Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 14.02.2024 – 201 ObOWi 7/24
Titel:

Geschwindigkeitsüberschreitung eines Pkw mit Anhänger

Normenketten:
StPO § 349 Abs. 2
OWiG § 46 Abs. 1, § 79 Abs. 1, 3, § 80a Abs. 3 S. 1
StVG § 25 Abs. 1, Abs. 2a
StVO § 3 Abs. 3 Nr. 2, § 18 Abs. 1, Abs. 5 S. 2 Nr. 1
StVOAusnV 9 § 1 S. 1
Leitsatz:
Auf Kraftfahrstraßen ohne bauliche Trennung der Richtungsfahrbahnen gilt für Personenkraft-wagen mit Anhänger, auch wenn das Gespann die bauartbedingten Anforderungen des § 1 Satz 1 der 9. Ausnahmeverordnung zur StVO erfüllt, gemäß § 3 Abs. 3 Nr. 2 lit. a) bb) StVO eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h. (Rn. 6)
Schlagworte:
Bußgeldverfahren, Einzelrichter, Bußgeldsenat, Rechtsfortbildung, Geldbuße, Fahrverbot, Urteil, Rechtsbeschwerde, Sachrüge, Höchstgeschwindigkeit, Geschwindigkeitsüberschreitung, Kraftfahrstraße, Bundesstraße, autobahnähnlich, Kraftfahrzeug, Personenkraftwagen, Pkw, Anhänger, Gespann, Ausbau, baulich, bauartbedingt, Zulassung, Abgrenzung, Trennung, Bordstein, Leitplanke, Bremsvermögen;, Fahrbahn, Richtungsfahrbahn, Gegenfahrbahn, Fahrbahnbegrenzung, Fahrstabilität, Fahrzeugkombination, Gegenverkehr, Grünstreifen, Kombination, Schwingungen, Sicherheit, Spurstabilität, Spurtreue, Überfahren, Verkehrssicherheit, Unfallgefahr, Auslegung, Gesetzesauslegung, Ausnahmevorschrift, Wortlaut, Tautologie, systematisch, Normzweck, Personenkraftwagen mit Anhänger, Kraftfahrstraßen ohne bauliche Trennung der Richtungsfahrbahnen
Fundstellen:
VRS , 291
FDStrVR 2024, 009713
BeckRS 2024, 9713
SVR 2024, 433
DAR 2024, 455
ZfS 2024, 649

Tenor

I. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Kaufbeuren vom 27.09.2023 wird als unbegründet verworfen.
II. Der Betroffene hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.
1
Das Amtsgericht Kaufbeuren verurteilte den Betroffenen am 27.09.2023 wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit mit einem Kraftfahrzeug mit Anhänger außerhalb geschlossener Ortschaften um 35 km/h zu einer Geldbuße von 255 Euro und zu einem mit der Vollstreckungserleichterung nach § 25 Abs. 2a StVG versehenen Fahrverbot von einem Monat. Das Amtsgericht hat festgestellt, dass der Betroffene am 10.07.2022 mit einem Pkw mit Anhänger auf der Bundesstraße B 12 Richtung München, einer „Kraftfahrstraße ohne bauliche Trennung“ der Fahrbahnen, mit einer Geschwindigkeit von 115 km/h unterwegs war. Das Amtsgericht hat es dahinstehen lassen, ob für das Gespann eine bauartbedingte Zulassung für eine Geschwindigkeit bis zu 100 km/h vorlag. Es hat dafürgehalten, dass, unabhängig von einer solchen Zulassung, gemäß §§ 3 Abs. 3 Nr. 2 lit. a) bb), 18 Abs. 5 StVO auf Kraftfahrstraßen ohne bauliche Trennung außerhalb geschlossener Ortschaften eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h gelte. Mit seiner gegen dieses Urteil gerichteten Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung materiellen Rechts. Die Generalstaatsanwaltschaft München hat mit Stellungnahme vom 20.12.2023 beantragt, die Rechtsbeschwerde des Betroffenen als unbegründet kostenpflichtig zu verwerfen.
2
Der Einzelrichter hat mit Beschluss vom 09.02.2024 die Sache zur Fortbildung des Rechts dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.
II.
3
Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 OWiG statthaften, auch im Übrigen zulässigen und allein auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat aus den Gründen der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft M. in ihrer Antragsschrift vom 20.12.2023 keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG).
4
Einer ergänzenden Erörterung bedarf aus Sicht des Senats das Folgende:
5
Es ist – soweit ersichtlich – bislang obergerichtlich nicht geklärt, ob § 1 Satz 1 Nr. 1 der 9. Ausnahmeverordnung zur StVO für die dort bezeichneten Fahrzeuge auch dann gilt, wenn eine Kraftfahrstraße zwar durch Zeichen 331.1 der Anlage 3 zur StVO gekennzeichnet ist, aber über keine bauliche Trennung verfügt.
6
Die Rechtsansicht des Amtsgerichts, wonach – unabhängig von der bauartbedingten Zulassung des Gespanns für eine höhere Geschwindigkeit – auf Kraftfahrstraßen ohne bauliche Trennung der Richtungsfahrbahnen eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h gelte, hält der rechtlichen Nachprüfung stand.
7
§ 1 Satz 1 der 9. Ausnahmeverordnung zur StVO bestimmt, dass abweichend von § 18 Abs. 5 Nr. 1 StVO (gemeint ist offensichtlich: § 18 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 StVO = Anm. d. Senats), wonach die zulässige Höchstgeschwindigkeit 80 km/h beträgt, auf Autobahnen (Zeichen 330.1) und Kraftfahrstraßen (Zeichen 331.1) die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 100 km/h erweitert wird, sofern die Kombination aus Pkw und Anhänger bestimmte, in der Ausnahmeverordnung näher definierte technische Voraussetzungen erfüllt.
8
1. Bereits der Wortlaut des § 1 Satz 1 der 9. Ausnahmeverordnung zur StVO spricht durch die Verwendung der Formulierung „abweichend von § 18 Abs. 5 Nr. 1 StVO“ dafür, dass es sich insoweit um eine Ausnahmevorschrift von § 18 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 StVO handelt, der auf Autobahnen und autobahnähnlich ausgebauten Kraftfahrstraßen eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h für Personenkraftwagen mit Anhänger vorsieht.
9
2. Auch systematische Erwägungen sprechen gegen eine Auslegung dahingehend, dass durch die Verwendung der Worte „Autobahnen (Zeichen 330.1) und Kraftfahrtstraßen (Zeichen 331.1)“ der Geltungsbereich der Vorschrift des § 1 Satz 1 der 9. Ausnahmeverordnung zur StVO auf alle Kraftfahrstraßen (auch die ohne bauliche Trennung der Richtungsfahrbahnen) ausgedehnt werden sollte. Zwar stellt die Verwendung der Worte „Autobahnen (Zeichen 330.1) und Kraftfahrtstraßen (Zeichen 331.1)“ eine Tautologie dar, nachdem es sich bei allen in § 18 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 StVO genannten Straßen um Autobahnen und Kraftfahrstraßen handelt. Hätte der Verordnungsgeber gewollt, dass auf allen Autobahnen und Kraftfahrstraßen – unabhängig von ihrer baulichen Ausgestaltung – eine die technischen Spezifikationen des § 1 Satz 1 der 9. Ausnahmeverordnung zur StVO erfüllende Kombination aus Pkw und Anhänger eine Höchstgeschwindigkeit bis zu 100 km/h fahren darf, so hätte er sich wiederum die Worte „abweichend von § 18 Abs. 5 Nr. 1 der StVO“ sparen können, da gemäß § 3 Abs. 3 Nr. 2 lt. a) bb) StVO für Personenkraftwagen mit Anhänger außerhalb geschlossener Ortschaften ohnehin eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h gilt, die auch durch § 18 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 StVO nicht erhöht wird.
10
Hinzu kommt, dass § 1 Satz 1 der 9. Ausnahmeverordnung zur StVO, wie schon der Name der Vorschrift nahelegt, als Ausnahmevorschrift von § 18 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 StVO konzipiert ist, was wiederum für eine eher enge Auslegung des Anwendungsbereichs und dagegen spricht, dass der Verordnungsgeber den Geltungsbereich der Norm über § 18 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 StVO hinaus ausweiten und ihn auf sämtliche Autobahnen und Kraftfahrstraßen im Sinne des § 18 Abs. 1 StVO ausweiten wollte.
11
3. Vor allem aber sprechen Sinn und Zweck des § 1 Satz 1 der 9. Ausnahmeverordnung zur StVO für die Begrenzung des Geltungsbereichs auf Autobahnen und autobahnähnlichen Kraftfahrstraßen im Sinne des § 18 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 StVO.
12
Die Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit für Personenkraftwagen mit Anhänger auf 80 km/h (§ 3 Abs. 3 Nr. 2 lt. a) bb) StVO), die auch für Autobahnen und autobahnähnlich ausgebaute Kraftfahrstraßen gilt (§ 18 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 StVO), beruht auf der Erwägung, dass Gespanne bei höheren Geschwindigkeiten zu Schwingungen neigen, welche ihre Fahrstabilität und Spurtreue beeinträchtigen und damit sowohl die Sicherheit der Insassen als auch die des übrigen Verkehrs gefährden. Nach derzeitiger Rechtslage weicht die Regelung in § 18 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 StVO nicht von § 3 Abs. 3 Nr. 2 lt. a) bb) StVO ab, obwohl durch das Erfordernis der baulichen Trennung der Fahrbahnen durch Grünstreifen, Bordsteine, Leitplanken o.ä. Einrichtungen das Überfahren der Fahrbahnbegrenzung erschwert wird (vgl. König in Hentschel/König/Dauer Straßenverkehrsrecht 47. Aufl. § 18 Rn. 19a m.w.N.). In der Begründung zur 9. Ausnahmeverordnung zur StVO vom 15.10.1998 führt das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen aus, dass Hintergrund der Regelung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit für Pkw mit Anhänger (80 km/h) Belange der Verkehrssicherheit sind, die die Fahrstabilität und das Bremsvermögen dieser Gespanne berücksichtigen (vgl. VkBl. 1998, 1310, 1312). Unter den in der 9. Ausnahmeverordnung zur StVO genannten Bedingungen sei jedoch aufgrund des technischen Fortschritts die Verkehrssicherheit auch dann gewährleistet, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 100 km/h angehoben werde. Der Verordnungsgeber wollte damit durch die Neuregelung die Verkehrssicherheit in gleicher Weise gewährleisten.
13
Die höhere Höchstgeschwindigkeit findet ihre Rechtfertigung somit in der Überlegung, dass einerseits die Schwingungsbereitschaft des Gespanns bei höheren Geschwindigkeiten durch technische Vorkehrungen auf ein vertretbares Maß gedämpft sein (vgl. § 1 Satz 1 Nr. 1 lit. a) bis d) der 9. Ausnahmeverordnung zur StVO) und andererseits sich das Gespann auf einer als besonders sicher geltenden Straße bewegen muss.
14
Kraftfahrstraßen ohne bauliche Abgrenzung der Fahrbahnen unterscheiden sich von normalen Straßen nun aber lediglich dadurch, dass sie gemäß § 18 Abs. 1 StVO nur von Kraftfahrzeugen benutzt werden dürfen, deren durch die Bauart bestimmte Höchstgeschwindigkeit mehr als 60 km/h beträgt und die nur einer bestimmten Maximalabmessung entsprechen dürfen. Beide Gesichtspunkte steigern die verkehrstechnische Sicherheit einer Kraftfahr straße ohne bauliche Abgrenzung der Richtungsfahrbahnen gegenüber normalen Straßen allenfalls unwesentlich. Eine Kraftfahr straße mit baulicher Abgrenzung hingegen vermindert gerade durch deren Existenz die Gefahr, dass das Gespann im Falle von Problemen mit der Fahrstabilität auf die Gegenfahrbahn gerät, und vermindert somit zumindest die Gefahr eines Zusammenstoßes mit dem Gegenverkehr. Damit wird nicht nur die Gefahr eines Verkehrsunfalls an sich, sondern vor allem die Gefahr eines besonders schweren Verkehrsunfalls reduziert, welche typischerweise gerade dann droht, wenn Fahrzeuge mit jeweils hoher Geschwindigkeit aus unterschiedlichen Fahrtrichtungen aufeinanderprallen.
III.
15
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG.
16
Gemäß § 80a Abs. 3 Satz 1 OWiG entscheidet der Senat in der Besetzung mit drei Richtern.