Titel:
erfolglose Anhörungsrüge
Normenketten:
VwGO § 108 Abs. 1, § 152a Abs. 1 S. 1 Nr. 2
Art. 103 Abs. 1 GG
Leitsatz:
Einwände gegen die tatrichterliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung in Bezug auf den ermittelten Sachverhalt können die Annahme eines Gehörsverstoßes nicht begründen. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Anhörungsrüge, rechtliches Gehör, faktischer Inländer
Vorinstanzen:
VGH München, Beschluss vom 18.12.2023 – 10 ZB 23.1200
VG München, Urteil vom 30.03.2023 – M 12 K 22.457
Rechtsmittelinstanz:
BVerfG Karlsruhe, Beschluss vom 18.04.2024 – 2 BvR 29/24
Fundstelle:
BeckRS 2024, 9680
Tenor
I. Die Anhörungsrüge wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
1
Mit der Anhörungsrüge erstrebt der Kläger die Fortführung des Verfahrens über seinen Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 30. März 2023, den der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 18. Dezember 2023 (10 ZB 23.1200) abgelehnt hat. Mit diesem Urteil hatte das Verwaltungsgericht die Anfechtungsklage des Klägers gegen den Ausweisungsbescheid der Beklagten vom 12. Januar 2022 abgewiesen.
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Die Anhörungsrüge ist unbegründet. Die Voraussetzungen des § 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO liegen nicht vor, weil der Verwaltungsgerichtshof den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör nicht in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat.
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Nach § 152a Abs. 1 Satz 1 VwGO ist auf die Rüge eines durch eine gerichtliche Entscheidung beschwerten Beteiligten das Verfahren fortzuführen, wenn ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist und das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf rechtliches Gehör (s. Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist gemäß § 152a Abs. 2 Satz 6 VwGO darzulegen.
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Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 1 VwGO) verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, ist allerdings nur dann verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Vorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Die Gerichte sind dabei nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in der Begründung der Entscheidung ausdrücklich zu befassen. Deshalb müssen, wenn ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG festgestellt werden soll, im Einzelfall besondere Umstände deutlich ergeben, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist. Solche Umstände können insbesondere dann vorliegen, wenn das Gericht wesentliche, das Kernvorbringen eines Beteiligten darstellende Tatsachen unberücksichtigt lässt (stRspr des BVerfG, vgl. z.B. B.v. 30.8.2023 – 1 BvR 1654/22 – juris Rn. 25 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, B.v. 1.4.2015 – 4 B 10.15 – juris Rn. 2; BVerwG, B.v. 24.11.2011 – 8 C 13.11 – juris Rn. 2; BayVGH, zuletzt B.v. 27.9.2023 – 10 ZB 23.1627 – juris Rn. 4 jew. m.w.N.).
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Einwände gegen die tatrichterliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung in Bezug auf den ermittelten Sachverhalt können die Annahme eines Gehörsverstoßes nicht begründen. Dahinter steht die Erwägung, dass diese grundsätzlich dem materiellen Recht zuzuordnen ist (vgl. BVerwG, B.v. 15.5.2014 – 9 B 14.14 – juris Rn. 8; BayVGH, B.v. 27.9.2023 – 10 ZB 23.1627 – juris Rn. 5).
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Gemessen daran ist eine Gehörsverletzung durch die angegriffene Entscheidung des Senats nicht dargelegt.
7
Der Kläger rügt, der Senat sei auf das Vorbringen der Klägerseite zu seiner Verwurzelung in der Bundesrepublik Deutschland als „faktischem Inländer“, zu den Umständen der Begehung der Anlasstat sowie zu seiner beruflichen und sozialen Integration jeweils im wesentlichen Kern nicht eingegangen, obwohl diese Punkte für die Entscheidung von zentraler Bedeutung seien.
8
Soweit die fehlende Würdigung des Vorbringens zur Verwurzelung des Klägers beanstandet wird, ist zunächst festzustellen, dass die in Bezug genommene Schilderung unter A. I. „Persönlicher Hintergrund und Entwicklung vor und nach der Therapie“ des Zulassungsbegründungsschriftsatzes vom 1.9.2023 (S. 1 f.) noch vor der Wiedergabe des wesentlichen Verfahrensgangs unter A. II. „Ausweisung und verwaltungsgerichtliches Verfahren“ erfolgt, aber erst unter Punkt B. dieses Schriftsatzes konkret ausgeführt wird, warum aus der Sicht des Klägers die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen ist.
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Mit den unter Punkt B. des Zulassungsbegründungsschriftsatzes zur erstgerichtlichen Annahme einer Wiederholungsgefahr aufgeführten konkreten Einwendungen (dort unter I.1., S. 13 ff.) hat sich der Senat im angegriffenen Beschluss ebenso eingehend befasst und auseinandergesetzt wie im Übrigen auch mit den weiteren Rügen, generalpräventive Gründe könnten die Ausweisung des Klägers nicht rechtfertigen (unter I.2., S. 19 f.) und die Interessenabwägung des Verwaltungsgerichts sei defizitär bzw. fehlerhaft (unter I.3., S. 21 ff.).
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Abgesehen davon hat das Verwaltungsgericht das klägerische Vorbringen zu seiner Verwurzelung im Bundesgebiet als sogenannter faktischer Inländer zur Kenntnis genommen (vgl. z.B. UA S. 12, 14, 16) und insbesondere bei der Prüfung der Rechtfertigung generalpräventiver Ausweisungsgründe und vor allem der erforderlichen Interessenabwägung und Verhältnismäßigkeitsprüfung (s. Art. 53 Abs. 1 und 2 AufenthG) erwogen (vgl. UA S. 26, 28 ff.).
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Die bloße Behauptung in der Anhörungsrüge, es erscheine nicht ausgeschlossen, dass das erkennende Gericht dieses rechtliche Vorbringen des Klägers (auch) bezüglich der generalpräventiven Begründung der Ausweisungsentscheidung stärker gewichtet und sich infolgedessen anders entschieden hätte, blendet zum einen aus, dass diesbezügliche (substantiierte) Darlegungen in der Zulassungsbegründung zu den generalpräventiven Gründen (S. 19 f. des Begründungsschriftsatzes vom 1.9.2023) fehlen und im Übrigen in dieser Form auch die Anforderungen einer substantiellen Auseinandersetzung mit den Gründen des angefochtenen Urteils (vgl. dazu Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 62 ff.) verfehlt hätten.
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Auch die Rüge, der Senat wäre bei Kenntnisnahme und entsprechender Würdigung dieses Vortrags nicht ausschließbar zu dem Ergebnis gekommen, dass ernstliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Ausweisungsentscheidung und damit an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils bestehen, verkennt, dass § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO maßgeblich an die substantiierte Darlegung im Zulassungsverfahren anknüpft und demgemäß eine Wiederholung (sämtlicher) zutreffender Ausführungen und Bewertungen der angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht geboten ist. Überdies wendet sich die Anhörungsrüge damit ersichtlich gegen die vom Senat nachvollzogene und gebilligte Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts, dass bei Abwägung aller zu berücksichtigender Umstände des Einzelfalls – und damit insbesondere auch der Bindungen des Klägers im Bundesgebiet – das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse überwiegt.
13
Die „Umstände der Begehung der Anlasstat“ hat das Verwaltungsgericht ebenfalls zur Kenntnis genommen (UA S. 5 f.). Dem klägerischen Vorbringen, er sei dabei (Übergabe von Kokain) zunächst durch eine Gruppe Jugendlicher angegriffen worden und habe (zusammen mit anderen) dem Geschädigten das Messer erst entwunden, hat das Erstgericht aber offensichtlich mit Blick auf die betroffenen Schutzgüter des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit, die nur wenige Wochen zuvor verübte gefährliche Körperverletzung in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, die bei den Taten gezeigte erhebliche kriminelle Energie, das erhebliche Gewaltpotenzial, die geringe Hemmschwelle, Dritte massiv zu verletzen, sowie den symptomatischen Zusammenhang zwischen dem Betäubungsmittelkonsum des Klägers und den abgeurteilten Straftaten bei der Gefahrenprognose keine ausschlaggebende Bedeutung zugemessen. Diese negative Gefahrenprognose hat der Senat in der angegriffenen Entscheidung nachvollzogen und in Übereinstimmung mit dem Erstgericht festgestellt, dass auch zum aktuellen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats vom Kläger eine Wiederholungsgefahr schwerer Straftaten insbesondere gegen die körperliche Unversehrtheit ausgeht. Die Rüge der Klägerseite, unter Berücksichtigung der besonderen Umstände der Begehung der Anlasstat wäre der Senat nicht ausschließbar zu dem Ergebnis gelangt, dass die wiederholte Begehung vergleichbar schwerer Straftaten durch den Kläger nicht hinreichend wahrscheinlich sei, ist vor diesem Hintergrund schon nicht schlüssig und wendet sich wiederum gegen die tatrichterliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung.
14
Die Entwicklung des Klägers und seine wirtschaftlichen Bindungen im Bundesgebiet vor und nach seiner Inhaftierung haben sowohl das Erstgericht als auch der Senat in der angefochtenen Entscheidung eingehend gewürdigt. Der Umstand, dass bei dieser Würdigung die sozialen und wirtschaftlichen Bindungen des Klägers im Bundesgebiet im jeweils maßgeblichen Zeitpunkt anders beurteilt wurden, als dies die Klägerseite für zutreffend erachtet, ist aus den bereits oben dargelegten Gründen ebenfalls nicht geeignet, eine Gehörsverletzung zu begründen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
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Eine Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil für das Anhörungsrügeverfahren nach Nr. 5400 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz (Anlage zu § 3 Abs. 2 GKG) eine streitwertunabhängige Festgebühr anfällt.
17
Dieser Beschluss ist nach § 152a Abs. 4 Satz 3, § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.