Inhalt

VG München, Urteil v. 07.04.2025 – M 5 K 24.32711
Titel:

Erfolgreiche Asylklage einer homosexuellen Frau aus Uganda

Normenketten:
GG Art. 16a
AsylG § 3, § 3a Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, § 3b Abs. 1 Nr. 4, § 3c, § 3d, § 3e, § 26 Abs. 2
Leitsätze:
1. Homophobie ist in der ugandischen Gesellschaft weit verbreitet und eine homosexualitätsfeindliche gesellschaftliche Stimmung sowie legitimierte Übergriffe und Gewalt gegen LGBTI-Personen durch nichtstaatliche Akteur(innen), werden durch den Anti-Homosexuality Act noch befeuert. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
2. In Uganda ist bei Homosexualität mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass den Betroffenen bei einer Rückkehr aufgrund ihrer Sexualität Verfolgung drohen wird, insbesondere wenn die Homosexualität offen ausgelebt wird und diese identitätsprägend ist. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylklage Uganda, Homosexualität (bisexuell), Glaubhafer Vortrag, Inneres Ringen, Asylklage, Asylanerkennung, Asylberechtigung, Herkunftsland, Uganda, sexuelle Orientierung, Bisexulität, Furcht vor Verfolgung, Glaubhaftmachung, Glaubwürdigkeit
Fundstelle:
BeckRS 2025, 11008

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom *. August 2024 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, die Klägerinnen als Asylberechtigte anzuerkennen.
II.Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klagepartei vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.   

Tatbestand

1
Die 1994 geborene Klägerin zu 1 (Klägerin zu 1) sowie ihre im Jahr 2022 geborene Tochter (Klägerin zu 2) sind ugandische Staatsangehörige. Sie reisten am … April 2023 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten hier am *. Mai 2023 Asylanträge.
2
Bei ihrer Anhörung trug die Klägerin zu 1 vor, dass sie ausgereist sei, da sie bisexuell sei. Sie fühle sich auch sexuell zu Frauen hingezogen. Ihr Partner, mit dem sie zwei Kinder habe, habe gelesen, dass sie Frauen auf dem Telefon Nachrichten geschrieben habe. Er habe sie darauf geschlagen und vergewaltigt. Sie habe wegen der Misshandlungen ein Kind verloren und habe mehrmals operiert werden müssen. Ihre Mutter habe ihr geholfen. Der Ehemann habe auch einmal gesehen, dass sie und ihre Partnerin Zuneigungen ausgetauscht hätte, als die Partnerin die Klägerin zu 1 zuhause besucht habe. Dieser Mann habe sie bei Facebook geoutet und bei der Polizei angezeigt. Dort sei dieser jedoch als Schläger bekannt gewesen und die Klägerin zu 1 sei nicht verhaftet worden. Sie sei dann mit einem anderen Mann zusammen gewesen, der der Vater der Klägerin zu 2 sei. Der habe auf einem Telefon gesehen, dass sie in einer LGBTQ Gruppe sei. Darauf sei er „ausgeflippt“. Sie habe Angst vor Ablehnung in Uganda und einer Verhaftung, denn sie müsse sich um ihre Töchter kümmern.
3
Nach einem psychologischen Kurzbericht einer Psychologin und Psychotherapeutin vom … Mai 2023 besteht bei der Klägerin zu 1 der Verdacht auf eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode. Nach einem psychologisch psychotherapeutischen Kurzbericht einer psychologischen Psychotherapeutin vom … November 2023 besteht bei der Klägerin zu 1 der Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung sowie eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode. In einem ärztlichen Attest einer Hausarztpraxis vom … November 2023 wird eine anamnestische Magenulzeration beschrieben wie auch eine psychotherapeutische Therapie bei posttraumatischer Belastungsstörung und rezidivierend depressiven Episoden dringend empfohlen.
4
Nach einer Beratungsbescheinigung einer Organisation, die lesbische Personen unterstützt, steht die Klägerin zu * seit Mai 2023 in Kontakt mit der Beratungsstelle. Die Klägerin zu 1 besuche zusammen mit ihrer Tochter regelmäßig diverse Events der LGBTQ+ -Communitiy in M* …
5
Mit Bescheid vom *. August 2024 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie auf subsidiären Schutz (Nr. 3) als unbegründet ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nr. 4). Es forderte die Klagepartei auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen, anderenfalls wurde die Abschiebung nach Uganda oder in einen anderen Staat, in den eingereist werden darf oder der zur Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Der Bescheid wurde der Klagepartei am … August 2024 gegen Postzustellungsurkunde zugestellt.
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Die Klagepartei hat am 21. August 2024 Klage erhoben und beantragt,
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1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom … August 2024 wird aufgehoben.
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2. Die Beklagte wird verpflichtet, die Klägerinnen als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) vorliegen.
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3. (Hilfsweise:) Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägerinnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
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4. (Hilfsweise:) Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägerinnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.
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5. (Hilfsweise:) Die Beklagte wird verpflichtet, das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5, 7 Satz 1 des AufenthG festzustellen.
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Das Bundesamt hat die Akten vorgelegt und beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Am 7. April 2025 fand mündliche Verhandlung statt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte in diesem Verfahren, die vorgelegte Behördenakte sowie das Protokoll vom 7. April 2025 verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage, über die trotz Fernbleibens eines Beklagtenvertreters in der mündlichen Verhandlung entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung/VwGO), ist begründet. Die Klägerinnen haben im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 des Asylgesetzes/AsylG) einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland – Grundgesetz/GG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der Bescheid des Bundesamtes ist – soweit er hinsichtlich der Ablehnung der Anerkennung als Asylberechtigte nicht bereits bestandskräftig geworden ist – rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten. Er ist deshalb aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Klägerinnen als Asylberechtige anzuerkennen.
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1. Die Klägerin zu 1 hat einen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigte. Das Gericht ist nach dem persönlichen Eindruck, den es von der Klägerin zu 1 in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, von der Glaubhaftigkeit ihres Vortrags und der Glaubwürdigkeit der Klägerin zu 1 überzeugt.
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Die materiellen Anforderungen an eine Verfolgung der Klägerin zu 1 im Sinne des Art. 16a GG sind erfüllt; insoweit ist auf die Anforderungen nach § 3 des Asylgesetzes/AsylG zu verweisen. Nach Art. 16a Abs. 1 GG wie auch nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 des AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dann, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt. Eine Verfolgung liegt bei Handlungen vor, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1959 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte bestehen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Als Verfolgung im Sinne des Abs. 1 können unter anderem gemäß § 3a Abs. 2 AsylG die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden oder auch unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung gelten. Dabei muss zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen gemäß § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen.
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Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG vom Staat oder von Parteien oder Organisationen ausgehen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder aber von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob im Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
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Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn im Herkunftsland eine interne Schutzmöglichkeit besteht, § 3e AsylG.
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Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzuwenden. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33/07 – juris Rn. 37).
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Die begründete Furcht vor Verfolgung kann dabei sowohl auf tatsächlich erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung bereits vor der Ausreise im Herkunftsstaat (Vorverfolgung) oder auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat (Nachfluchtgründe), insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist (§ 28 Abs. 1a AsylG).
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Der der Prognose zugrunde zu legende Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit bleibt auch dann unverändert, wenn der Ausländer bereits Vorverfolgung erlitten hat. Allerdings ist nach Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 – Qualifikationsrichtlinie – (ABl. L 337 S. 9) die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Dies ist im Sinne einer widerlegbaren tatsächlichen Vermutung zu verstehen (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris Rn. 23).
24
Das Gericht muss auf einer hinreichenden Tatsachengrundlage von der Richtigkeit seiner gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle richterliche Überzeugung erlangt haben (vgl. BVerwG, U.v. 13.2.2014 – 10 C 6/13 – juris Rn. 18).
25
Für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit des Vorbringens gilt nach den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen, die sich in Art. 4 Abs. 1, 2 und 5 der Qualifikationsrichtlinie widerspiegeln, dass es dem Ausländer obliegt, von sich aus umfassend die Gründe für das verfolgungsbedingte Verlassen der Heimat substantiiert, unter Angabe genauer Einzelheiten und in sich stimmig darzulegen.
26
Der Vortrag, insbesondere zu den in die eigene Sphäre fallenden Ereignissen, muss geeignet sein, den Schutzanspruch lückenlos zu tragen (vgl. BVerwG, U.v. 24.3.1987 – 9 C 321/85 – juris Rn. 9).
27
Das Gericht muss sich in vollem Umfang die Überzeugung von der Wahrheit des von dem Ausländer behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals verschaffen, wobei allerdings der typische Beweisnotstand hinsichtlich der Vorgänge im Herkunftsland bei der Auswahl der Beweismittel und bei der Würdigung des Vortrags und der Beweise angemessen zu berücksichtigen ist. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit unvereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann, es sei denn, die Widersprüche und Unstimmigkeiten können überzeugend aufgelöst werden (vgl. BVerwG, U.v. 12.11.1985 – 9 C 27/85 – juris Rn. 11 ff.; B.v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – juris Rn. 3).
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2. Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei der Klägerin zu 1 vor. Die Klägerin zu 1 hat letztlich glaubhaft vorgetragen, dass sie aufgrund ihrer Homosexualität in Uganda verfolgt wurde und bei einer Rückkehr mit Verfolgung rechnen muss. Der erkennende Einzelrichter ist nach einer umfassenden Würdigung der Umstände des Einzelfalls auch unter Berücksichtigung der Sprachbarriere sowie der Aussagepersönlichkeit davon überzeugt, dass die Klägerin zu 1 biosexuell ist und aus diesem Grund bei einer Rückkehr nach Uganda eine Verfolgung zu befürchten hat.
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a) Das Gericht ist im Ergebnis davon überzeugt, dass die Klägerin zu 1 bisexuell ist. Diese Einschätzung beruht auf dem persönlichen Eindruck, den die Klägerin zu 1 im Termin zur mündlichen Verhandlung auf das Gericht gemacht hat. Die Klägerin zu 1 hat bei ihrer informatorischen Anhörung Fragen im Wesentlichen widerspruchsfrei beantwortet und insgesamt einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Insbesondere das Erkennen und Ausleben ihrer Sexualität sowie das „innere Ringen“ zwischen den erwarteten gesellschaftlichen Konventionen und der Erkenntnis bzw. dem Nachgeben der eigenen sexuellen Veranlagung hat sie im Grundsatz nachvollziehbar dargetan. Das gilt für die Schilderung, dass das Ausleben ihrer sexuellen Orientierung zu einem Zerwürfnis mit ihrer Mutter geführt habe, die sie als „schwarzes Schaf der Familie“ sehe. Die Klägerin zu 1 hat angegeben, Beziehungen mit Männern eingegangen zu sein, weil das zur „afrikanischen Norm“ gehöre und sie damit ihrer Mutter habe gefallen wollen. Aber sie habe es in Uganda nie geschafft, sich heterosexuell zu fühlen. Schließlich muss auch berücksichtigt werden, dass die Klägerin zu 1 an behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankungen leidet, was von zahlreichen Attesten bestätigt wird, die in zeitlich engem Zusammenhang mit den Anhörungen erstellt wurden. Auch wenn die Klägerin zu 1 die Abfolge ihrer lesbischen Beziehungen nicht stringent vorgetragen hat, erscheint in der Gesamtschau der Vortrag der Homosexualität bzw. Bisexualität (noch) plausibel und glaubhaft. Hinzu kommt, dass sich die Klägerin zu 1 in engem zeitlichen Zusammenhang mit ihrer Einreise in die Beratung von LeTRa begeben hat und sich dort kontinuierlich engagiert.
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b) Homosexuelle wie auch Bisexuelle bilden in Uganda eine soziale Gruppe i. S. d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Nach dieser Vorschrift gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemeinsam haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter. Diese gesetzlichen Vorgaben entsprechen auch dem europäischen Recht, wie es Niederschlag in Art. 10 Abs. 1 Buchst. der Qualifikationsrichtlinie gefunden hat.
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c) Darüber hinaus ist das Gericht auch davon überzeugt, dass der Klägerin zu 1 im Falle einer Rückkehr in Uganda aufgrund ihrer Homosexualität mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Eine Vorverfolgung ist dabei nicht zwingend erforderlich (VG München, U.v. 10.6.2022 – M 5 K 17.46131 – Rn. 42).
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Soweit die Gefahr künftiger asylerheblicher Eingriffe in Frage steht, ist die Einschätzung nötig, ob eine Verfolgung in absehbarer Zeit mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit droht bzw. – wenn der Betroffene bereits einmal Verfolgung erlitten hatte – ob eine Wiederholung gleicher oder ähnlicher Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist (vgl. BVerfG, B.v. 1.7.1987 – 2 BvR 478/86, 2 BvR 962/86 – BVerfGE 76, 143, juris Rn. 58; U.v. 29.11.1977 – I C 33.71 – BVerwGE 55, 82, juris Rn. 10).
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Diese Verfolgung droht ihr zumindest durch nichtstaatliche Akteure, ohne dass der ugandische Staat wirksamen Schutz hiervor bietet (§§ 3c, 3d AsylG), und ohne dass ihr interner Schutz zur Verfügung steht (§ 3e AsylG).
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aa) Den maßgeblichen Erkenntnismitteln ist zur Situation Homosexueller in Uganda – was entsprechend auch für bisexuell veranlagte Personen gilt – insoweit Folgendes zu entnehmen und bei der Beurteilung des Sachvortrags der Klägerin zu 1 zu Grunde zu legen:
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Aus den Erkenntnismitteln gehen zahlreiche Übergriffe nichtstaatlicher Akteure im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG gegen Angehörige sexueller Minderheiten, darunter Homosexuelle, hervor. Homosexualität ist in der ugandischen Gesellschaft geächtet, ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung wird nicht anerkannt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an den BayVGH vom 19. Februar 2019 zu der Fragen 3 a). Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes besteht bei offen gelebter Homosexualität vermutlich eine erhöhte Gefahr dafür, Opfer von Übergriffen zu werden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an den BayVGH vom 19. Februar 2019 zu der Fragen 3 e). Homosexuelle sind Diskriminierung, Anfeindungen und Repressalien ausgesetzt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an den BayVGH vom 19. Februar 2019 zu der Fragen 3 a). Insbesondere sind Homosexuelle nach den Erkenntnismitteln körperlichen und verbalen Angriffen, Mobgewalt, Vertreibungen, Erpressung, Entführungen, Drohungen und Belästigungen durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt (vgl. etwa Amnesty International, Auskunft an den BayVGH vom 30. August 2019, zu der Frage 3 b).
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Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes haben Vertreter Ugandas mehrfach versichert, staatliche Stellen tolerierten keine Übergriffe nichtstaatlicher Akteure („Mobjustiz“) gegen Homosexuelle (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Karlsruhe vom 3. April 2014, zu Frage 3 b). Trotz dieses erklärten Schutzwillens Ugandas ist den Erkenntnismitteln jedenfalls nur eine unzureichende Schutzfähigkeit des Staates zu entnehmen. Gegen die Übergriffe bieten die ugandischen Polizeikräfte nur in Einzelfällen Schutz, in einer Vielzahl an Fällen bleiben Homosexuelle schutzlos (vgl. Amnesty International, Auskunft an den BayVGH vom 30. August 2019, zu der Frage 3 c). Ein Bericht des britischen Innenministeriums von 2019 bestätigt, dass die Polizei Fälle von Gewalt gegen LGBTI-Personen in der Regel nicht untersuche und stattdessen die Opfer festnehme. Dort wird ausgeführt, dass der Staat im Falle von begründeter Angst vor Verfolgung einer Person durch nichtstaatliche Akteur(innen) in der Regel in der Lage, aber nicht bereit sei, einen wirksamen Schutz zu bieten (vgl. United Kingdom: Home Office (2019), Country Police and Information Note – Uganda: sexual orientation and gender identity and expression, S. 10; allgm. zugänglich unter https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/792036/CPIN_Uganda_SOGIE_EXT_April_2019.pdf).
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Homophobie ist in der ugandischen Gesellschaft weit verbreitet. Der Anti-Homosexuality Act von 2014 befeuerte über die rechtlichen Auswirkungen hinaus eine homosexualitätsfeindliche gesellschaftliche Stimmung und legitimierte Übergriffe und Gewalt gegen LGBTI-Personen durch nichtstaatliche Akteur(innen), die für ihre Taten meist nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Die allgemeine Homophobie in der Gesellschaft hat sich im Zuge der Verabschiedung des Anti-Homosexuality Acts und in den Folgejahren weiter verschärft (vgl. Amnesty International, Rule by law. Discriminatory Legislation and legitimized abuses in Uganda, Oktober 2014, S. 29 f.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Entscheiderbrief 10/2023, Die Situation von LGBTIQ-Personen in Ostafrika, insbesondere Uganda, S. 3). Private Akteure können sich bei ihren Verfolgungsmaßnahmen staatlich legitimiert fühlen. Sie berufen sich auf die Strafbarkeit nach Section 145 des Penal Code Act und drohen den Opfern mit Strafanzeigen (vgl. Amnesty International, Rule by law. Discriminatory Legislation and legitimized abuses in Uganda, Oktober 2014, S. 46 f.). Am 2. Mai 2023 hat das ugandische Parlament ein überarbeitetes Antihomosexuellengesetz verabschiedet, nachdem ein erster Entwurf durch den Präsidenten zurückgewiesen wurde. Der neue Gesetzentwurf sieht hohe Strafen vor. Bei einer Beteiligung an homosexuellen Handlungen sieht der Entwurf vor, dass dies mit lebenslanger Haft und in manchen Fällen mit der Todesstrafe geahndet werden kann (zum Ganzen: „Parlament in Uganda beschließt überarbeitetes Antihomosexuellengesetz“, https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-05/uganda-anti-homosexuellengesetz-parlament-ueberarbeit…, Abruf am 8.5.2023). Dieses Gesetz ist inzwischen vom Präsidenten unterzeichnet worden und somit in Kraft getreten (zum Ganzen: „Todesstrafe für „schwere Homosexualität“, https://www.tagesschau.de/ausland/afrika/uganda-lgbtq-gesetz-100.html, Stand 29.5.2023, Abruf: 8.11.2023). Das Gesetz verbietet jegliche Form gleichgeschlechtlicher Beziehungen sowie die Unterstützung oder Anerkennung gleichgeschlechtlicher Beziehungen und sieht hohe Haftstrafen vor. In bestimmten Fällen der „schweren Homosexualität“ („aggravated homosexuality“) sieht das Gesetz die Todesstrafe vor. Die „Begünstigung von Homosexualität“ („promotion of homosexuality“), die eine bis zu 20-jährige Haftstrafe nach sich ziehen kann, betrifft u. a. die wissentliche finanzielle Unterstützung von Homosexualität, die wissentliche Zurverfügungstellung von Räumlichkeiten (z.B. Mietwohnungen), in denen homosexuelle Handlungen durchgeführt werden, oder das Betreiben einer Organisation, die Homosexualität begünstigt (zum Ganzen: Republic of Uganda, The Anti-Homosexuality-Act mit Übersetzung in die deutsche Sprache; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Entscheiderbrief 10/2023, Die Situation von LGBTIQ-Personen in Ostafrika, insbesondere Uganda, S. 3).
38
Die gesellschaftliche Verfolgung wird durch ugandische Massenmedien begleitet, die mehrfach Angehörige sexueller Minderheiten bloßgestellt haben. Im Jahr 2010 hat die Boulevardzeitung „Rolling Stone“ Fotos und Adressen von 100 angeblich Homosexuellen veröffentlicht. Auf der Titelseite rief das Magazin dazu auf, die abgebildeten Personen zu erhängen. Drei Monate später wurde David Kato, einer der Bloßgestellten und ein Homosexuellen-Aktivist, ermordet (vgl. Amnesty International, Auskunft an den BayVGH vom 30.8.2019, zu der Frage 3 a).
39
Einige ugandische Medien setzen ihre anprangernde Berichterstattung über Angehörige sexueller Minderheiten fort, ohne dass hinreichender staatlicher bzw. gerichtlicher Schutz gegen die Medien ersichtlich ist. Vielmehr zahlten festgenommene Beschuldigte, denen Homosexualität zur Last gelegt wurde, Bestechungsgelder an die Polizei, um eine Veröffentlichung der Polizeifotos bzw. Weitergabe an die Medien zu vermeiden. Falls die Polizei die Medien benachrichtigt oder den Beschuldigten den Medien vorführt, berichten diese regelmäßig unter Preisgabe der Identität des Beschuldigten. Auf Initiative evangelikaler Gemeinden werden Angehörige sexueller Minderheiten zudem in den sozialen Medien, wie etwa Facebook und Twitter, ohne ihre Zustimmung geoutet. Nach solch einem unfreiwilligen Outing in den Medien drohen ihnen Belästigungen, gesellschaftliche Ausgrenzung und Gewalt (vgl. VG Berlin, U.v. 13. November 2015 – 34 K 55.12 A – juris Rn. 61 m.w.N.).
40
bb) Die Angaben der Klägerin zu 1 gegenüber dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung stehen im Einklang mit der Auskunftslage und tragen den Vortrag zu ihrer sexuellen Orientierung und Verfolgung vor der Ausreise.
41
Aufgrund der oben dargestellten Situation Homosexueller in Uganda ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Klägerin zu 1 bei einer Rückkehr nach Uganda aufgrund ihrer Sexualität Verfolgung drohen würde (vgl. bereits VG Regensburg, U.v. 4.9.2017 – RN 1 K 17.32818 – juris S. 12 m.w.N.; VG München, U.v. 20.6.2022 – M 5 K 17.46131; U.v. 13.7.2022 – M 5 K 18.33311; U.v. 31.10.2022 – M 5 K 17.42264). Insbesondere, da die Klägerin zu 1 ihre Homosexualität offen auslebt und diese identitätsprägend für sie ist.
42
d) Wirksamer staatlicher bzw. hoheitlicher Schutz i.S.v. § 3d Abs. 1 und 2 AsylG steht der Klägerin zu 1 bei Rückkehr – wie oben dargestellt – nicht zur Verfügung.
43
e) Auf internen Schutz kann die Klägerin zu 1 nicht verwiesen werden. Das Gericht geht davon aus, dass das Ausleben der homosexuellen Identität in ganz Uganda verfolgt wird. Ein Geheimhalten der sexuellen Orientierung zur Vermeidung der Verfolgung ist der Klägerin zu 1 nicht zumutbar (vgl. EuGH, U.v. 7.11.2013 – C-199/12 bis C 201/12 – juris). Nach alledem ist der auf dem Luftweg eingereisten Klägerin zu 1 die Asylberechtigung zuzuerkennen und der Bescheid des Bundesamtes aufzuheben, soweit er dem entgegensteht. Die materiellen Anforderungen an eine Verfolgung der Klägerin zu 1 im Sinne des Art. 16a GG sind erfüllt; insoweit wird auf die Ausführungen zu § 3 AsylG verwiesen.
44
3. Der Anspruch auf Anerkennung der im Jahr 2022 geborenen Klägerin zu 2, für die keine eigenen Asylgründe vorgebracht wurden, beruht auf § 26 Abs. 2 AsylG.
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4. Einer Entscheidung über die weiteren Anträge bedurfte es nicht, da sie nur hilfsweise gestellt waren und die Klägerinnen mit ihren Hauptanträgen Erfolg haben.
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Aufgrund des Anspruchs auf Anerkennung als Asylberechtigte sind die ablehnenden Entscheidungen hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, der Zuerkennung des subsidiären Schutzes sowie der Feststellung von Abschiebungsverboten gegenstandslos und die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots rechtswidrig, sodass der Bescheid auch insoweit aufzuheben ist (vgl. VG Freiburg, U.v. 24.9.2020 – A 9 K 6070/18 – juris Rn. 83 ff. m.w.N.).
47
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83 b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.