Titel:
Betäubungsmittelabhängigkeit, Gesamtfreiheitsstrafe, Antrag auf gerichtliche Entscheidung, Urteilsgründe, Freiheitsstrafen, Vorschaltverfahren, Kausalität, Vollstreckungsbehörde, Berufungsinstanz, Zurückstellung, Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts, Hauptverhandlungsprotokoll, Berufungshauptverhandlung, Beurteilungsspielraum, Generalstaatsanwaltschaft, Kausalzusammenhang, Staatsanwaltschaft, Einlassung des Angeklagten, Wiedererteilung der Fahrerlaubnis, Sachverständigengutachten
Normenkette:
BtMG § 35
Leitsatz:
Ein Kausalzusammenhang zwischen Abhängigkeit und Straftat im Sinne von § 35 Abs. 1 BtMG ist gegeben, wenn die Abhängigkeit nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass die Straftat entfiele. Hat sich das Tatgericht weder mit der Frage einer Betäubungsmittelabhängigkeit zur Tatzeit noch mit der Frage einer Kausalität substantiiert befasst, kommt der floskelhaften Aussage im Hauptverhandlungsprotokoll, das Gericht gehe davon aus, dass der Angeklagte die Tat aufgrund Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hätte, keine Bindungswirkung für die Vollstreckungsbehörde zu.
Schlagworte:
Betäubungsmittelabhängigkeit, Kausalzusammenhang, Vollstreckungsbehörde, Gesamtfreiheitsstrafe, gerichtliche Entscheidung, Beurteilungsspielraum, Gutachten
Fundstelle:
BeckRS 2025, 10605
Tenor
1. Der Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung gegen den Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft N. vom 8. November 2024 wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen.
2. Der Geschäftswert wird auf 5.000 € festgesetzt.
3. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 17. Dezember 2024 gegen einen Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft N. vom 8. November 2024. Dem Antrag liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:
2
Mit Urteil des Amtsgerichts Nürnberg vom 20. November 2023 – 432 Ds 214 Js 29445/22-, rechtskräftig seit 8. Juli 2024 infolge der Rücknahme der Berufung, wurde der Antragsteller wegen Betrugs unter Einbeziehung von vier weiteren Strafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 2 Monaten verurteilt. Zudem ordnete das Amtsgericht die Einziehung von Wertersatz an und hielt eine vormals verhängte Sperre für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis aufrecht. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts hatte der Angeklagte am 21. September 2022 von einem Konto seines Sohnes unberechtigt einen Betrag von 1500.- Euro abgehoben und das Geld für sich behalten. Für den Betrug erachtete das Amtsgericht Nürnberg eine Freiheitsstrafe von 8 Monaten als tat- und schuldangemessen. In die Gesamtfreiheitsstrafe bezog das Amtsgericht die mit Urteil des Amtsgerichts Nürnberg vom 16. November 2022 – 432 Ds 214 Js 28270/22 – verhängte Freiheitsstrafe von 6 Monaten, die mit Urteil des Amtsgerichts Erlangen vom 16. November 2022 – 6 Ds 912 Js 143211/22 – verhängten Freiheitsstrafen von 4 und 3 Monaten unter Auflösung der Gesamtfreiheitsstrafe und die mit Urteil des Amtsgerichts Erlangen vom 16. Februar 2023 – 8 Ds 912 Js 146510/22 – verhängte Freiheitsstrafe von 2 Monaten ein.
3
In der Berufungshauptverhandlung am 13. März 2024 ließ sich der Angeklagte laut Vermerks des Vorsitzenden der Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 14. März 2024 erstmals dahingehend ein, dass er die Abhebung des Geldes aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hätte. Von dem erlangten Betrag hätte er 300.- Euro an seinen Rechtsanwalt gezahlt und den restlichen Betrag für den Erwerb von Drogen verwendet. Er würde seit vielen Jahren Drogen konsumieren, vornehmlich Crystal Meth, aber auch Kokain. Er würde sich wegen seiner Betäubungsmittelabhängigkeit in ärztlicher Behandlung befinden. Dem richterlichen Vermerk zufolge bekundete die ehemalige Lebensgefährtin des Angeklagten als Zeugin in der Hauptverhandlung, dass sie davon ausgehe, dass der Angeklagte während der damaligen Beziehung auch illegale Betäubungsmittel zu sich genommen hätte. Zu der Art der Drogen könnte sie keine Angaben machen. Ein in der Berufungsinstanz in Auftrag gegebenes Sachverständigengutachten vom 19. April 2024 ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die in der Haarprobe gemessenen Werte mit einem regelmäßigen oder häufigen Konsum von Methamphetamin, Cannabisprodukten, MDMA und Cocain in den letzten 4-5 Monaten korrespondieren würden. Nach der Niederschrift der Berufungshauptverhandlung gab der Vorsitzende am 8. Juli 2024 am Ende der Verhandlung bekannt, dass die Kammer aufgrund des Gutachtens der Rechtsmedizin vom 19. April 2024 davon ausgehe, dass der Angeklagte die Tat aufgrund Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hätte. Der Angeklagte nahm daraufhin die Berufung zurück.
4
Dem Urteil des Amtsgerichts Erlangen vom 16. November 2022 lag zugrunde, dass der Angeklagte am 10. Februar 2022 ein Fahrzeug geführt hatte, obwohl er alkoholbedingt fahruntüchtig gewesen war, und anschließend zwei Polizeibeamte beleidigt hatte. Nach den Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts Nürnberg vom 16. November 2022 hatte der Angeklagte am 15. September 2022 den polizeilichen Notruf angerufen, obgleich, wie er gewusst hatte, kein Notfall vorgelegen hatte. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts Erlangen vom 16. Februar 2023 war der Angeklagte am 16. November 2022 mit einem PKW gefahren, obwohl sein Führerschein beschlagnahmt worden war. In keinem der verfahrensrelevanten Urteile finden sich Ausführungen zu einer Betäubungsmittelabhängigkeit. Eine Unterbringung nach § 64 StGB wurde ebenfalls in keinem der Urteile erörtert.
5
Mit Verfügung vom 26. August 2024 hat es die Staatsanwaltschaft N.-F. erstmals abgelehnt, die weitere Vollstreckung gemäß § 35 BtMG zurückzustellen. Mit Schreiben vom 12. September 2024 hat der Verurteilte anwaltlich vertreten bei der Staatsanwaltschaft N. -F. erneut beantragt, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe gemäß § 35 BtMG zugunsten einer von ihm beabsichtigten Therapie zurückzustellen. Die Staatsanwaltschaft N.-F. hat mit Verfügung vom 18. Oktober 2024 unter Bezugnahme auf die Ablehnung des Amtsgerichts Nürnberg vom 9. Oktober 2024 den Antrag erneut abgelehnt. Die Taten des Verurteilten wären nicht überwiegend aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen worden. Mit anwaltlichem Schreiben vom 24. Oktober 2024 hat der Verurteilte hiergegen Beschwerde eingelegt und auf den Vorrang der Einschätzung der Berufungsinstanz verwiesen. Den Einwendungen des Verurteilten hat die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 29. Oktober 2024 nicht abgeholfen. Mit Bescheid vom 8. November 2024, dem Verteidiger zugestellt am 19. November 2024, hat der Generalstaatsanwalt in N. die Beschwerde des Verurteilten unter Verweis auf die Ausführungen der Staatsanwaltschaft N.-F. und die Urteilsgründe zurückgewiesen. Die Voraussetzungen von § 35 BtMG lägen nicht vor.
6
Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 17. Dezember 2024, bei Gericht eingegangen an diesem Tage, hat der Verurteilte daraufhin einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt. Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragt mit Schreiben vom 17. Januar 2025, den Antrag auf gerichtliche Entscheidung kostenfällig als unbegründet zu verwerfen. Dem Verteidiger des Antragstellers ist dazu mit Verfügung vom 24. Januar 2025 rechtliches Gehör gewährt worden. Der Senat nimmt bezüglich der Einzelheiten auf die genannten Entscheidungen, Verfügungen und Schreiben vollumfänglich Bezug.
7
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist nach § 23 EGGVG statthaft und wurde gemäß § 26 Abs. 1 EGGVG form- und fristgerecht gestellt. Der Antrag ist auch nach § 24 Abs. 1 und 2 EGGVG zulässig, da das erforderliche Vorschaltverfahren (§ 21 StVollstrO) durchgeführt worden ist.
8
In der Sache bleibt der Antrag jedoch ohne Erfolg. Die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft N. ist nicht zu beanstanden. Die Vollstreckungsbehörde hat die Ablehnung der Zurückstellung der Vollstreckung ohne Rechtsfehler auf das Fehlen der Kausalität einer Betäubungsmittelabhängigkeit für die abgeurteilte Tat gestützt. Der Antragsteller ist somit durch die Ablehnung der Zurückstellung nicht in seinen Rechten verletzt (§ 28 Abs. 1 Satz 1 EGGVG).
9
1. Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung ist die Entscheidung der Staatsanwaltschaft N.-F. in der Gestalt, die sie im Vorschaltverfahren (§ 24 Abs. 2 EGGVG, § 21 StVollStrO) durch den Bescheid des Generalstaatsanwalts in N. erhalten hat.
10
2. Rechtsfehlerfrei ist die Generalstaatsanwaltschaft zu dem Ergebnis gekommen, dass die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 1 BtMG bezüglich der der Verurteilung vom 20. November 2023 zugrundeliegenden Tat vom 21. September 2022 und somit bezüglich der Gesamtfreiheitsstrafe nicht vorliegen.
11
a. Ist jemand wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren verurteilt worden und ergibt sich aus den Urteilsgründen oder steht sonst fest, dass er die Tat auf Grund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hat, so kann die Vollstreckungsbehörde nach § 35 Abs. 1 S. 1 BtMG mit Zustimmung des Gerichts des ersten Rechtszuges die Vollstreckung der Strafe, eines Strafrestes oder der Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt für längstens zwei Jahre zurückstellen, wenn der Verurteilte sich wegen seiner Abhängigkeit in einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung befindet oder zusagt, sich einer solchen zu unterziehen, und deren Beginn gewährleistet ist. Abs. 3 Nr. 1 der Vorschrift sieht eine entsprechende Geltung von Absatz 1 vor, wenn auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren erkannt worden ist und im übrigen die Voraussetzungen des Absatzes 1 für den ihrer Bedeutung nach überwiegenden Teil der abgeurteilten Straftaten erfüllt sind. Bei der gebotenen zusammenfassenden Bewertung kommt der Art und Höhe einer Einzelstrafe maßgebliche Bedeutung zu, es sind aber auch Anzahl, Art, Begehungsweise, Umfang und Auswirkungen, mithin der Unrechts- und Schuldgehalt aller Taten, in die Würdigung einzubeziehen (Senat, Beschluss vom 21. Oktober 2024 – 203 VAs 397/24 –, juris Rn. 9).
12
b. Danach wäre die Zurückstellung der gegen den Antragsteller verhängten Gesamtfreiheitsstrafe nur möglich, wenn der Betrug als die der Verurteilung zur Gesamtfreiheitsstrafe zugrundeliegende erheblichere Straftat aufgrund der Abhängigkeit begangen worden wäre. Dies ist hier nicht der Fall.
13
aa. Ein Kausalzusammenhang zwischen Abhängigkeit und Straftat im Sinne von § 35 Abs. 1 BtMG ist gegeben, wenn die Abhängigkeit nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass die Straftat entfiele (Senat, Beschluss vom 13. Dezember 2023 – 203 VAs 419/23 –, juris Rn. 14; Senat, Beschluss vom 21. September 2020 – 203 VAs 215/20 –, juris Rn. 49). Die Abhängigkeit darf nicht nur begleitender Umstand, sondern muss die Bedingung der Straffälligkeit gewesen sein (Senat, Beschluss vom 21. September 2020 – 203 VAs 215/20 –, juris Rn. 49). Eine Ursächlichkeit kann nicht bereits dann angenommen werden, wenn zum Zeitpunkt der Tat eine Betäubungsmittelabhängigkeit bestand oder wenn die Tat aus einer Betäubungsmittelabhängigkeit heraus zu erklären ist (BayObLG, Beschluss vom 28. Januar 2021 – 204 VAs 536/20 –, juris Rn. 14; Senat, Beschluss vom 21. September 2020 – 203 VAs 215/20 –, juris Rn. 49). Die Ursächlichkeit oder Mitursächlichkeit muss mit Gewissheit bestehen (Senat, Beschluss vom 13. Dezember 2023 – 203 VAs 419/23 –, juris Rn. 14; BayObLG, Beschluss vom 8. April 2024 – 204 VAs 62/24 –, juris Rn. 41). Die Angaben eines Verurteilten reichen zum Nachweis nicht aus. Umfangreiche Ermittlungen zur Feststellung des Kausalzusammenhangs sind im Rahmen des Verfahrens nach § 35 BtMG nicht geboten (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Dezember 2023 – 203 VAs 419/23 –, juris Rn. 14).
14
bb. Nach gefestigter Rechtsprechung steht der Vollstreckungsbehörde hinsichtlich der Frage des Kausalzusammenhangs zwischen der Betäubungsmittelabhängigkeit und der Tat grundsätzlich ein – gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer – Beurteilungsspielraum zu (Senat, Beschluss vom 13. Dezember 2023 – 203 VAs 419/23-, juris Rn. 14; BayObLG, Beschluss vom 8. April 2024 – 204 VAs 62/24 –, juris Rn. 19), es sei denn, die Kausalität ergäbe sich hinreichend nachvollziehbar „aus den Urteilsgründen“ (vgl. § 35 Abs. 1 BtMG, BayObLG, Beschluss vom 28. Januar 2021 – 204 VAs 536/20 –, juris Rn. 16).
15
cc. Den Urteilsgründen (§ 267 StPO) ist nicht zu entnehmen, dass der Antragsteller die Betrugstat aufgrund einer Drogenabhängigkeit begangen hätte.
16
dd. Aus dem Akteninhalt (vgl. Patzak/Fabricius/Fabricius, 11. Aufl. 2024, BtMG § 35 Rn. 84 ff.) und anderen Erkenntnisquellen ergeben sich ebenfalls keine tragfähigen Anhaltspunkte für eine Kausalität einer Betäubungsmittelabhängigkeit für den Betrug. Die Einlassung des Angeklagten in der Berufungsinstanz, er hätte von der Beute einen Teil für Drogen verwendet, genügt für den Nachweis einer Kausalität ebenso wenig wie die mit Blick auf Art, Zeitraum und Menge des Konsums unspezifische Aussage der Zeugin oder die den Tatzeitpunkt nicht abdeckende Beurteilung im forensischen Gutachten. Der Vermerk des Vorsitzenden im Hauptverhandlungsprotokoll der Berufungsinstanz stellt lediglich auf das – bezüglich der Tatzeit nicht aussagekräftige – Gutachten der Rechtsmedizin vom 19. April 2024 ab, ohne dass die Strafkammer die zum Nachweis einer Kausalität unerlässlichen Feststellungen zu Art, Umfang und Auswirkungen der konsumierten Substanzen getroffen hatte. Da sich das Berufungsgericht weder mit der Frage einer Betäubungsmittelabhängigkeit zur Tatzeit noch mit der Frage einer Kausalität substantiiert befasst hat, kommt seiner floskelhaften Aussage im Hauptverhandlungsprotokoll keine Bindungswirkung für die Vollstreckungsbehörde zu.
17
ee. Weitere Ermittlungen waren von Seiten der Vollstreckungsbehörde nicht geboten.
18
1. Die Entscheidung über die Gerichtskosten ergibt sich aus § 1 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 19, § 22 Abs. 1 GNotKG. Es besteht kein Anlass, die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers der Staatskasse aufzuerlegen (§ 30 Satz 1 EGGVG).
19
2. Die Festsetzung des Geschäftswerts beruht auf § 1 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 19, § 79 Abs. 1 Satz 1, § 36 Abs. 1 und 3 GNotKG.
20
3. Die Rechtsbeschwerde ist nicht zuzulassen (§ 29 Abs. 2 EGGVG), da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat, noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.