in solchen Fällen entweder nur auf den Zeitpunkt der „Tathandlung“ oder nur auf den des Schadenseintritts abzustellen. Im Falle der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung gemäß § 826 BGB wird das gesetzliche Schuldverhältnis erst mit Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten begründet, weil der haftungsbegründende Tatbestand des § 826 BGB die Zufügung eines Schadens zwingend voraussetzt. Deshalb kann im Rahmen des § 826 BGB ein Verhalten, das sich gegenüber zunächst betroffenen (anderen) Geschädigten als sittenwidrig darstellte, aufgrund einer Verhaltensänderung des Schädigers vor Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten diesem gegenüber als nicht sittenwidrig zu werten sein.
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Eine solche Verhaltensänderung kann somit bereits der Bewertung seines Gesamtverhaltens als sittenwidrig – gerade in Bezug auf den geltend gemachten, erst später eingetretenen Schaden und gerade im Verhältnis zu dem erst später Geschädigten – entgegenstehen und ist nicht erst im Rahmen der Kausalität abhängig von den Vorstellungen des jeweiligen Geschädigten zu berücksichtigen (BGH, Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20, Rn. 30 f. mwN; BGH, Urteil vom 08.12.2020 – VI ZR 244/20, Rn. 12, juris; BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, Rn. 15/16, juris).
16
Bei der gebotenen Gesamtbetrachtung ist das Verhalten der Beklagten gegenüber dem Kläger nicht als sittenwidrig zu beurteilen.
17
Die Beklagte bzw. ihre Rechtsvorgängerin hat bereits vor dem Erwerb des Fahrzeugs durch den Kläger die im Fahrzeug verbauten Einrichtungen offengelegt. Mit Pressemitteilung vom 25.04.2016, überschrieben mit „Aktuelle Informationen der A. O. AG zum veröffentlichten Bericht des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur“ und bezugnehmend auf zwei öffentliche Ankündigungen vom 15.12.2015 und 29.03.2016 (Anlage AOG-1) wurden die Änderung der Abgasreinigung für Neufahrzeuge und die bevorstehenden Updates für bereits in Verkehr gebrachte Fahrzeuge angekündigt.
18
Im Sommer 2016 stellte die Beklagte nach Abstimmung mit dem Kraftfahrt-Bundesamt ihre Produktion auf die neue Emissionssteuerungssoftware um, sodass alle ab diesem Zeitpunkt „vom Band rollenden Fahrzeuge“ mit der aktuellsten Emissionskontrolltechnik ausgestattet waren.
19
Ausgehend von diesen Feststellungen ist im Rahmen der gebotenen Gesamtbetrachtung das Verhalten der Beklagten zum Zeitpunkt des Fahrzeugkaufs durch den Kläger nicht mehr als sittenwidrig zu bewerten. Zu diesem Zeitpunkt verfolgte sie bereits die Strategie, an die Öffentlichkeit zu treten, Unregelmäßigkeiten einzuräumen und in Zusammenarbeit mit dem KBA Maßnahmen zur Beseitigung eines gesetzwidrigen Zustands zu erarbeiten, um die Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung zu bannen (BGH, Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20, Rn 37).
20
Die Beklagte hat hier überdies ausführlich dargelegt, dass das Fahrzeug gerade nicht von einem Rückruf des KBA betroffen sei, da das Fahrzeug bereits ab Werk mit einer erneuerten Emissionskontrollsoftware bzw. -system ausgestattet gewesen sei. Damit geht der klägerische Vortrag, welcher darauf abzielt darzulegen, dass das Fahrzeug mit verschiedensten, illegalen und dem Kraftfahrt-Bundesamt unbekannten Abschalteinrichtungen ausgestattet wäre, bereits ins Leere. Die Klagepartei hat auch keinen Rückrufbescheid für das konkrete streitgegenständliche Fahrzeug vorgelegt, sodass sie letztlich einen amtlichen Rückrufbescheid gerade nicht nachweisen konnte. Ungeachtet der konkreten Ausführungen der Beklagten behauptet der Kläger insoweit weiter pauschal und ohne jegliche belastbare Tatsachengrundlage sowie ohne greifbaren Bezug zum konkreten Fahrzeug oder zum Beklagtenvortrag, dass das Fahrzeug über eine unzulässige Abschalteinrichtung verfüge. Diese vagen Anwürfe stellen bloße Behauptungen „ins Blaue hinein“ dar.
21
Ob klägerseits überhaupt ein Schaden vorliegt, kann daher letztlich dahinstehen. Die Berufung ist nach alledem zurückzuweisen.
III.
22
Die Nebenforderung teilt das Schicksal des Hauptantrags (vgl. insoweit selbst bei begründetem Differenzschadensersatzanspruch: BGH, Urteil vom 16.10.2023 – VIa ZR 14/22).
IV.
23
Die Kostenfolge beruht auf § 97 ZPO, der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 10 ZPO.
24
Eine Zulassung der Revision ist vorliegend nicht veranlasst, zumal die verfahrensgegenständliche Fragestellung bereits hinreichend geklärt ist – namentlich auch durch Entscheidungen des BGH.
25
In Bezug auf den Streitwert schließt sich das zweitinstanzliche Gericht der Einschätzung der Klagepartei an.