Titel:
Chancen-Aufenthaltsrecht, Dublin-Verfahren, Überstellungsfrist, Recht auf Verbleib
Normenketten:
AufenthG § 104c Abs. 1
AsylG § 67 Abs. 1 S. 1 Nr. 5
Asylverfahrens-RL 2013/32/EU Art. 9 Abs. 1
Aufnahme-RL 2013/33/EU Art. 6 Abs. 1
Leitsatz:
§ 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG ist mit Art. 9 Abs. 1 Satz 1 der Asylverfahrens-RL nicht vereinbar. Aufgrund dieser Kollision bleibt § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unangewendet.
Schlagworte:
Chancen-Aufenthaltsrecht, Dublin-Verfahren, Überstellungsfrist, Recht auf Verbleib
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 07.08.2023 – RN 9 K 23.571
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstelle:
BeckRS 2025, 11672
Tenor
I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 7. August 2023 wird geändert. Der Bescheid des Landratsamtes Passau vom 21. März 2023 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104c Abs. 1 AufenthG zu erteilen.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweiligen Kostenbetrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
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Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein erstinstanzlich erfolgloses Verpflichtungsbegehren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG weiter.
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Der Kläger, sierra-leonischer Staatsangehöriger, am 2. Februar 2017 in das Bundesgebiet eingereist, beantragte am 13. Februar 2017 Asyl und erhielt eine Aufenthaltsgestattung gemäß § 67 AsylG. Mit Bescheid vom 16. Juni 2017 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Asylantrag wegen der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin IIIVerordnung) ab und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Italien an. Den Antrag des Klägers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der am 21. Juni 2017 erhobenen Klage lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 3. Juli 2017 ab. Nach dem Scheitern eines Überstellungsversuchs am 1. Dezember 2017 (der Kläger wurde zum – nicht angekündigten – Zeitpunkt der Abholung nicht an seiner Anschrift angetroffen), der Stornierung eines weiteren Antrags auf Luftabschiebung des Klägers am 5. Dezember 2017 (da die für die Durchführung der Abschiebung beantragte Sicherheitsbegleitung nicht vor drei Monaten zu bekommen sei), Übergang der Zuständigkeit auf die Bundesrepublik Deutschland infolge Fristablaufs am 3. Januar 2018 und Aufhebung des Bescheides vom 16. Juni 2017 durch Bescheid des Bundesamts vom 5. Januar 2018 erhielt der Kläger am 29. Januar 2018 erneut eine Aufenthaltsgestattung zur Durchführung des Asylverfahrens im sogenannten nationalen Verfahren. Das daraufhin eingeleitete nationale Asylverfahren wurde am 24. Februar 2020 rechtskräftig negativ abgeschlossen. Der Kläger wird seit dem 4. August 2020 geduldet, seit dem 2. Juli 2021 als Duldung für Personen mit ungeklärter Identität.
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Den Antrag des Klägers vom 12. Januar 2023 auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG lehnte der Beklagte mit Bescheid des Landratsamtes Passau vom 21. März 2023 ab.
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Die hiergegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 7. August 2023 ab. Es fehle zum maßgeblichen Stichtag nach § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG an einem seit fünf Jahren ununterbrochen geduldeten, gestatteten oder erlaubten Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet. Im Zeitraum vom 3. Juli 2017 bis zum 29. Januar 2018 habe der Kläger weder eine Aufenthaltsgestattung, Aufenthaltserlaubnis oder Duldung besessen und ihm habe zumindest für den Zeitraum vom 6. November 2017 bis 5. Dezember 2017 auch kein entsprechender Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zugestanden. Die Aufenthaltsgestattung sei gemäß § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG mit Eintritt der Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG am 3. Juli 2017 erloschen. Das Scheitern des Abschiebungsversuches sei der Sphäre des Klägers zuzurechnen. Auch hätte der Kläger abgestimmt freiwillig ausreisen können. Erst ab dem 5. Dezember 2017, als der ZAB Niederbayern mitgeteilt worden sei, dass eine Überstellung des Klägers nach Italien nicht mehr möglich sei, sei wieder von einer tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG auszugehen. Auch die vorgetragenen europarechtlichen Erwägungen würden zu keiner anderen Bewertung der Sach- und Rechtslage führen. Zum einen beziehe sich das angeführte Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 14. Januar 2021 (C-322/19 und C-385/19) nur auf die Auslegung und Anwendung des Art. 15 der Aufnahmerichtlinie und befasse sich mit dem Arbeitsmarktzugang in den Mitgliedstaaten. Zum anderen gehe es hier nur um eine rein nationale zu verorten Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Mitgliedstaat ein nationales Aufenthaltsrecht gewähre. Zudem folge aus Europarecht kein positiv berücksichtigungsfähiges Bleiberecht in dem nach der Dublin-III-Verordnung unzuständigen Mitgliedstaat bis zur tatsächlichen Überstellung. Dieses Bleiberecht ende vielmehr mit der – hier erfolglos gebliebenen – gerichtlichen Prüfung eines Antrags auf Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung. Ab Vollziehbarkeit der Überstellungsentscheidung sei der Betroffene im Einklang mit den europarechtlichen Vorgaben zum Verlassen des unzuständigen Mitgliedstaats verpflichtet. Das durch Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrensrichtlinie eingeräumte Bleiberecht bestehe ab Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nur noch im zuständigen Mitgliedstaat.
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Hiergegen wendet sich die durch den Senat wegen besonderer rechtlicher Schwierigkeiten zugelassene Berufung. Zur Begründung führt der Kläger im Wesentlichen aus, dass an der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts insbesondere im Hinblick auf die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs in seinen Urteilen vom 27. September 2012 – C-179/11 „Cimade und GISTI“ und vom 14. Januar 2021 (C-322/19 u. C385/19) erhebliche rechtliche Zweifel bestünden. Gemäß Art. 9 RL 2013/32/EU dürften Antragsteller ausschließlich zum Zweck des Verfahrens so lange im Mitgliedsstaat verbleiben, bis die Asylbehörde auf der Grundlage der in Kapitel III genannten erstinstanzlichen Verfahren über den Antrag entschieden hätten. Die Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU gehe somit von einem Recht zum Verbleib bis zu materiellen Entscheidung über den Asylantrag aus und nicht nur bis zur vorgelagerten Entscheidung über die Zuständigkeit. Dem entspreche die deutsche Rechtslage nicht vollständig. Zwar stelle die Aufenthaltsgestattung ein gesetzliches Bleiberecht im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Satz 2 RL 2013/32/EU dar. Jedoch sei der Zeitraum zwischen der Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung des Bescheides über die Unzulässigkeit nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 a AsylG und dem tatsächlichen Vollzug der Abschiebung bzw. dem Übergang der Zuständigkeit durch Verstreichen der Überstellungsfrist nicht im Sinne des vorrangigen Unionsrechts geregelt. Der nationale Gesetzgeber habe bei der Neufassung des § 67 Abs. 1 Nr. 5 AsylG gegenüber der alten Fassung nicht bedacht, dass eine Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG in vielen Fällen nicht – oder jedenfalls nicht sofort – vollzogen werden könne, z.B. bei einer Weigerung des zuständigen Mitgliedsstaates, den Asylsuchenden wieder aufzunehmen, bei fehlenden Transportmöglichkeiten, Grenzschließungen (wie während der Corona-Pandemie) oder aus gesundheitlichen oder familiären Gründen. Sofern die Voraussetzungen für eine Duldung nicht erfüllt seien, würden die Antragsteller in die Situation eines irregulären Aufenthalts geraten, der dem Status als Antragsteller im Sinne des gemeinsamen europäischen Asylsystems widerspreche. Der Status als Antragsteller hänge allein von der ausstehenden materiellen Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz und vom tatsächlichen Aufenthalt in einem Mitgliedsstaat ab – auch dem nach der Dublin-III-VO unzuständigen Mitgliedsstaat. Da sich die Berechtigung zum Verbleib jedoch allein auf die Durchführung des Asylverfahrens beziehe, sei es naheliegend, dass es sich im nationalen Recht um die Aufenthaltsgestattung zur Durchführung des Asylverfahrens gemäß § 55 Abs. 1 AsylG handele. Daher sei der Aufenthalt des Klägers seit der Stellung seines Asylantrags im Bundesgebiet bis zur Rechtskraft des Bescheides über die Ablehnung seines Antrags auf internationalen Schutz ununterbrochen gestattet, eine schädliche Unterbrechung sei nicht eingetreten. Sofern man nicht der Auffassung eines durchgehend gestatteten Aufenthalts folge, ergebe sich dasselbe Ergebnis, wenn man annehme, dass der Aufenthalt rückwirkend als gestattet anzusehen sei, weil der Unzulässigkeitsbescheid durch Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 5. Januar 2018 „aufgehoben“ wurde. Verneine man das Bestehen der Aufenthaltsgestattung bis zur Durchführung der Überstellung oder bis zum Übergang der Verantwortung, so müsste jedenfalls ein Anspruch auf Ausstellung einer Duldungsbescheinigung bejaht werden, da die Abschiebung bis zur tatsächlichen Überstellung ausgesetzt sei. Selbst wenn man zum Ergebnis käme, dass der Kläger in einem Zeitraum von einem Monat weder eine Duldung noch den Anspruch auf eine Duldung gehabt hätte, wäre diese Unterbrechung entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts unwesentlich und stünde dem Anspruch nicht entgegen.
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der Beklagte wird unter Abänderung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg vom 7. August 2023 und unter Aufhebung des Bescheides des Landratsamtes Passau vom 21. März 2023 verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104c Abs. 1 AufenthG zu erteilen,
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hilfsweise über den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu entscheiden.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er verteidigt das angefochtene Urteil.
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Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 4. und 9. April 2025 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen sowie auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Über die Berufung entscheidet der Senat mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung.
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Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Verpflichtungsklage zu Unrecht abgewiesen, denn der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104c Abs. 1 AufenthG, weil er sich zum Stichtag 31. Oktober 2022 fünf Jahre ununterbrochen geduldet bzw. gestattet im Bundesgebiet aufgehalten hat. Die Ablehnung derselben durch den Beklagten ist daher rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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1. Gemäß § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG soll einem geduldeten Ausländer abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1, 1a und 4 sowie § 5 Abs. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich am 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat, er sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennt und nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, oder Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht, die nicht auf Jugendstrafe lauten, grundsätzlich außer Betracht bleiben.
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Streitig ist von den tatbestandlichen Voraussetzungen allein, ob der Kläger die erforderliche Voraufenthaltszeit eines fünfjährigen, ununterbrochen geduldeten, gestatteten oder erlaubten Aufenthaltes im Bundesgebiet zum Stichtag 31. Oktober 2022 erfüllt. Konkret geht es um den Zeitraum vom 3. Juli 2017 bis zum 29. Januar 2018 (zumindest um den Zeitraum vom 6. November bis zum 5. Dezember 2017), in dem der Kläger nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, einer Duldungsbescheinigung oder einer Bescheinigung über die Aufenthaltsgestattung war.
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Der Kläger konnte sich in diesem Zeitraum jedoch auf das unionsrechtliche Bleiberecht nach Art. 9 Abs. 1 Satz 1 der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (künftig: Asylverfahrens-RL) berufen (1.1). Damit kollidiert die nationale Bestimmung des § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG, wonach die Aufenthaltsgestattung mit der Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG (also der Ziffer 3 des Dublin-Bescheids) erlischt. Infolge dessen ist § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unanwendbar. In der Konsequenz dessen war der Aufenthalt des Klägers damit über den Zeitpunkt der Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung hinaus bis zum Ablauf der Überstellungsfrist und Übergang der Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens auf Deutschland weiter gestattet (1.2). Die entsprechende Aufenthaltszeit ist als Voraufenthalt im Rahmen des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG anzurechnen (1.3). Des Weiteren liegt kein atypischer Fall im Sinne des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG vor, weshalb eine Verpflichtung des Beklagten lediglich zur Verbescheidung des klägerischen Antrags und Klageabweisung im Übrigen nicht in Betracht kommt (1.4).
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1.1 Dem Kläger stand im fraglichen Zeitraum ein unionsrechtliches Bleiberecht zu, welches infolge des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts (vgl. schon EuGH, U.v. 15.7.1964 – Rs. 6/64, Costa/E.N.E.L. – juris) dazu führte, dass die Aufenthaltsgestattung bis zum Ablauf der Überstellungsfrist fortbestand.
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Der Senat hat berücksichtigt, dass § 104c AufenthG nicht unionsrechtlich determiniert ist. Das Chancen-Aufenthaltsrecht soll Menschen, die sich seit längerem in Deutschland aufgehalten und hier ihr Lebensumfeld gefunden haben, eine aufenthaltsrechtliche Perspektive eröffnen, indem ihr Aufenthalt „auf Bewährung“ legalisiert und ihnen die Chance eingeräumt wird, in der „Bewährungszeit“ die notwendigen Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland entweder auf Grundlage von § 25a oder § 25b zu schaffen (BT-Drs. 20/3717, 1). Letztlich baut § 104c AufenthG die Brücke für solche Personen, die die Voraussetzungen der §§ 25a, 25b noch nicht erfüllen, sie aber prognostisch innerhalb von 18 Monaten erfüllen können (Kabis in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 104c AufenthG Rn. 3). Ein unmittelbarer Bezug zu Unionsrecht besteht nicht.
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Aber auch wenn § 104c AufenthG nicht unionsrechtlich determiniert ist, wird die tatbestandliche Voraussetzung „Aufenthaltsgestattung“ durch unionsrechtliche Vorgaben – hier in erster Linie durch Art. 9 Abs. 1 Satz 1 der Asylverfahrens-RL – beeinflusst bzw. bestimmt. In solchen Fällen ist die Auslegung des nationalen Rechts im Einklang mit den Zielen und Vorgaben des Unionsrechts vorzunehmen, auch wenn – wie hier – § 104c AufenthG nur mittelbar durch Unionsrecht beeinflusst ist.
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Danach gilt Folgendes:
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1.1.1 Die Asylverfahrens-RL findet grundsätzlich auch auf das Verfahren nach der Dublin-III-Verordnung Anwendung, weil in deren Erwägungsgrund 12 bestimmt ist, dass die Verfahrensregelungen der Asylverfahrens-RL „zusätzlich und unbeschadet“ der Verfahrensgrundsätze der Verordnung, aber „vorbehaltlich der Beschränkungen ihrer Anwendung“ anwendbar sind.
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1.1.2 Gemäß Art. 9 Abs. 1 Satz 1 der Asylverfahrens-RL dürfen Antragsteller ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens so lange im Mitgliedstaat verbleiben, bis die Asylbehörde auf der Grundlage der in Kapitel III der Asylverfahrens-RL genannten erstinstanzlichen Verfahren über den Antrag entschieden hat.
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Die Begriffe „Antragsteller“ und „Verbleib im Mitgliedstaat“ sind in der AsylverfahrensRL definiert. „Antragsteller“ ist ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch keine bestandskräftige Entscheidung ergangen ist (Art. 2 Buchst. c) der Asylverfahrens-RL). „Verbleib im Mitgliedstaat“ ist der „Verbleib im Hoheitsgebiet … des Mitgliedstaates, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde oder geprüft wird“ (Art. 2 Buchst. p) der Asylverfahrens-RL).
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Die im Rahmen des Begriffs „Antragsteller“ genannte „bestandskräftige Entscheidung“ ist nach Art. 2 Buchst. e) der Asylverfahrens-RL die „Entscheidung darüber, ob einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gemäß der RL 2011/95/EU die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, und gegen die kein Rechtsbehelf nach Kapitel V der vorliegenden Richtlinie mehr eingelegt werden kann, unabhängig davon, ob ein solcher Rechtsbehelf zur Folge hat, dass Antragsteller sich bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten dürfe“.
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1.1.3 Aus diesen Begriffsbestimmungen ergibt sich zunächst einmal, dass das Recht auf Verbleib sowohl im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats besteht, in dem der Asylantrag geprüft wird, als auch im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem dieser Antrag gestellt wurde (s. Art. 2 Buchst. c) der Asylverfahrens-RL: „gestellt wurde oder überprüft wird“; siehe auch: EuGH, U.v. 27.9.2012 – C-179/11, Cimade und GISTI – juris LS 1 und Rn. 40 ff., insb. 47, 48).
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1.1.4 Weiter ergibt sich aus der Begriffsbestimmung des Art. 2 Buchst. e) der Asylverfahrens-RL, dass es sich bei dem Dublin-Bescheid nicht um eine bestandskräftige Entscheidung im Sinne der Asylverfahrens-RL handeln kann.
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Art. 2 Buchst. e) der Asylverfahrens-RL bezieht sich offensichtlich nur auf Entscheidungen über die Begründetheit des Antrags auf internationalen Schutz. Bei unzulässigen Anträgen gemäß Art. 33 Abs. 1 und 2 der Asylverfahrens-RL müssen die Mitgliedstaaten „nicht prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der RL 2011/95/EU zuzuerkennen ist“. Folglich erfasst der Begriff der „bestandskräftigen Entscheidung“ nach Art. 2 Buchst. e) Asylverfahrens-RL nicht die Fälle der Ablehnung eines Antrags als unzulässig ohne Sachentscheidung, wenngleich diese nach deutschem Verwaltungsverfahrensrecht der Bestandskraft fähig sind. Des Weiteren stellt die Entscheidung, mit der sich ein Mitgliedstaat gem. der Dublin-III-Verordnung für unzuständig erklärt (d.h. im nationalen Recht die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Buchst. a) AsylG), keine Unzulässigkeitsentscheidung im Sinne des Art. 33 Abs. 1 Asylverfahrens-RL dar. Die Unzuständigkeit nach der Dublin-IIIVerordnung bildet insoweit keinen Unterfall der Unzulässigkeit des Asylantrags im Sinne des Art. 33 Abs. 1 Asylverfahrens-RL. Vielmehr kommt in der Regelung zum Ausdruck, dass die Unzuständigkeit des Mitgliedstaats neben den genannten Fällen der Unzulässigkeit eines Antrags einen weiteren Anwendungsfall darstellt, in welchem der Mitgliedstaat die Begründetheit des Antrags nicht prüfen muss.
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1.1.5 Des Weiteren handelt es sich bei der Überstellungsentscheidung, mithin der Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG, nicht um eine „erstinstanzliche Entscheidung“, mit der das Bleiberecht gemäß Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrens-RL endet. Es handelt sich bei dem Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nach Art. 20 ff. Dublin-III-Verordnung nicht um eines der im Kapitel III der Asylverfahrens-RL geregelten „erstinstanzlichen Verfahren“. Folglich ergeht eine Entscheidung über die Unzuständigkeit des Mitgliedstaates, in dem sich der Antragsteller aufhält, und ihr folgend eine Überstellungsentscheidung nach der Dublin-III-Verordnung nicht auf der Grundlage eines „erstinstanzlichen Verfahrens“ nach Kapitel III und beendet daher nicht das Bleiberecht nach Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrens-RL.
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1.1.6 Die Abschiebungsanordnung als Überstellungsentscheidung im Sinne der Dublin-III-Verordnung ist auch keine Rückkehrentscheidung i.S.d. Art. 3 Nr. 4, Art. 6 Rückführungs-RL, mit der die Illegalität des Aufenthaltes festgestellt wird, weshalb diese Richtlinie nicht auf Dublin-Fälle anwendbar ist (OVG SH, U.v. 25.1.2024 – 4 LB 4/23 – juris Rn. 117; hinsichtlich der Modalitäten der Überstellung: BVerwG, U.v. 17.9.2015 – 1 C 26.14 – juris Rn. 17 a.E.; Hörich, ZAR 2011, 281/284; Wittmann, ZAR 2019, 45/53 m.w.N.; offenlassend: Bender/Bethke/Dorn in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2013, § 67 AsylG Rn. 82). Dies folgt aus der Begriffsdefinition der „Rückkehr“ in Art. 3 Nr. 3 Rückführungs-RL, wobei es sich um die „Rückreise [freiwillig oder erzwungen] in das Herkunftsland, ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird“ handelt (vgl. <bezogen auf den Fall der Sekundärmigration von anerkannten Schutzberechtigten> EuGH, U.v. 24.2.2021 – C-673/19 – juris Rn. 42 ff., insb. 45; BVerwG, U.v. 19.12.2024 – 1 C 3.24 – juris Rn. 146; SächsOVG, U.v. 7.9.2022 – 5 A 153/17.A – juris Rn. 61).
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1.1.7 Auch aus der Regelung des Art. 27 Abs. 3 Buchst. c) Dublin-III-Verordnung ergibt sich nicht, dass das Bleiberecht gemäß Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrens-RL mit der Vollziehbarkeit der Überstellungsentscheidung endet. Der Bundesgesetzgeber hat mit § 34a Abs. 2 i.V.m. § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG die Regelungsoption nach Art. 27 Abs. 3 Buchst. c) Dublin-III-Verordnung gewählt (vgl. zu den optionalen Regelungsmodellen des Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-Verordnung: Bender/Bethke/Dorn in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 67 AsylG Rn. 85). Art. 27 Abs. 3 Buchst. c) Dublin-III-Verordnung schützt den jeweiligen Antragsteller aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes lediglich temporär vor einem Vollzug der Überstellungsentscheidung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf auf Aussetzung derselben und macht die aufschiebende Wirkung vom Erlass einer gerichtlichen Entscheidung über einen entsprechenden Antrag der betroffenen Person abhängig (vgl. EuGH, U.v. 13.9.2017 – C-60/16, Khir Amayry – juris Rn. 64; Bender/Bethke/Dorn a.a.O.). Bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs hat der Antragsteller das Recht, im Hoheitsgebiet des ersuchenden Mitgliedstaats (bzw. des Aufnahmestaats) zu bleiben, es handelt sich damit um eine „automatische“ Aussetzung der Überstellung (EuGH, U.v. 14.1.2021 – verb. Rs. C-322/19 u. C-385/19, KS und MHK u.a. – juris Rn. 87 f. m.w.N.). Dem trägt der Bundesgesetzgeber mit dem gesetzlichen (temporären) verfahrenssichernden Überstellungsverbot gemäß § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG Rechnung (vgl. BVerwG, B.v. 26.1.2021 – 1 C 52.20 – juris Rn. 13; U.v. 9.1.2019 – 1 C 36.18 – juris Rn. 14; U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – juris Rn. 17 mit Verweis auf EuGH, U.v. 19.6.2018 – C-181/16, Gnandi; vgl. auch BT-Drs. 18/6185 S. 35 zu § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG; Bender/Bethke/Dorn in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 67 AsylG Rn. 77; weitergehend Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Dezember 2022, § 34a AsylG Rn. 81: „eingeschränkter automatisch eintretender Suspensiveffekt“; den gegen diese Regelung vorgebrachten unionsrechtlichen Bedenken – vgl. Bender/Bethke/Dorn in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 67 AsylG Rn. 80 ff. – muss vorliegend nicht weiter nachgegangen werden).
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1.1.8 Aus den vorstehenden Ausführungen (1.1.1 bis 1.1.7) folgt somit, dass der Kläger im streitigen Zeitraum bis zum Zuständigkeitsübergang auf Deutschland das verfahrensrechtliche Bleiberecht nach Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrens-RL für sich beanspruchen konnte.
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Dieses Verständnis der Asylverfahrens-RL deckt sich auch mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der in den Verfahren Cimade und GISTI sowie KS und MHK entschieden hat, dass erst die tatsächliche Überstellung des Antragstellers durch den ersuchenden Mitgliedstaat dessen Zuständigkeit für die Gewährung der Mindestaufnahmebedingungen nach der RL 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (künftig: Aufnahme-RL) beendet (U.v. 27.9.2012 – C-179/11, Cimade und GISTI – juris Rn. 43, 48 zur Vorgänger-RL 2003/9/EG; EuGH v. 14.01.2021 – C-322/19, KS und MHK – juris Rn. 61 ff., 67 zur Anwendbarkeit des Art. 15 bzw. Art. 16 bis 18 der Aufnahme-RL 2013/33; sich anschließend: BSG, B.v. 25.7.2024 – B 8 AY 6/23 R – juris Rn. 17; aktuell hierzu: SG Karlsruhe, B.v. 19.2.2025 – S 12 AY 424/25 ER – juris Rn. 20).
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Diese Rechtsprechung ist in dem Zusammenspiel des Asylpakets II, bestehend aus Asylverfahrens-RL, Aufnahme-RL und Dublin-III-Verordnung zu verstehen. Die Mindestaufnahmebedingungen der Aufnahme-RL setzen nach deren Art. 3 Abs. 1 voraus, dass der Antragsteller ein Recht auf Verbleib hat. Das setzt denknotwendig den Fortbestand der Berechtigung zum Verbleib auch nach der Vollziehbarkeit des Dublin-Bescheids voraus. Auch der Antragstellerbegriff der Aufnahme-RL ist davon bestimmt, dass über den Antrag auf internationalen Schutz noch nicht endgültig entschieden worden ist (vgl. Art. 2 Buchst. b) der Aufnahme-RL), was nach den vorstehenden Ausführungen nicht der Fall ist.
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Die vorstehend zitierte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in den Verfahren Cimade und GISTI bzw. KS und MHK ist teils auf Kritik gestoßen. Wittmann hat in seiner Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen des Ausschusses für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages der 20. Wahlperiode am 23. September 2024 betreffend die Gesetzentwürfe zur Verbesserung der inneren Sicherheit und des Asylsystems, zur Verbesserung der Terrorismusbekämpfung und zur Begrenzung des illegalen Zustroms von Drittstaatsangehörigen nach Deutschland (Ausschuss-Drs. 20(4)493 A neu, S. 76) in Bezug auf die Streichung/Beschränkung der Leistungen für Asylsuchende mit Zuständigkeit eines anderen Staats im DublinSystem die Rechtsansicht („dürfte“) vertreten, Leistungsansprüche nach der Aufnahme-RL bestünden in Dublin-Verfahren nur bis zum Ablauf der einwöchigen Antragsfrist nach Bekanntgabe der Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG bzw. bis maximal zur Ablehnung des fristgerecht gestellten Eilrechtsschutzantrags. Eingeräumt wird jedoch, dass dieses Normverständnis „zweifellos … mit unionsrechtlichen Auslegungsfragen“ behaftet sei, allerdings ohne dies näher zu spezifizieren. Auch Daum (in ZESAR 2014, 489/490) geht davon aus, dass mit Erlöschen der Aufenthaltsgestattung nach § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG der Anwendungsbereich der Aufnahme-RL mangels Bleiberechts in Deutschland nicht mehr eröffnet sei (vgl. auch Birk in Bieritz-Harder/Conradis/Palsherm, SGB XII, 13. Auflage 2024, § 1a AsylbLG Rn. 34; SG Darmstadt, B.v. 22.7.2022 – S 16 AY 62/2 ER – juris Rn. 16). Eine Begründung hierfür lässt er freilich missen.
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Wittmann (a.a.O.) geht davon aus, dass die materiellen Ansprüche der Aufnahme-RL nur bis zum Ablauf der einwöchigen Antragsfrist des fristgerecht gestellten Eilschutzantrags bestehen. Das vermag vor dem Hintergrund der zitierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sowie der vorstehenden Ausführungen nicht zu überzeugen.
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1.1.9 Das dem Kläger gemäß Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrens-RL während der Überstellungsfrist zustehende Bleiberecht dient der verfahrensrechtlichen Absicherung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung („non-refoulement“), wonach kein Antragsteller dorthin zurückgeschickt werden darf, wo er der Verfolgung bzw. unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt ist (vgl. Art. 18, Art. 19 Abs. 2 GR-Charta i.V.m. Art. 33 des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951 i.d.F. des Protokolls vom 31.1.1967).
39
Nach Art. 6 Abs. 1 Aufnahme-RL bestätigt der Mitgliedstaat, in dem sich der jeweilige Antragsteller aufhält, die Berechtigung zum Empfang der entsprechenden Leistungen im Rahmen der unionsrechtlichen Mindestaufnahmebedingungen durch eine dem Ausländer auszuhändigende Bescheinigung, welche die Antragstellereigenschaft dokumentiert. Diese Bestimmung dient dem Zweck, den rechtlichen Status des Ausländers zu klären und sicherzustellen, dass dieser Zugang zu den in der Aufnahme-RL vorgesehenen Rechten und Garantien erhält, wie etwa Unterkunft, medizinische Versorgung oder andere materielle Leistungen (vgl. Tsourdi in Thym/Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 3. Ed. 2022, Art. 6 RL 2013/33/EU) und dient daher in erster Linie dem Nachweis der Berechtigung zum Empfang der unionsrechtlichen Mindestaufnahmebedingungen. Aus dem Zusammenspiel des Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrens-RL und des Art. 6 Abs. 1 Aufnahme-RL ergibt sich ein materiell-rechtlicher Gehalt des unionsrechtlichen Bleiberechts. Die Bleibeberechtigung gem. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrens-RL endet mit der Entscheidung in einem erstinstanzlichen Verfahren nach Kapitel III der Asylverfahrens-RL, wodurch der Aufenthalt illegal wird (EuGH, U.v. 19.6.2018 – C-181/16, Gnandi – juris Rn. 41, 44; U.v. 30.5.2013 – C534/11, Arslan – juris Rn. 48).
40
1.2 Die unter 1.1. beschriebene Kollision von nationalem Recht mit Unionsrecht ist nach den Grundsätzen zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts aufzulösen. Bei einem Konflikt zwischen dem Unionsrecht und dem nationalen Recht ist es Sache des nationalen Gerichts, das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Unionsrechts auszulegen und anzuwenden; soweit eine solche unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich ist, darf es entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden (EuGH, U.v. 18.3.2004 – C-8/02, Leichtle – juris Rn. 58, v. 13.7.2016 – C-187/15, Pöpperl – juris Rn. 43 ff. und zuletzt v. 24.7.2023 – C-107/23 PPU – juris Rn. 95).
41
Der Senat vermag die infolge der Regelung des § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG unionsrechtlich bestehende Regelungslücke nicht auszufüllen. Diese Entscheidung ist zuvörderst dem Gesetzgeber vorbehalten (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 19.19 – juris Rn. 44). Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrens-RL ist hinreichend bestimmt und inhaltlich unbedingt und entfaltet daher seit dem Ablauf der Umsetzungsfrist gem. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrens-RL am 20. Juli 2015 unmittelbare Wirkung (vgl. zu den Voraussetzungen: EuGH, U.v. 6.3.2014 – C-595/12, Napoli – juris Rn. 46 m.w.N.; U.v. 5.10.2004 – C-397/01, Pfeiffer u.a. – juris). Der Richtlinienvorschrift kommt somit Anwendungsvorrang gegenüber entgegenstehendem nationalen Recht zu (vgl. EuGH, U.v. 24.6.2019 – C-573/17, Poplawski – juris Leitsatz 2 und Rn. 62 ff.). Demzufolge ist § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG bis zu einer Regelung durch den Gesetzgeber nicht anwendbar (vgl. zur Verpflichtung der nationalen Gerichte, unionsrechtswidrige nationale Gesetze unangewendet zu lassen: EuGH a.a.O., Rn. 61 m.w.N.; BVerwG a.a.O., Rn. 48 m.w.N.; U.v. 18.7.2023 – 4 CN 3.22 – juris Rn. 16).
42
Dem Bundesgesetzgeber steht es frei, der Dokumentationspflicht nach Art. 6 der Aufnahme-RL (siehe 1.1.9) durch ein anderes Rechtsinstitut als eine Aufenthaltsgestattung nach § 63 AsylG Rechnung zu tragen (vgl. zu dieser Möglichkeit: Art. 6 Abs. 2 Satz 2 der Aufnahme-RL; offen gelassen von BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 1.19 – juris Rn. 20) und zwischen den Zeiten vor und nach dem Dublin-Bescheid zu differenzieren bzw. zu entscheiden, welchen Voraufenthalt er im Rahmen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG, aber auch §§ 25a und 25b AufenthG berücksichtigen möchte. Es ist dem nationalen Gesetzgeber überlassen, an welchen Aufenthaltsstatus er welche Rechte koppelt.
43
Dem Unionsrecht kann kein Anhaltspunkt dafür entnommen werden, dass den Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 Aufnahme-RL zwingend durch eine Aufenthaltsgestattung nach den §§ 55 ff. AsylG Rechnung getragen werden muss. Die genannte Richtlinienvorschrift ist gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt dem nationalen Gesetzgeber aber die Wahl der Form und der Mittel. Eine unmittelbare Wirkung des Art. 6 Abs. 1 Aufnahme-RL scheidet deshalb aus (vgl. zu den Voraussetzungen: EuGH, U.v. 6.3.2014 – C-595/12, Napoli – juris Rn. 46 m.w.N.; U.v. 5.10.2004 – C-397/01, Pfeiffer u.a. – juris). Etwas Anderes folgt nicht aus Art. 6 Abs. 4 Aufnahme-RL, wonach die Mitgliedstaaten die Maßnahmen treffen, die erforderlich sind, um den Antragstellern das in Absatz 1 genannte Dokument auszustellen, das so lange gültig sein muss, wie ihnen der Aufenthalt im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats gestattet ist. Mit „gestattet“ kann nicht die in den §§ 55 ff. AsylG geregelte Aufenthaltsgestattung des nationalen Rechts angesprochen sein, sondern nur das unionsrechtliche Bleiberecht. Der Senat teilt deshalb nicht die Auffassung, dass nur eine Aufenthaltsgestattung den entsprechenden Zugang zu den Mindestaufnahmebedingungen gewährleistet (vgl. dazu Bender/Bethke/Dorn in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 67 AsylG Rn. 86 f.). Der Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 Aufnahme-RL lässt mehrere Möglichkeiten zu, um einem Antragsteller bis zu seiner Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat unionsrechtskonforme Aufnahmebedingungen zu gewähren. Es bleibt somit einer Gestaltungsentscheidung des nationalen Gesetzgebers überlassen, wie er das unionsrechtliche Bleiberecht zur Gewährleistung des Zugangs zu den unionsrechtlichen Aufnahmebedingungen innerhalb der Überstellungsfrist bzw. bis zu deren Ablauf im Einklang mit der Systematik des nationalen Rechts umsetzt.
44
1.3 Ein „gestatteter“ Aufenthalt im Sinne des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG liegt – unabhängig von der Ausstellung einer entsprechenden Bescheinigung nach § 63 AsylG – vor, wenn die Voraussetzungen der Aufenthaltsgestattung gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 bzw. Satz 3 AsylG erfüllt sind. Die Anrechnung des streitgegenständlichen Zeitraumes als „gestatteter“ Voraufenthalt im Rahmen des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG steht auch im Einklang mit den gesetzgeberischen Zielvorstellungen. Sie trägt dem Willen des Bundesgesetzgebers Rechnung, der ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 104c AufenthG alle „ununterbrochenen Voraufenthaltszeiten (…), in denen sich der Ausländer in asyl- oder aufenthaltsrechtlichen Verfahren, also geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis (…) aufgehalten hat“ (BR-Drs. 367/22 Begr. S. 43) anrechnen wollte. Die für die Überstellung eingeräumte (in der Regel) sechsmonatige Frist ist Teil des Asylverfahrens, sodass dessen Einbeziehung vom gesetzgeberischen Willen gedeckt ist.
45
Die Rechtsprechung des Senats, nach der eine wegen Untertauchens gescheiterte Abschiebung eine Zäsur bildet, die den „rechtmäßigen“ Aufenthalt (im Sinne der Anrechenbarkeit) unterbricht (vgl. BayVGH, B.v. 9.4.2021 – 19 CE 20.599 – juris Rn. 15; B.v. 7.12.2022 – 19 CE 22.2047 – juris Rn. 13), ist auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar. Sie betrifft Fälle, in denen die betroffenen Ausländer für die Behörde, die die Abschiebung durchführt, infolge Untertauchens nicht bzw. für einen relevanten Zeitraum nicht greifbar sind und diese sich dadurch dem ausländerrechtlichen Verfahren entziehen bzw. ihr Aufenthaltsort der Ausländerbehörde nicht bekannt ist (vgl. BayVGH, B.v. 9.4.2021 – 19 CE 20.599, a.a.O.). Es fehlt im Falle des Klägers jedoch schon an Anhaltspunkten für ein solches Untertauchen. Im Falle des „Flüchtigseins“ sieht Art. 29 Abs. 2 Satz 2. Alt. 2 Dublin-III-Verordnung im Übrigen die Möglichkeit der Verlängerung der Überstellungsfrist auf höchstens ein Jahr vor, wenn der Betroffene sich dem behördlichen Zugriff gezielt entzieht (vgl. dazu im Einzelnen EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17, Jjuris Rn. 56; BVerwG, U.v. 26.1.2021 – 1 C 42.20 – juris Rn. 25; U.v. 17.8.2021 – 1 C 26.20 – juris Rn. 20). Insoweit reicht ein einmaliges Nichtantreffen in der Wohnung oder Unterkunft nicht für die Annahme aus, ein Antragsteller sei flüchtig im Sinne von Art. 29 Abs. 2 UAbs. 2 Alt. 2 Dublin-III-VO (BVerwG, U.v. 17.8.2021 – 1 C 26.20 – juris Rn. 23). Nach dieser Wertung der Dublin-III-Verordnung kann der gescheiterte Überstellungsversuch im vorliegenden Zusammenhang nicht zur Unterbrechung der anrechnungsfähigen Aufenthaltszeit im Sinne des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG führen.
46
1.4 Ein atypischer Fall, welcher den Beklagten auf der Rechtsfolgenseite der Norm zur Versagung des Aufenthaltstitels im Wege einer Ermessensentscheidung berechtigte (vgl. Wortlaut des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG: „soll […] erteilt werden“; BT-Drs. 20/3717, S. 44), liegt entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht vor. Eine Verpflichtung des Beklagten nur zur Neuverbescheidung des klägerischen Antrags auf Aufenthaltserlaubniserteilung gem. § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO – da der Beklagte insoweit kein Ermessen ausgeübt hätte – kommt deshalb nicht in Betracht. Für ein Absehen von der Regelfolge der Aufenthaltserlaubniserteilung müssen entweder besondere, atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, oder die Versagung des Aufenthaltstitels muss aus Gründen höherrangigen Rechts geboten sein (vgl. BVerwG, U.v. 30.4.2009 – 1 C 3.08 – juris Rn. 13 zu § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Atypische Umstände kommen in Betracht, wenn zwar formal die Erteilungsvoraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG erfüllt sind, aber der Regelungszweck erkennbar nicht erreicht werden kann, weil in der Gesamtschau die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a bzw. § 25b AufenthG augenscheinlich nicht in Betracht kommt (BayVGH, B.v. 10.10.2024 – 19 ZB 24.581 – n.v., Rn. 7 f.; OVG LSA, B.v. 1.6.2023 – 2 M 49/23 – juris Rn. 16 m.w.N.). Derartiges liegt hier nicht vor. Eine freiwillige Ausreise des Klägers innerhalb der Überstellungsfrist war nicht ohne die erforderlichen Abstimmungen zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten möglich. Das Dublin-Überstellungssystem kennt das Institut der freiwilligen Ausreise nicht. Auch bei einer Überstellung auf Initiative des Antragstellers nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a) der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 vom 2. September 2003 (Dublin-Durchführungsverordnung, ABl EG Nr. L 222 S. 3) handelt es sich um eine staatlich überwachte Ausreise, die hinsichtlich der Orts- und Terminabstimmung der behördlichen Organisation bedarf (BVerwG, U.v. 17.8.2021 – 1 C 26.20 – juris Rn. 22; U.v. 17.9.2015 – 1 C 26.14 – juris Rn. 17 f.). Im Ausnahmefall ist zwar aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine Überstellung ohne Verwaltungszwang zu ermöglichen, wenn gesichert erscheint, dass der Antragsteller sich freiwillig in den zuständigen Mitgliedstaat begibt und sich dort fristgerecht bei der zuständigen Behörde meldet (BVerwG, U.v. 17.9.2015 a.a.O., Rn. 17 ff.; U.v. 17.8.2021 a.a.O., Rn. 22). Die Überstellung ist jedoch nicht mit der Ausreise des Ausländers, sondern erst mit dessen Eintreffen bei der zuständigen Behörde (des zuständigen Mitgliedstaats) vollzogen. Bis zu diesem Zeitpunkt läuft die Überstellungsfrist. Eine freiwillige Ausreise im Sinne des Art. 7 Rückführungs-RL vermag auch den von den Dublin-Regelungen erstrebten Übergang der Verantwortlichkeit auf den zuständigen Mitgliedstaat nicht zu begründen (BVerwG, U.v. 17.9.2015 a.a.O., Rn. 18).
47
Auch kann eine Atypik nicht deshalb angenommen werden, weil der Kläger bei dem (nicht angekündigten) Überstellungsversuch am 1. Dezember 2017 nicht angetroffen werden konnte. Für ein „Untertauchen“ des Klägers und damit für einen Verstoß gegen Mitwirkungspflichten fehlt es, wie ausgeführt (1.3), an ausreichenden Anhaltspunkten.
48
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
49
3. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.
50
4. Die Revision ist zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Grundsätzlicher Klärungsbedarf besteht hinsichtlich der Rechtsfrage, ob das unionsrechtliche Bleiberecht einem Antragsteller auf internationalen Schutz nach dem Eintritt der Vollziehbarkeit einer Überstellungsentscheidung bis zum Zuständigkeitsübergang wegen Fristablaufs nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin IIIVerordnung einen im Rahmen der Stichtagsregelung nach § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG anrechnungsfähigen gestatteten, geduldeten oder erlaubten Voraufenthalt vermittelt. Zwar handelt es sich bei der Anspruchsgrundlage des § 104c Abs. 1 AufenthG um auslaufendes Recht, weil die Geltungsdauer der Norm befristet ist (vgl. § 104c AufenthG in der ab 31.12.2025 geltenden Fassung). Die aufgeworfene Rechtsfrage hat aber ebenso im Rahmen der Erteilungsvoraussetzungen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a bzw. § 25b AufenthG und damit für eine Vielzahl von Verfahren Bedeutung.