Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 06.02.2024 – 202 ObOWi 90/24
Titel:

Feststellungsanforderungen für LKW-Überholverstoß anlässlich sog. „Elefantenrennens“

Normenketten:
StVG § 4 Abs. 3, § 5 Abs. 2 S. 2, § 25 Abs. 1, Abs. 2a
StPO § 261, § 267 Abs. 1 S. 3
Leitsätze:
1. Zur Konkretisierung des Tatgeschehens ist im Urteil regelmäßig die Darstellung der Tatzeit erforderlich. (Rn. 10)
2. Im Falle eines verurteilenden Erkenntnisses ist grundsätzlich die Einlassung des Betroffenen wiederzugeben, weil diese den Umfang der Beweiswürdigung bestimmt. (Rn. 9)
3. Ein Verstoß gegen § 5 Abs. 2 Satz 2 StVO, wonach Überholen nur erlaubt ist, wenn der Überholende mit wesentlich höherer Geschwindigkeit als der zu Überholende fährt, ist in der Regel dann anzunehmen, wenn die Differenzgeschwindigkeit weniger als 10 km/h beträgt, was bei einer Geschwindigkeit des überholenden Fahrzeugs von 80 km/h einer Dauer des Überholvorgangs von 45 Sekunden entspricht. (Rn. 10)
4. Stützt das Tatgericht die Verurteilung auf eine Schätzung von Zeitangaben eines Zeugen, bedarf es regelmäßig genauer Feststellungen dazu, auf welcher Grundlage der Zeuge zu der zeitlichen Einschätzung gelangt ist. (Rn. 10)
Die Vorschrift des § 267 Abs. 1 S. 3 StPO gestattet lediglich die Verweisung auf Abbildungen, nicht aber auf sonstige Aktenteile. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Bußgeldverfahren, Fahrverbot, Urteil, Urteilsaufhebung, Rechtsbeschwerde, Sachrüge, Urteilsfeststellungen, verständlich, Tat, Tatgeschehen, Tateinheit, Tatmehrheit, Tatzeit, Tattag, Uhrzeit, Konkretisierung, Hauptverhandlung, Anwesenheit, Einlassung, Betroffeneneinlassung, Verteidiger, Vertretungsvollmacht, Autobahn, Lkw, Sattelzug, Abstand, Mindestabstand, Sicherheitsabstand, Abstandsverstoß, Vorausfahrender, Überholen, Überholvorgang, Überholverstoß, Überholender, Behinderung, Rückstau, Elefantenrennen, Geschwindigkeit, Geschwindigkeitsunterschied, Differenzgeschwindigkeit, Zeitangabe, Zeuge, Polizeibeamter, Streifenfahrzeug, Schätzung, Schätzgrundlage, gefühlsmäßig, Mitzählen, Uhr, Spurwechsel, Einscheren, Einordnen, Abbremsen, Beweiswürdigung, Beweisergebnis, Überzeugungsbildung, widersprüchlich, unklar, lückenhaft, Denkgesetz, Erfahrungssatz, Zweifelssatz, Bezugnahme, Akten, Verweisung, Abbildung, Lichtbild, Vorahndung, Vorahndungslage, Ordnungswidrigkeit, Darstellung
Fundstellen:
BeckRS 2024, 9852
ZfS 2024, 404
FDVersR 2024, 009852

Tenor

I. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Mühldorf a. Inn vom 10.07.2023 mit den Feststellungen sowie in der Kostenentscheidung aufgehoben.
II. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Mühldorf a. Inn zurückverwiesen.

Gründe

I.
1
Das Amtsgericht Mühldorf a. Inn hat den Betroffenen am 10.07.2023 wegen einer als Führer eines Lkws fahrlässig begangenen Ordnungswidrigkeit des Nichteinhaltens des Mindestabstands von 50 m zum vorausfahrenden Fahrzeug gemäß § 4 Abs. 3 StVO „und“ des Überholens, obwohl die gefahrene Geschwindigkeit nicht wesentlich höher war als die des überholten Fahrzeugs, gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 StVO zur Geldbuße von 200 Euro verurteilt und gegen ihn ein einmonatiges Fahrverbot nach Maßgabe des § 25 Abs. 2a StVG verhängt. Mit seiner gegen diese Verurteilung gerichteten Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung materiellen Rechts.
II.
2
Das Amtsgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
3
Der Betroffene befuhr als Fahrer eines Sattelzugs mit Auflieger (zulässige Gesamtmasse über 3,5 t) die Bundesautobahn A 94 und überholte zwei vor ihm fahrende Fahrzeuge. Für den Überholvorgang benötigte er insgesamt eine Zeitspanne von mehr als 1 Minute, wodurch es zu einem „Rückstau“ mehrerer Fahrzeuge kam. Nach dem Einscheren auf die rechte Spur betrug der Abstand zu dem vor ihm fahrenden Fahrzeug bei einer Geschwindigkeit von mehr als 50 km/h weniger als 10 m. Dazu, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit sich der Vorfall ereignete, verhält sich das Urteil nicht.
III.
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Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Das Urteil des Amtsgerichts kann aufgrund der erhobenen Sachrüge keinen Bestand haben.
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1. Das angefochtene Urteil ist bereits deswegen materiell-rechtlich fehlerhaft, weil das festgestellte Tatgeschehen mangels Angabe der Tatzeit nicht ausreichend konkretisiert ist.
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2. Darüber hinaus ist die Beweiswürdigung in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft.
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a) Zwar ist die Beweiswürdigung Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Die Prüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht nur der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder überhöhte Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung gestellt wurden oder sich auf nichtexistierende Erfahrungssätze stützt (st.Rspr., vgl. zuletzt nur BGH, Urt. v. 23.03.2023 – 3 StR 277/22; 16.03.2023 – 4 StR 252/22; Beschluss vom 02.03.2023 – 2 StR 119/22, jew. bei juris; BayObLG, Beschluss vom 30.05.2023 – 202 StRR 29/23 = NZWiSt 2023, 459; Urt. v. 16.12.2022 – 202 StRR 110/22 bei juris; 16.07.2021 – 202 StRR 59/21 = OLGSt StGB § 306 Nr 2; Beschluss vom 07.06.2022 – 202 ObOWi 678/22 = VerkMitt 2022, Nr. 46 = NStZ-RR 2022, 318; 03.02.2022 – 202 StRR 11/22 = NStZ-RR 2022, 119, jew. m.w.N.).
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b) Derartige Mängel haften der Beweiswürdigung des Amtsgerichts an. Die diesbezüglichen Ausführungen sind in mehrfacher Hinsicht lückenhaft.
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aa) Das Amtsgericht hat bereits nicht in einer geschlossenen Darstellung wiedergegeben, ob und wie sich der Betroffene bzw. ein mit Vertretungsvollmacht versehener Verteidiger für den Betroffenen in der Hauptverhandlung eingelassen hat. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist die Wiedergabe der Einlassung zur sachlich-rechtlichen Überprüfung der Beweiswürdigung grundsätzlich geboten (st.Rspr., vgl. nur BGH, Beschluss vom 27.09.2023 – 4 StR 148/23 bei juris; 28.09.2021 – 5 StR 140/21 = NStZ 2022, 187; 02.02.2021 – 4 StR 471/20 bei juris; 15.12.2020 – 2 StR 476/19 = BGHR StGB § 73 Abs. 1 Erlangtes 2; 03.12.2020 – 4 StR 371/20 = StV 2021, 256 = NZV 2021, 329 = NStZ 2022, 228), weil diese den Umfang der Beweiswürdigung bestimmt. Das angefochtene Urteil erwähnt indes nur summarisch, wie sich der Betroffene „positioniert“ habe. Eine in sich geschlossene Wiedergabe der Einlassung zu den Schuldvorwürfen erfolgt nicht. Überdies nimmt das Amtsgericht in diesem Zusammenhang auf Aktenstellen Bezug und verstößt damit gegen den Grundsatz, dass ein Urteil aus sich heraus verständlich sein muss (vgl. zuletzt nur BayObLG, Beschluss vom 18.10.2023 – 202 StRR 76/23 = DAR 2024, 36 m.w.N.). Die Vorschrift des § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO gestattet lediglich die Verweisung auf Abbildungen, nicht aber auf sonstige Aktenteile, wie dies das Amtsgericht getan hat. Schließlich kommt es allein auf die Einlassung in der Hauptverhandlung, nicht aber auf etwaiges schriftsätzliches Vorbringen an, falls der Betroffene oder gegebenenfalls ein bevollmächtigter Vertreter an dieser teilgenommen hat. Ob Letzteres der Fall war, kann der Urteilsurkunde ebenfalls nicht entnommen werden. Nicht einmal im Urteilseingang und schon gar nicht in den Urteilsgründen wird dargetan, ob der Betroffene oder gegebenenfalls ein Vertreter in der Hauptverhandlung anwesend war.
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bb) Darüber hinaus ist die Beweiswürdigung hinsichtlich des Verstoßes gegen § 5 Abs. 2 Satz 2 StVO, der ein Überholen nur erlaubt, wenn der Überholende mit wesentlich höherer Geschwindigkeit als der zu Überholende fährt, insofern lückenhaft, als unklar bleibt, wie das Amtsgericht zu der Feststellung gelangt ist, dass der Überholvorgang „über 1 Minute“ gedauert hat. Dies ist von Bedeutung, weil nach der obergerichtlichen Rechtsprechung, der sich der Senat anschließt, ein Verstoß gegen § 5 Abs. 2 Satz 2 StVO regelmäßig erst ab einer Differenzgeschwindigkeit von 10 km/h anzunehmen ist, was bei einer Geschwindigkeit des überholenden Fahrzeugs von 80 km/h einer Dauer des Überholvorgangs von 45 Sekunden entspricht (OLG Hamm, Beschluss vom 29.10.2008 – 4 Ss OWi 629/08 = NStZ-RR 2009, 154 = DAR 2009, 339 = NZV 2009, 302; im Ergebnis ebenso hinsichtlich der Differenzgeschwindigkeit: OLG Zweibrücken, Beschluss vom 16.11.2009 – 1 SsRs 45/09 = SVR 2010, 66 = VerkMitt 2010, Nr 21 = VRS 118, 28 [2010] = VRS 118, Nr 8 = OLGSt StVO § 5 Nr 12). Den äußerst knappen Darlegungen des angefochtenen Urteils kann allenfalls entnommen werden, dass die Feststellung zur Dauer des Überholvorgangs auf den Angaben des vernommenen Zeugen beruht. Indes hätte das Amtsgericht zur Ermöglichung einer Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht auch mitteilen müssen, auf welche Weise der Zeuge, bei dem es sich – wie sich aus den Lichtbildern, auf die das Amtsgericht Bezug genommen hat, noch ableiten lässt – um einen Polizeibeamten, der in einem Streifenfahrzeug unterwegs war, handelte, zu dieser Erkenntnis gelangt ist. Der Senat schließt sich insoweit der zutreffenden Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuleitungsschrift an, die darauf hinweist, dass eine rein gefühlsmäßig geschätzte Zeitdauer wegen der damit verbundenen Unsicherheiten nicht ausreichend ist. Demgemäß hätte es näherer Feststellungen dazu bedurft, wie der Zeuge zu der zeitlichen Einschätzung, etwa durch „Mitzählen“, die Zuhilfenahme einer Uhr oder dergleichen, gelangt ist.
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cc) Da, wie die Generalstaatsanwaltschaft M. ebenfalls zutreffend ausführt, die beiden Verstöße aufgrund der zeitlichen Überschneidung idealiter im Sinne des § 19 Abs. 1 OWiG konkurrieren, weil der Überholvorgang erst mit dem Einordnen auf die rechte Fahrspur abgeschlossen war (vgl. König in Hentschel/König/Dauer 47. Aufl. StVO § 5 Rn. 23 m.w.N.) und damit zugleich der Abstandsverstoß verwirklicht wurde, erfasst die Aufhebung auch den Schuldspruch wegen des Abstandsverstoßes nach § 4 Abs. 3 StVO (st.Rspr., vgl. zuletzt nur BGH, Beschluss vom 18.10.2023 – 6 StR 464/23; 13.09.2023 – 4 StR 132/23, jew. bei juris; 06.06.2023 – 4 StR 70/23 = NStZ-RR 2023, 313). Darauf, ob, wie die Generalstaatsanwaltschaft meint, der Schuldspruch insoweit auch deshalb rechtsfehlerhaft ist, weil das Amtsgericht ein plötzliches Abbremsen oder einen Spurwechsel des Vorausfahrenden nicht ausgeschlossen hat, kommt es deshalb nicht mehr an. Allerdings wird für die neue Hauptverhandlung darauf hingewiesen, dass eine derartige Konstellation nur dann in Erwägung zu ziehen ist, wenn sich aufgrund der Hauptverhandlung hierfür Anhaltspunkte ergeben sollten. Denn ist es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten des Betroffenen von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (st.Rspr., BGH, Urt. v. 10.01.2024 – 6 StR 361/23; 03.01.2024 – 5 StR 406/23; BayObLG, Urt. v. 24.09.2021 – 202 StRR 100/21, jew. bei juris). Hinzu kommt, dass nach dem Lichtbild auf Blatt 20 der Akten, auf welches das Amtsgericht in zulässiger Weise gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen hat, ein Abbremsen des vor dem Betroffenen befindlichen Lkws fern liegt, zumal vor diesem ersichtlich kein anderes Fahrzeug fuhr. Auch ein Wechsel durch den Vorausfahrenden auf die rechte Spur wäre ohne Bedeutung, weil in einem solchen Fall der Betroffene, der sein Fahrzeug unmittelbar vor dem Abstandsverstoß von der Überholspur wieder nach rechts eingeordnet hat, eine Abstandsverkürzung durch ein unvorhergesehenes Einscheren des Vorausfahrenden auszuschließen ist.
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3. Da das Urteil des Amtsgerichts schon aus den genannten Gründen keinen Bestand haben kann, kommt es nicht mehr darauf an, dass auch der Rechtsfolgenausspruch – wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuleitungsschrift zutreffend ausführt – aufgrund der unzulänglichen Darstellung der Vorahndungslage rechtsfehlerhaft ist.
III.
13
Aufgrund der aufgezeigten Rechtsfehler ist das angefochtene Urteil mit den getroffenen Feststellungen aufzuheben (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 353 StPO). Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Mühldorf a. Inn zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG). Es wird darauf hingewiesen, dass die mit Blick auf § 4 Abs. 3 StVO relevante Geschwindigkeit ebenfalls beweiswürdigend zu belegen sein wird.
IV.
14
Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG.
15
Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.